Verfahrensgang

SG Berlin (Urteil vom 24.10.1996; Aktenzeichen S 1 An 101/96)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 24. Oktober 1996 aufgehoben.

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 15. November 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Dezember 1995 verurteilt, der Klägerin für die Zeit vom 1. Oktober 1990 bis zum 31. Dezember 1991 monatlich 495,– DM zu zahlen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Streitig ist, ob die Klägerin das Recht hat, von der Beklagten für die Zeit von Oktober 1990 bis Dezember 1991 monatlich die Zahlung von 495,– DM zu verlangen.

Die im Februar 1939 geborene Klägerin ist die Witwe des am 4. Dezember 1970 gestorbenen Oberstleutnants im Dienst des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS/Stasi) E. T. …. Seit Dezember 1970 erhielt sie deshalb eine Witwenrente nach der Ordnung Nr 7 über die Soziale Versorgung der Berufsoffiziere, Fähnriche, Berufsunteroffiziere und Unteroffiziere auf Zeit des MfS (Versorgungsordnung ≪VersO≫), die auch in ihrer letzten Fassung (Ordnung Nr 7/87) amtlich nie veröffentlicht wurde. Durch Änderungsbescheid vom 15. Juli 1986 wurde die Höhe der Rente auf 889,– Mark monatlich festgesetzt.

Zum 1. Juli 1990 trat das Gesetz über die Aufhebung der VersO des ehemaligen MfS/Amtes für Nationale Sicherheit ≪AfNS≫ (Aufhebungsgesetz ≪AufhebG≫) vom 29. Juni 1990 (GBl I Nr 38 S 501) in Kraft. § 2 Buchst b dieses Gesetzes bestimmt, daß ab 1. Juli 1990 mit dem Ziel der Anpassung an das Niveau im zivilen Bereich die nach der VersO festgesetzten Hinterbliebenenrenten monatlich höchstens 495,– DM betragen dürfen. § 3 AufhebG ordnet an, die Überführung in die Rentenversicherung erfolge mit Wirkung vom 1. Januar 1991. Unter der Überschrift „Beseitigung ungerechtfertigter Leistungen” bestimmt § 4 AufhebG: „Zusätzliche Versorgungen an erwerbsfähige Witwen (und Witwer) werden mit Wirkung vom 30. September 1990 eingestellt, sofern sie bereits zwei Jahre und länger gezahlt wurden. Erfolgte noch keine Zahlung für zwei Jahre, werden sie ab 1. Oktober 1990 entsprechend den Bestimmungen der Sozialversicherung bis zum Ablauf dieser Frist in Höhe von 270,– DM gezahlt”.

Die Hinterbliebenenrente der Klägerin war gemäß Teil IV, 701, Nr 2 VersO nach dem für erwerbsfähige hinterbliebene Ehegatten vorgeschriebenen Satz von 50 vH der Rente des Verstorbenen ohne Zuschläge berechnet worden, während der Satz für erwerbsunfähige Hinterbliebene 60 vH betrug. Nach Teil IV, 821, Nr 9 Abs 2 VersO ist dem Rentenempfänger über die Einstellung der Rentenzahlung ein schriftlicher Bescheid über den Zeitpunkt und die Gründe der Einstellung zuzustellen.

Das Komitee zur Auflösung des AfNS übersandte der Klägerin am 9. Juli 1990 ein Merkblatt über die ab 1. Juli 1990 eingetretenen Änderungen in der Rentenversorgung; seither wurden ihr monatlich 495,– DM überwiesen. Ab 1. Oktober 1990 zahlte die DDR, ab 3. Oktober 1990 die beklagte Bundesrepublik Deutschland, nichts mehr.

Im September 1995 beantragte die Klägerin, die Witwenrente in Höhe von 404,– DM auch über den 30. September 1990 hinaus zu zahlen und das Recht auf Witwenrente zum 31. Dezember 1991 nach § 4 Abs 2 Nr 3 des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes (AAÜG) in die gesetzliche Rentenversicherung zu überführen. Die Beklagte lehnte dies mit Bescheid vom 11. November 1995, bestätigt durch den Widerspruchsbescheid vom 22. Dezember 1995 ab, weil die Klägerin im September 1990 als erwerbsfähige Witwe gegolten habe, so daß nach § 4 AufhebG die Zahlung habe eingestellt werden müssen.

