Entscheidungsstichwort (Thema)

Einschränkung der Hinterbliebenenversorgung

 

Leitsatz (amtlich)

Die Einschränkung der Hinterbliebenenversorgung durch § 4 MfSVersorgOAufhG vom 29.06.1990 ist mit Wirksamwerden des Einigungsvertrages rückwirkend gegenstandslos geworden.

Stand: 24. Oktober 2002

 

Normenkette

MfSVersorgOAufhG § 4; EinigVtr Art. 19; EinigVtr Anl. II Kap. VIII H III Nr. 9 Buchst. b; EinigVtr Anl. II Kap. VIII H

 

Verfahrensgang

SG Berlin (Urteil vom 10.06.1996; Aktenzeichen S 8 An 94/96)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. Juni 1996 aufgehoben.

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 24. Oktober 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Dezember 1995 verurteilt, dem Kläger unter Abänderung des Bescheides vom 10. September 1990 vom 1. Januar 1991 bis 31. Dezember 1991 eine Witwerrente von monatlich 404,00 DM zu zahlen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Streitig ist, ob dem Kläger eine nach der Versorgungsordnung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) zuerkannte und bis 30. September 1990 gewährte Witwerrente vom 1. Januar bis zum 31. Dezember 1991 (weiter) zu zahlen ist.

Der 1957 geborene Kläger war mit der 1963 geborenen und am 17. Oktober 1986 verstorbenen Heike M. …, einer hauptamtlichen inoffiziellen Mitarbeiterin des MfS, verheiratet. Nach ihrem Tod wurde dem Kläger mit Bescheid vom 16. Februar 1987 vom Ministerrat der ehemaligen DDR – Ministerium für Staatssicherheit – für sich und die beiden Töchter Anja und Josephine ab 1. November 1986 jeweils eine Hinterbliebenenrente bewilligt, die aufgrund des Änderungsbescheides vom 29. September 1988 insgesamt 766,00 Mark betrug. Mit Bescheid vom 10. September 1990 wurden die og Hinterbliebenenrenten für die beiden Töchter unter „Wegfall der Witwerrente” zum 1. Oktober 1990 neu festgesetzt.

Im Juli 1995 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Abänderung des Bescheides vom 10. September 1990 und die Weitergewährung der Witwerrente sowie ihre Überführung in die gesetzliche Rentenversicherung; er vertrat die Auffassung, Witwerrenten aus Zusatz- und demgemäß auch aus Sonderversorgungssystemen seien nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht nach den Grundsätzen der Sozialversicherung der ehemaligen DDR, sondern nach den Grundsätzen der gesetzlichen Rentenversicherung der Bundesrepublik Deutschland fortzuführen; sie seien nach den insoweit fortgeltenden Bestimmungen des jeweiligen Versorgungssystems über den 1. Juli 1990 hinaus zu zahlen. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 24. Oktober 1995 und bestätigendem Widerspruchsbescheid vom 18. Dezember 1995 unter Hinweis auf § 4 des Gesetzes über die Aufhebung der Versorgungsordnung des ehemaligen MfS/Amtes für Nationale Sicherheit (Stasi-Versorgungsaufhebungsgesetz ≪StasiVersAufhG≫) vom 29. Juni 1990 (GBl I Nr 38 S 501) ab, weil danach die Rente des als erwerbsfähig geltenden Klägers mit Wirkung vom 30. September 1990 einzustellen gewesen sei.

Das Sozialgericht (SG) Berlin hat durch Beschluß vom 4. März 1996 die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte beigeladen; diese gewährt zwischenzeitlich dem Kläger ab 1. Januar 1992 eine große Witwerrente in Höhe von monatlich 512,17 DM und seinen beiden Töchtern Waisenrenten nach §§ 46 Abs 2, 48 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI).