Vor dem Sozialgericht (SG) Berlin hat die Klägerin beantragt, die Beklagte unter Aufhebung der vorgenannten Verwaltungsentscheidungen zu verurteilen, die mit Bescheid vom 15. Juli 1986 gewährte Witwenrente auch über den 30. September 1990 hinaus in Höhe von 495,– DM zu zahlen und folglich nachzuzahlen. Das SG hat die Klage durch Urteil vom 24. Oktober 1996 abgewiesen und die Revision zugelassen. Es ist der Ansicht, für das Begehren der Klägerin existiere keine Anspruchsgrundlage. § 4 AufhebG sei richtig angewandt worden; die Vorschriften dieses Gesetzes seien nach Art 9 Abs 1 und 2 des Einigungsvertrages (EinigVtr, im folgenden: EV) und dessen Anlage II Kap VIII Sachgebiet H Abschnitt III Nr 9 (im folgenden: EV Nr 9) Buchst a, b und c bis zum 31. Dezember 1991 gültig gewesen, soweit sie nicht den Vorschriften des EV zuwiderliefen. § 4 aaO habe eine sachwidrige Ungleichheit beseitigen sollen; diese habe darin bestanden, daß in der allgemeinen Sozialpflichtversicherung der DDR Frauen grundsätzlich erst ab Vollendung des 60. Lebensjahres, Männer ab Vollendung des 65. Lebensjahres oder bei Vorliegen von Invalidität Ansprüche auf Witwen- oder Witwerrenten hätten haben können. Demgegenüber hätten die Zusatz- und Sonderversorgungssysteme regelmäßig auch jüngeren Hinterbliebenen Renten zuerkannt. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zu § 26 Abs 1 des Rentenangleichungsgesetzes (RAnglG) vom 28. Juni 1990 (GBl I Nr 38 S 495, ber S 1457) stehe nicht entgegen. Das Überführungsprogramm des EV habe § 4 AufhebG nicht aufgehoben. Bestandsschutz greife nicht ein, weil der Klägerin am 3. Oktober 1990 ein Recht auf die Leistung nicht mehr zugestanden habe, da diese zum 30. September 1990 eingestellt gewesen sei. Auch ein Einstellungsbescheid des Versorgungsträgers sei nicht erforderlich gewesen.

Zur Begründung der Revision trägt die Klägerin vor, die Auffassung des SG sei mit der inzwischen ständigen Rechtsprechung des BSG zu § 26 RAnglG nicht vereinbar. Der Rentenbewilligungsbescheid vom 15. Juli 1986 sei entgegen den Vorschriften der VersO und des § 73 der Verordnung über die Gewährung und Berechnung von Renten der Sozialpflichtversicherung (Rentenverordnung ≪RentenVO≫) vom 23. November 1979 (GBl I Nr 38 S 401) nicht aufgehoben worden.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des SG Berlin vom 24. Oktober 1996 und den Bescheid der Beklagten vom 15. November 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Dezember 1995 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin für die Zeit vom 1. Oktober 1990 bis zum 31. Dezember 1991 monatlich 495,– DM zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das Urteil des SG für zutreffend. Die Rechtsprechung des BSG zu § 26 RAnglG betreffe Fälle einer Einstellung von Rentenleistungen im Geltungsbereich des Grundgesetzes (GG). Bei einer Leistungseinstellung vor dem 3. Oktober 1990 komme es aber auf die Gesetze, das Rechtsverständnis und den manifestierten Vollzugswillen der noch bestehenden DDR an. Eine Ausdehnung dieser Rechtsprechung auf die Rechtspraxis eines zu diesem Zeitpunkt völkerrechtlich bestehenden Staates sei für Sachverhalte vor dem 3. Oktober 1990 nicht möglich. Damals habe es keine gesetzliche Grundlage gegeben, nach der eine Einstellung von Rentenleistungen nur durch einen Bescheid hätte erfolgen können; ferner habe der gesetzgeberische Wille der damaligen Regierung der DDR mit diesem Gesetz die zwingende Einstellung der ungerechtfertigten Leistungen vorgeschrieben. Auch die Verfahrensvorschriften der VersO seien durch das AufhebG aufgehoben worden. § 4 AufhebG sei eine sich selbst vollziehende Vorschrift, die wirksam geblieben sei.

 

Entscheidungsgründe

II

Die zulässige Revision der Klägerin ist begründet, weil das SG ihre isolierte Anfechtungsklage (iS von § 54 Abs 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫) gegen den Bescheid vom 15. November 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Dezember 1995, die zulässigerweise (§ 56 SGG) mit einer allgemeinen Leistungsklage (iS von § 54 Abs 5 SGG) auf Zahlung von 495,– DM monatlich in der Zeit von Oktober 1990 bis einschließlich Dezember 1991 verbunden war, zu Unrecht abgewiesen hat. Denn der Klägerin steht der geltend gemachte Aufhebungs- und Leistungsanspruch zu.

1. Das Begehren, das Gericht möge den Bescheid vom 15. November 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Dezember 1995 aufheben, ist als isolierte Anfechtungsklage iS von § 54 Abs 1 Satz 1 Regelung 1 SGG statthaft. Denn in diesen Bescheiden hat die Beklagte nicht lediglich ein Zahlungsbegehren abgelehnt, sondern darüber hinaus schlüssig iS von § 31 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) geregelt, sie stelle fest, daß der Klägerin für die Zeit von Oktober 1990 bis Dezember 1991 kein Recht auf Witwenrente aus dem Versorgungsverhältnis ihres verstorbenen Ehemannes zugestanden habe. Da die Klägerin mit ihrem Antrag bereits auf den Bescheid vom 15. Juli 1986 als diejenige Anspruchsgrundlage hingewiesen hatte, aus der sie ihr Recht auf Weiterzahlung herleitete, weil aber andererseits die Beklagte auch verdeutlicht hat, sie halte diesen Verwaltungsakt kraft § 4 AufhebG für erledigt, können die angefochtenen Bescheide weder als bloße Ablehnungsmitteilungen noch als bloß formelle Verwaltungsakte ohne materiellen Regelungsgehalt, aber auch nicht als Aufhebungs-/Abänderungsregelungen gegenüber dem Rentenbescheid vom 15. Juli 1986 verstanden werden. Ein mit der Sach- und Rechtslage vertrauter Adressat dieser Bescheide durfte vielmehr nach Treu und Glauben davon ausgehen, daß die Beklagte über die bloße Ablehnung des Zahlungsbegehrens hinaus die Feststellung treffen wollte, der Klägerin stehe kein Recht auf Witwenrente für die Zeit von Oktober 1990 bis Dezember 1991 zu. Diese isolierte Anfechtungsklage ist auch im übrigen zulässig; die Klagebefugnis (§ 54 Abs 1 Satz 2 SGG) ergibt sich bereits aus der Möglichkeit, die von der Beklagten getroffene Feststellung könne rechtswidrig in das durch den Verwaltungsakt vom 15. Juli 1986 bewilligte Recht eingreifen.

Die Klägerin konnte diese Klage zulässig iS von § 56 SGG mit der allgemeinen Leistungsklage iS von § 54 Abs 5 SGG auf Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von monatlich 495,– DM (als eines Teilbetrages) aus dem Bescheid vom 15. Juli 1986 verbinden, da beide Klagen in unmittelbarem sachlichen Zusammenhang stehen. Würden nämlich die angefochtenen Bescheide bestandskräftig (bindend iS von § 77 SGG), wäre schon allein durch sie für das Rechtsverhältnis zwischen den Beteiligten maßgeblich festgestellt, daß die Klägerin kein Recht hat, von der Beklagten die begehrten monatlichen Zahlungen zu verlangen. Gemäß § 54 Abs 5 SGG war hier die (isolierte) allgemeine Leistungsklage statthaft, weil ein Verwaltungsakt über die begehrte Leistung nicht (mehr) zu ergehen hatte; denn ein – ggf nach Art 19 Satz 1 EV im Bundesrecht wirksam gebliebener – Bescheid über die Zuerkennung des Rechts auf Hinterbliebenenrente, aus dem die Klägerin ihre Zahlungsansprüche herleitet, lag bereits vor. Schon deswegen wäre eine kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs 4 SGG nicht statthaft gewesen.