Durch Urteil vom 10. Juni 1996 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat das SG im wesentlichen ausgeführt: Eine Anspruchsgrundlage für das Begehren des Klägers auf eine Witwerrente sei nicht ersichtlich. § 4 StasiVersAufhG sei bis zur Überführung der Ansprüche und Anwartschaften in die gesetzliche Rentenversicherung zum 31. Dezember 1991 gemäß Art 9 Abs 1 und 2 des Einigungsvertrages (EV) idF des Einigungsvertragsgesetzes vom 23. September 1990 (BGBl II S 885) iVm Anl II Kap VIII Sachgebiet H Abschn III Nr 9 Buchst a, b und c (= EV Nr 9) wirksam gewesen. Danach seien zusätzliche Versorgungen an – ua – erwerbsfähige Witwer, zu denen der Kläger zähle, mit Wirkung vom 30. September 1990 einzustellen gewesen, sofern diese Versorgungen bereits zwei Jahre gezahlt worden seien. Diese von der Volkskammer verabschiedete Regelung habe zum Ziel gehabt, sachwidrige Ungleichbehandlungen zu den Witwen bzw Witwern zu beseitigen, die Anspruch auf eine Sozialpflichtversicherungsrente gehabt hätten; diesen habe nämlich ein derartiger Anspruch grundsätzlich erst ab Vollendung des 60. bzw 65. Lebensjahres oder bei Invalidität zugestanden. § 4 StasiVersAufhG werde durch EV Nr 9 Buchst b nicht verdrängt. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus der Rechtsprechung des BSG zu § 26 des Gesetzes zur Angleichung der Bestandsrenten an das Nettorentenniveau der Bundesrepublik Deutschland und zu weiteren rentenrechtlichen Regelungen (RAG) vom 28. Juni 1990 (GBl I Nr 38 S 495, 1457). EV Nr 9 Buchst b beziehe sich allein auf die am 3. Oktober 1990 bereits erworbenen Ansprüche. Die Ansprüche des Klägers seien jedoch zu diesem Zeitpunkt bereits entfallen gewesen. Aus der Zahlbetragsgarantie des EV Nr 9 Buchst b Satz 4 könne nichts anderes hergeleitet werden. Auch insoweit würden nur diejenigen geschützt, die am 3. Oktober 1990 leistungsberechtigt gewesen seien.

Der Kläger hat die vom SG zugelassene Sprungrevision mit Zustimmung der Beklagten eingelegt. Er rügt – sinngemäß – eine fehlerhafte Anwendung von § 4 StasiVersAufhG und trägt vor:

Dem Bescheid vom 10. September 1990 sei nicht zwingend und unmißverständlich zu entnehmen gewesen, daß ihm die Witwerrente mit Wirkung vom 1. Oktober 1990 habe entzogen werden sollen. Zum einen sei eine Einstellung der Leistung nicht angeordnet gewesen. Zum anderen seien keine Feststellungen über seine Erwerbsfähigkeit getroffen worden. Damit hätten nach EV Nr 9 sowohl der Bescheid vom 29. September 1988 hinsichtlich der Bewilligung der Witwerrente als auch der Bescheid vom 10. September 1990 hinsichtlich des Zahlbetrages der beiden Waisenrenten Bestand. Wenn jedoch die Witwerrente durch Bescheid aufgehoben worden sei, habe er in sinngemäßer Anwendung von § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) und dem mit EV Nr 9 in Einklang stehenden § 2 Abs 1 Buchst a und b StasiVersAufhG einen Anspruch auf eine monatliche Witwerrente von mindestens 404,00 DM.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Berlin vom 10. Juni 1996 und des Bescheides vom 24. Oktober 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Dezember 1995 sowie unter Abänderung der Bescheide vom 29. September 1988 und vom 10. September 1990 zu verurteilen, ihm über den 1. Januar 1991 hinaus bis zum 31. Dezember 1991 eine Witwerrente in Höhe von 404,00 DM zu gewähren.

Die Beklagte und die Beigeladene beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beklagte bezieht sich auf die ihrer Ansicht nach zutreffenden Gründe der angefochtenen Bescheide und des angefochtenen Urteils.

Die Beigeladene hat sich zur Sache nicht geäußert.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Klägers ist begründet.

Die Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklagen (§ 54 Abs 1, 4 und 5 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) haben Erfolg. Der den Anspruch des Klägers auf (Weiter-)Gewährung der Witwerrente ablehnende Bescheid vom 24. Oktober 1995 (in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Dezember 1995) ist aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des das Recht auf Witwerrente entziehenden Bescheides vom 10. September 1990 zu verurteilen, dem Kläger vom 1. Januar 1991 bis 31. Dezember 1991 eine Witwerrente von – insgesamt – 404,00 DM monatlich zu zahlen.

Der ablehnende Bescheid vom 24. Oktober 1995 (in der Gestalt des Widerspruchsbescheides) ist rechtswidrig und daher aufzuheben, weil der Kläger gemäß dem (jedenfalls) ab 1. Januar 1991 auch in den Beitrittsländern direkt geltenden § 48 Abs 1 Nr 1 SGB X (EV Anl I Kap VIII Sachgebiet D Abschn III Nr 2) einen Anspruch auf Aufhebung des Bescheides vom 10. September 1990 hat, soweit er die Entziehung der Witwerrente betraf.

Nach § 48 Abs 1 Satz 1 und 2 Nr 1 SGB X soll ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, sofern in den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlaß vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt. Um einen derartigen, nach dieser Vorschrift (iVm Art 19 Satz 3 EV) „aufzuhebenden” Verwaltungsakt handelt es sich bei dem Entziehungsbescheid vom 10. September 1990. Denn er war gemäß Art 19 Satz 1 EV auch noch am 3. Oktober 1990 wirksam. Anhaltspunkte für seine Nichtigkeit liegen nicht vor; schwerwiegende, offenkundige Fehler in dem Bescheid (vgl entsprechend § 40 Abs 1 SGB X), einem Verwaltungsakt iS des Art 19 EV iVm dem seit dem 3. Oktober 1990 zumindest entsprechend anwendbaren § 31 SGB X (vgl hierzu BSG SozR 3-8570 § 11 Nr 4 S 36), sind nicht erkennbar.

Zugunsten des Klägers ist nach Erlaß des Bescheides vom 10. September 1990 auch eine wesentliche Änderung der rechtlichen Verhältnisse iS des § 48 Abs 1 SGB X eingetreten. Denn die Grundlage für den Entziehungsbescheid, § 4 des von der Volkskammer der ehemaligen DDR beschlossenen StasiVersAufhG, ist am 3. Oktober 1990, mit Wirksamwerden des EV, entfallen. Nach dieser Vorschrift waren ua zusätzliche Versorgungen an erwerbsfähige Witwer einzustellen, sofern sie – wie dies beim Kläger der Fall war – bereits zwei Jahre und länger gezahlt worden waren. Da diese Regelung im Widerspruch zu dem Überführungskonzept des EV Nr 9 für Ansprüche und Anwartschaften – ua – aus Sonderversorgungssystemen steht, ist § 4 StasiVersAufhG am 3. Oktober 1990 für den gesamten Geltungsbereich, dh auch für die Zeit ab 1. Juli 1990, gegenstandslos geworden (vgl hierzu BSGE 75, 262, 272 = SozR 3-8560 § 26 Nr 2 S 22).

Damit hatte der Entziehungsbescheid keine Grundlage (mehr); das Recht des Klägers auf Witwerrente – und demgemäß der Anspruch auf monatliche Rentenzahlungen – bestand über den 30. September 1990 weiter.