2. Die Anfechtungsklage ist begründet, weil die angefochtene Feststellung, der Klägerin stehe das – hier streitige – Recht auf Hinterbliebenenrente von Oktober 1990 bis Dezember 1991 nicht zu, rechtswidrig ist und ungerechtfertigt in das ihr bindend zuerkannte Recht auf diese Sozialleistung eingreift. Denn die Klägerin hat das – zuletzt durch den Bescheid vom 15. Juli 1986 – anerkannte, in der fortgeltenden VersO, dort Teil IV, 701, Nr 1, begründete Recht auf Hinterbliebenenrente. Nach dieser Vorschrift erhält der Ehegatte desjenigen, der während der Dauer des Dienstverhältnisses mit dem MfS verstorben ist, Hinterbliebenenrente.

a) Keiner Darlegung bedarf, daß der Bescheid des MfS vom 15. Juli 1986 ein Verwaltungsakt iS von Art 19 Satz 1 EV und weder nichtig noch – wie gesetzlich vorgeschrieben – gemäß Teil IV, 821, Nr 9 Abs 2 VersO (oder gemäß § 73 RentenVO) oder nach § 48 SGB X durch einen Verwaltungsakt aufgehoben worden ist.

b) Der sich (schon) aus diesem Verwaltungsakt ergebende „Anspruch”, dh das Recht auf Witwenrente – jedenfalls in der hier eingeklagten Höhe – hat sich auch nicht „kraft Gesetzes” erledigt und ist auch nicht durch die sog Zahlungseinstellung entfallen. Denn § 4 AufhebG ist bundesrechtlich nicht gültig; ferner ist das Unterlassen einer geschuldeten Zahlung kein Erlöschensgrund für ein Recht:

Für Entscheidungen, welche an das GG für die Bundesrepublik Deutschland gebundene staatliche Stellen seit dem Beginn des 3. Oktober 1990 über Rechte (Ansprüche, Anwartschaftsrechte) von Zusatz- oder Sonderversorgungsberechtigten aus diesen Versorgungssystemen zu treffen haben, hat der Deutsche Bundestag in EV Nr 9 Buchst b Satz 2 und Buchst c Satz 1 den Organen der vollziehenden Gewalt folgendes zwingend vorgeschrieben: Die Versorgungssysteme werden bis zur Überführung der darin erworbenen Ansprüche und Anwartschaften in die Rentenversicherung weitergeführt. Bis zur Überführung (am 31. Dezember 1991) sind die leistungsrechtlichen Regelungen der jeweiligen Versorgungssysteme weiter anzuwenden, soweit sich „aus diesem Vertrag” … nichts anderes ergibt. Zutreffend haben das SG und die Beklagte erkannt, daß damit ua das AufhebG zu sekundärem Bundesrecht geworden ist; sie haben jedoch übersehen, daß dies auch für die VersO gilt. Sie ist angesichts der offenkundigen Bruchstückhaftigkeit des AufhebG die einzige Rechtsgrundlage, die es ermöglicht, „dieses Versorgungssystem weiterzuführen”; sie bildet die Rechtsgrundlage für (auch für iS von EV Nr 9 Buchst e in die Rentenversicherung nicht überführbare) Rechte und Ansprüche (vgl §§ 9, 11, 13 AAÜG); sie enthält also die „leistungsrechtlichen Regelungen des jeweiligen Versorgungssystems”, hier diejenigen des MfS-Versorgungssystems.

Von der DDR oder ihren Untergliederungen erlassene Vorschriften (hier: VersO und AufhebG) sind jedoch – lückenfüllend – jeweils nur insoweit sekundäres Bundesrecht geworden, als sie mit Vorschriften des originären Bundesrechts, insbesondere demjenigen des EV und des GG, vereinbar sind. Bei diesem sekundären Bundesrecht handelt es sich um sog vorkonstitutionelles Recht iS von Art 100 Abs 1 GG (BVerfG SozR 3-8560 § 26 Nr 1).