Der Entziehungsbescheid war somit rechtswidrig und aufzuheben und dem Kläger gemäß – der dem Überführungsprogramm nicht entgegenstehenden leistungsrechtlichen Regelung des Sonderversorgungssystems – dem § 2 Buchst b StasiVersAufhG jedenfalls von Januar 1991 bis Dezember 1991 eine Witwerrente in Höhe von monatlich 404,00 DM zu zahlen.

Hierzu im einzelnen:

1. EV Nr 9 hat für die Frage, ob und in welchem Umfang in Sonder- und Zusatzversorgungssystemen erworbene Ansprüche und Anwartschaften in die Rentenversicherung überführt werden (oder außerhalb von ihr weiterbestehen), eine grundsätzlich abschließende Regelung getroffen. Der EV Nr 9 hat für die Überführung dieser Ansprüche und Anwartschaften ein besonderes Programm angeordnet. Danach sind bis zur Überführung der überführbaren Ansprüche in die Rentenversicherung des SGB VI die bisherigen leistungsrechtlichen Regelungen der jeweiligen Sonder- und Zusatzversorgungssysteme weiter anzuwenden, sofern sich aus dem Überführungskonzept des EV Nr 9 und den Bestimmungen des Art 9 Abs 2 und 4 EV iVm den maßgeblichen Anlagen nichts anderes ergibt. Durch die Bezugnahme von EV Nr 9 Buchst b auf die leistungsrechtlichen Bestimmungen der jeweiligen Zusatz- und Sonderversorgungssysteme gelten demgemäß auch die Vorschriften des StasiVersAufhG, das zum 1. Juli 1990 die Versorgungsordnung des ehemaligen MfS/Amtes für Nationale Sicherheit modifiziert hat (vgl Urteil des Senats vom 25. März 1997 – 4 RA 23/95 –, zur Veröffentlichung vorgesehen) als sekundäres Bundesrecht mit den og Einschränkungen weiter.

2. Die Grundlage des Entziehungsbescheides, § 4 StasiVersAufhG, ist jedoch mit dem Überführungskonzept des EV Nr 9 Buchst b nicht zu vereinbaren, so daß die Regelung für den gesamten Zeitraum, für den Bundesrecht rückwirkend Anwendung findet, seit 1. Juli 1990 (vgl hierzu Art 30 Abs 5 EV), gegenstandslos (geworden) ist. Der Senat hält an seiner Rechtsprechung zu der im wesentlichen vergleichbaren Problematik des § 26 Abs 1 Satz 1 Regelung 2 RAG fest (vgl BSGE 75, 262 ff = BSG SozR 3-8560 § 26 Nr 2; ebenso der 13. Senat: BSG SozR 3-1300 § 24 Nr 11).

a) § 4 StasiVersAufhG ist – zwar – Bestandteil des zum 1. Juli 1990 von der demokratisierten DDR aufgrund des Art 20 des Vertrages über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR vom 18. Mai 1990 (BGBl II S 537) in Kraft gesetzten Konzepts zur Angleichung des Rentenrechts der DDR an das Rentenversicherungsrecht der Bundesrepublik Deutschland geworden. Da bei Abschluß dieses Staatsvertrages und auch bei Erlaß des StasiVersAufhG vom 29. Juni 1990 nicht abzusehen war, wann Deutschland wiedervereinigt sein werde, beruhen dessen Regelungen auf dem Grundgedanken, die für die angestrebte Angleichung notwendigen Änderungen möglichst bald, zum 1. Januar 1991, in Kraft zu setzen. Angestrebt wurde zu diesem Zweck ein in den wesentlichen Grundstrukturen einheitliches, von sachfremden Vergünstigungen bereinigtes Rentenversicherungsrecht der DDR, das im wesentlichen dem Rentenversicherungsrecht der Bundesrepublik Deutschland entsprechen sollte. Deshalb sahen ua §§ 2 und 3 StasiVersAufhG eine Kürzung der Versorgungsleistungen vor; sachwidrig überhöhte Ansprüche und Anwartschaften sollten abgebaut, sachlich begründete Differenzierungen jedoch fortgeführt werden. § 4 StasiVersAufhG diente ebenso wie § 26 Abs 1 Satz 1 Regelung 2 RAG der Beseitigung von – gemessen an dem Standard des DDR-Rentenversicherungsrechts – ungerechtfertigten Leistungen.