§ 4 AufhebG ist für Bezugszeiten seit dem 1. Juli 1990 kein anwendbares (Bundes-) Recht, soweit danach Versorgungen an erwerbsfähige Witwen und Witwer mit Wirkung vom 30. September 1990 eingestellt werden, sofern sie bereits zwei Jahre und länger gezahlt wurden, und im übrigen auf 270,– DM monatlich herabgesetzt werden. Die Vorschrift sollte – im Zusammenhang des damaligen DDR-Rechts – Rechte auf Leistungen beseitigen, die nach dem Maßstab des – geplanten – DDR-Rentenversicherungsrechts als ungerechtfertigt empfunden wurden. Die Vorschrift entsprach in allen für die Rechtsstellung der Betroffenen wesentlichen Regelungen – abgesehen vom vorverlegten Entziehungszeitpunkt – der Einstellungsvorschrift des § 26 Abs 1 Satz 1 Regelung 2 RAnglG. Der Senat hält an der hierzu vorliegenden ständigen Rechtsprechung des BSG (BSGE 75, 262 = SozR 3-8560 § 26 Nr 2; Urteil vom 15. Dezember 1994, 4 RA 64/94; Urteil vom 19. Dezember 1995, 4 RA 20/94; SozR 3-1300 § 24 Nr 11) fest. Sie gilt uneingeschränkt auch für § 4 AufhebG. Denn Art 30 Abs 5 EV und dessen Anlage I Kap VIII Sachgebiet H Abschnitt III haben grundsätzlich bestimmt, daß der Zwischenschritt eines eigenständigen DDR-Rentenversicherungsrechts entfallen und die Überführung am 31. Dezember 1991 „sofort” (näher dazu BSGE 72, 50, 56, 66) in das Sechste Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) ab 1. Januar 1992 erfolgen sollte. Damit aber wurde der rechtliche Maßstab dafür, was eine gerechtfertigte oder ungerechtfertigte Leistung an Hinterbliebene ist, entscheidend geändert. Denn nach § 46 SGB VI kann ein Recht auf Witwen- oder Witwerrente auch in der Person eines jungen erwerbsfähigen Hinterbliebenen entstehen, wenn – wie hier – die Mindestversicherungszeit (Wartezeit) erfüllt ist. Zutreffend trägt die Klägerin somit vor, die og Rechtsprechung des BSG müsse auch auf § 4 AufhebG angewandt werden.

3. Die Vorinstanzen und die Beklagte haben keinen stichhaltigen Grund benannt, weshalb dies nicht zuträfe:

a) Auf den Unterschied zwischen Zusatz- und Sonderversorgungssystemen kommt es ausweislich EV Nr 9 Buchst b Satz 2 und Buchst c Satz 1 für die Frage der Fortgeltung von leistungsrechtlichen Regelungen der jeweiligen Versorgungssysteme und ihrer Weiterführung nicht an.

b) Entgegen der Ansicht der Beklagten darf das BSG – prozeßrechtlich wegen § 162 SGG, materiell-rechtlich ua wegen EV Nr 9 – nicht prüfen, welche Vorstellungen die DDR-Regierung mit § 4 AufhebG verbunden hat. Abgesehen davon, daß es entgegen dem Vortrag der Beklagten kaum mit der gewaltenteiligen Struktur, welche die demokratisierte DDR ab 1. Juli 1990 rechtlich erreicht hatte, vereinbar sein dürfte, die DDR-Regierung als „Gesetzgeber” zu sehen, auf dessen „Willen” bei der Auslegung von § 4 AufhebG abzustellen wäre, ist im gesamten Bereich der vom EV programmierten Rentenüberleitung bei allen an das Bundesrecht gebundenen staatlichen Entscheidungen darauf abzustellen, daß für Zeiten ab dem 1. Juli 1990, dem faktischen Beginn der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, die Sachverhalte nur insoweit nach von der DDR erlassenen Vorschriften maßstäblich beurteilt werden dürfen, als diese zu sekundärem Bundesrecht geworden sind, soweit der EV (zB in Art 19 Satz 1) anderes nicht bestimmt. Auf den von der Beklagten angesprochenen völkerrechtlichen Status der DDR, die ein dreizehnter Staat in Deutschland, aber für die Bundesrepublik Deutschland rechtlich niemals Ausland war und auch nicht als solches (nachträglich noch) behandelt werden darf (vgl BVerfGE 77, 137, 165 mwN), kommt es ua schon deswegen nicht an, weil sie mit Ablauf des 2. Oktober 1990 erloschen ist.

c) Ebensowenig ist erheblich, „wann” Organe der vollziehenden Gewalt nach originärem Bundesrecht unanwendbares DDR-Recht durch Verwaltungsakte vollzogen haben. Soweit ein auf § 4 AufhebG gestützter wirksamer Aufhebungsbescheid vor dem 3. Oktober 1990 zugestellt worden ist, „bleibt” er nach Art 19 Satz 1 EV kraft Bundesrecht wirksam, bis er seinerseits aufgehoben oder abgeändert wird (dazu näher Senatsurteil vom 25. März 1997, 4 RA 50/96, zur Veröffentlichung vorgesehen). Ein solcher Verwaltungsakt ist aber gegenüber der Klägerin nicht ergangen. Diese rügt ferner zutreffend, daß § 4 AufhebG auch kein sog sich selbst vollziehendes Gesetz ist; auch insoweit hält der Senat an seiner ständigen Rechtsprechung (ua BSGE 77, 253, 258 ff, 269 f = SozR 3-8570 § 13 Nr 1 und in den og Entscheidungen) fest. Es kommt nach originärem Bundesrecht (EV Nr 9 Buchst b Satz 2 und Buchst c) entgegen der Auffassung der Beklagten gerade nicht darauf an, ob § 4 AufhebG den von der Entziehung der Versorgung betroffenen Personenkreis im Kontext des DDR-Rechts anhand der unterschiedlichen Rentenhöhen für Hinterbliebene, die erwerbsfähig (50 vH der Versichertenrente) oder erwerbsunfähig (60 vH der Versichertenrente) waren, abstrakt hinreichend klar beschrieben hatte. Denn es hätte in jedem einzelnen Falle der Prüfung anhand der Aktenlage oder des letzten Bewilligungsbescheides bedurft, ob der jeweilige Hinterbliebene iS des DDR-Rechts die Rente eines Erwerbsfähigen oder eines Erwerbsunfähigen erhalten hatte und ob dies länger als zwei Jahre war oder nicht; dies alles konnte schon zu DDR-Zeiten dem Gesetz selbst nicht entnommen werden, das also in jedem Einzelfall der konkretisierenden Feststellung einer Rechtsänderung oder Rechtsentziehung durch Organe der vollziehenden Gewalt bedurfte. Diese war auch im übrigen (wie oben unter 2a gesagt) entgegen dem Vortrag der Beklagten im DDR-Recht damals vorgesehen. Da § 4 AufhebG kein gültiges sekundäres Bundesrecht geworden ist, bedarf keiner Ausführung, daß die Vorschrift nach Maßgabe des GG ohnehin durch Verwaltungsakt hätte vollzogen werden müssen.

d) Letztlich kommt es auch nicht darauf an, daß die DDR ab 1. Oktober 1990 nicht mehr gezahlt hat. Hört der Schuldner auf zu zahlen, ändert dies nichts daran, daß der Gläubiger seine Forderung behält.

4. Für die Bezugszeiten vom 1. August 1991 bis zum 31. Dezember 1991 steht dem Zahlungsanspruch der Klägerin und mithin dem Erlaß des beantragten Zahlungsurteils nicht entgegen, daß nach § 10 Abs 2 Satz 1 Nr 2 AAÜG die sog Zahlbeträge der Leistungen des MfS-Sonderversorgungssystems ab 1. August 1991 auf höchstens 481,– DM monatlich für Witwen- oder Witwerrenten begrenzt werden. Denn dieses Gegenrecht, welches das Gesetz der vollziehenden Gewalt zuerkannt hat, enthält – falls gültig – keine Rechtswertminderung unmittelbar durch die gesetzgebende Gewalt, sondern muß von dem zuständigen Funktionsnachfolger geltend gemacht werden (§ 10 Abs 5 AAÜG; vgl schon BVerfG, Beschluß der 3. Kammer des 1. Senats vom 4. Mai 1992 – 1 BvR 1815/91; BSGE 72, 50, 57); das Gesetz enthält eine Ermächtigungsgrundlage, welche die Beklagte befugt, ihr materielles Begrenzungsrecht durch einseitige hoheitliche Anordnung gegenüber dem Rentenberechtigten, näherhin durch schriftlichen Verwaltungsakt „Bescheid”), für ihn rechtlich verbindlich auszuüben. Die Beklagte hat jedoch bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung vor dem BSG ihr Gegenrecht nicht ausgeübt noch sich dessen Geltendmachung vorbehalten. Daher war es dem BSG nicht erlaubt, dieses zu berücksichtigen.

Nach alledem war die Revision der Klägerin begründet; die Beklagte mußte unter Aufhebung des Urteils des SG antragsgemäß verurteilt werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173907

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