Die nach Auffassung der Volkskammer durch § 4 StasiVersAufhG zu beseitigende sachwidrige Ungleichheit in der Versorgung erwerbsfähiger Witwen und Witwer mit Ansprüchen aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen und solchen aus der Sozialpflichtversicherung bestand im Kern in folgendem: Gemäß § 19 der Rentenverordung (Renten-VO) vom 23. November 1979 (GBl I Nr 38 S 401) hatten in der allgemeinen Sozialpflichtversicherung der früheren DDR Anspruch auf Witwen- oder Witwerrente Frauen ab Vollendung des 60. Lebensjahres und Männer ab Vollendung des 65. Lebensjahres oder bei Vorliegen von Invalidität. Eine Witwe mit einem Kind unter drei Jahren oder zwei Kindern unter acht Jahren hatte ebenfalls einen Anspruch, wenn der Verstorbene die finanziellen Aufwendungen für die Familie überwiegend erbracht und zum Zeitpunkt seines Todes die Voraussetzungen zum Bezug einer Alters-, Invaliden- oder Kriegsbeschädigtenrente erfüllt hatte (vgl auch Art 2 § 12 des Rentenüberleitungsgesetzes ≪RÜG≫ vom 25. Juli 1991, BGBl I S 1606). Demgegenüber bestand ein Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung nach dem Sonderversorgungssystem des MfS für Witwen bzw Witwer – ohne weitere Voraussetzungen – auch bereits dann, wenn sie das 60. bzw das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten. § 4 StasiVersAufhG sollte mithin diese Besserstellung in dem Sonderversorgungssystem beseitigen.

b) Dieses ua in § 4 StasiVersAufhG zum Ausdruck gekommene „Angleichungsprogramm” des DDR-Gesetzgebers ist mit EV Nr 9 Buchst b aber nicht vereinbar. EV Nr 9 hat das von der Volkskammer konkretisierte Konzept zur Überführung von Ansprüchen aus Sonder- und Zusatzversorgungssystemen entscheidend verändert (ständige Rechtsprechung seit BSGE 72, 50, 65 = SozR 3-8570 § 10 Nr 1). Der vom DDR-Gesetzgeber aufgrund des Art 20 des Staatsvertrages vorgesehene Zwischenschritt auf dem Weg zur Wiederherstellung der Rechtseinheit in Deutschland auf dem Gebiet des Rentenversicherungsrechts wurde im Hinblick auf das Inkrafttreten des SGB VI zum 1. Januar 1992 im EV fallengelassen. Gemäß EV Nr 9 Buchst b Satz 1 waren – nunmehr – die in den Versorgungssystemen erworbenen Ansprüche und Anwartschaften auf Leistungen wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, Alters und Todes bis zum 31. Dezember 1991 in die Rentenversicherung zu überführen (vgl hierzu BSG SozR 3-8570 § 11 Nr 3 S 28). Das Überführungs- und Anpassungsprogramm wurde einer künftigen bundesrechtlichen Regelung zugewiesen (EV Nr 9 Buchst b Satz 3); dabei durfte nach EV Nr 9 Buchst f der Verordnungsgeber nur diejenigen Angleichungen vornehmen, die im Hinblick auf das Angleichungsziel, das ab 1. Januar 1992 in ganz Deutschland gültige SGB VI, sachgerecht und verhältnismäßig waren. Im Hinblick auf die Zielvorgabe des Überführungskonzepts wurde bestimmt, daß die Versorgungssysteme – bis zur Überführung der darin erworbenen Ansprüche und Anwartschaften in die Rentenversicherung – weiterzuführen sind (EV Nr 9 Buchst c). Bis zu diesem Zeitpunkt waren auch die leistungsrechtlichen Regelungen der jeweiligen Versorgungssysteme anzuwenden, soweit sich aus EV Nr 9 Buchst b Satz 2 nichts anderes ergibt. Damit wurde aber durch EV Nr 9 das ursprüngliche, für die Zeit ab 1. Januar 1991 als Rechtsgrundlage vorgesehene bereinigte Rentenversicherungsrecht der DDR ersetzt durch eine neue Vorgabe, nämlich die Überführung der Ansprüche und Anwartschaften aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen in das SGB VI zum 1. Januar 1992.

c) Nach alledem hat EV Nr 9 Buchst b Satz 1 auch schon am 3. Oktober 1990, mit Wirksamwerden des EV, rückwirkend für die Zeit ab 1. Juli 1990 das von der Volkskammer im StasiVersAufhG (und im RAG) beschlossene Programm zur Angleichung des Rentenrechts an das Rentenversicherungsrecht der Bundesrepublik Deutschland geändert. Die erworbenen Ansprüche ua auf Leistungen wegen Todes waren danach bis zum 31. Dezember 1991 mit Blick auf die ab 1. Januar 1992 geltenden Bestimmungen des SGB VI in die gesetzliche Rentenversicherung zu überführen. Das SGB VI unterscheidet – im Gegensatz zur Regelung im StasiVersAufhG – bei Ansprüchen auf Hinterbliebenenrente jedoch nicht zwischen erwerbsfähigen und nicht erwerbsfähigen Witwen bzw Witwern. Dementsprechend hat der Bundesgesetzgeber auch in § 4 Abs 2 des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes (AAÜG) vom 25. Juli 1991 (BGBl I S 1606, 1677), das seit dem 1. August 1991 (statt EV Nr 9 Buchst f) gilt, ohne weitere Differenzierung vorgesehen, daß die „in Sonderversorgungssystemen erworbenen Ansprüche auf Hinterbliebenenrente (Abs 2 Nr 3 aaO) in die Rentenversicherung zu überführen sind”. Nach § 46 Abs 2 Nr 1 SGB VI haben diejenigen Witwer, die nicht wieder geheiratet haben, nach dem Tode des versicherten Ehegatten, der die allgemeine Wartezeit erfüllt hat, unabhängig von ihrem Alter oder einer Erwerbsunfähigkeit Anspruch auf die große Witwerrente, wenn sie – wie der Kläger – Kinder erziehen, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. Das in EV Nr 9 Buchst b angestrebte Angleichungsziel konnte also auf dem durch § 4 StasiVersAufhG beschrittenen Weg von vornherein nicht mehr erreicht werden. Die Anwendung dieser Vorschrift ist daher – für ihren gesamten zeitlichen Geltungsbereich ab 1. Juli 1990 – nach den bundesrechtlichen Maßgaben von EV Nr 9 Buchst b ausgeschlossen. § 4 StasiVersAufhG ist somit gegenstandslos (geworden).

Der Kläger hat mithin einen Anspruch auf Aufhebung des Entziehungsbescheides vom 10. September 1990, weil mit dem Wirksamwerden des EV eine wesentliche Änderung der rechtlichen Verhältnisse gemäß § 48 Abs 1 Nr 1 SGB X zu seinen Gunsten eingetreten und die Beklagte daher verpflichtet ist, unter (teilweiser) Aufhebung – auch – dieses Bescheides die Witwerrente jedenfalls in der Zeit vom 1. Januar 1991 bis 31. Dezember 1991 gemäß § 2 Buchst b StasiVersAufhG in Höhe von 404,00 DM monatlich zu zahlen.

Die Revision hat nach alledem Erfolg.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

SozR 3-8120 Kap. VIII H III, Nr.9, Nr.13

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