Verfahrensgang

Sächsisches LSG (Urteil vom 11.11.1993; Aktenzeichen L 4 An 15/92)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Chemnitz vom 11. November 1993 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Parteien streiten um die Weitergewährung einer Zusatzwitwenrente über den 31. Dezember 1990 hinaus.

Die am 5. Oktober 1934 geborene Klägerin ist die Witwe des am 2. September 1929 geborenen und am 3. April 1975 verstorbenen Entwicklungsingenieurs S. … P. … (P.). Dieser hatte ab dem 1. September 1964 nach der Verordnung über die zusätzliche Altersversorgung der technischen Intelligenz in den volkseigenen und ihnen gleichgestellten Betrieben vom 17. August 1950 (GBl DDR I Nr 93 S 844) Anspruch auf Rente nach Vollendung des 65. Lebensjahres bzw beim Eintritt vorzeitiger Erwerbsunfähigkeit sowie im Todesfall für seine Hinterbliebenen. Mit Versicherungsschein vom 30. September 1964 idF des Nachtrags vom 30. Mai 1975 war für den überlebenden Ehegatten eine Rente in Höhe von 50 % der Rente des Begünstigten (60 % des im letzten Jahr vor Eintritt des Versorgungsfalles bezogenen durchschnittlichen monatlichen Bruttogehalts) zugesagt. Am 1. Januar 1974 trat P. außerdem der freiwilligen Versicherung auf Zusatzrente bei der Sozialversicherung gemäß der Verordnung vom 15. März 1968 (GBl DDR II Nr 29 S 154) bei. Gemäß „§ 13 Abs 1 der Verordnung vom 10. Februar 1971” erhielt die Klägerin (bis Ende März 1977 neben einer Übergangswitwenrente) ab dem 1. April 1975 Zusatzwitwenrente in Höhe von 406,70 M „Anlage zum Rentenbescheid” vom 30. Mai 1975, „Änderungsbescheid” vom 10. Juni 1975). Zum 1. Juli 1990 wurde der Zahlbetrag auf 568,– DM angehoben.

Mit Bescheid vom 22. Januar 1991 teilte die Landesversicherungsanstalt Sachsen der Klägerin unter Hinweis auf § 26 Abs 1 des Rentenangleichungsgesetzes (RAG) vom 28. Juni 1990 (GBl DDR I Nr 38) mit, ihre Zusatzwitwenrente werde zum 31. Dezember 1990 eingestellt. Der hiergegen mit Schreiben vom 31. Januar 1991 eingelegte und unter dem 23. Februar 1991 begründete Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos und führte zur Bestätigung der Ausgangsentscheidung mit Widerspruchsbescheid vom 22. April 1991. Ebenso hat das Kreisgericht Dresden – 4. Kammer für Sozialrecht – die am 24. Mai 1991 erhobene Klage mit Urteil vom 20. Februar 1992 in vollem Umfang abgewiesen.

Auf die Berufung der Klägerin vom 9. März 1992 hat das Landessozialgericht Chemnitz (LSG) das erstinstanzliche Urteil sowie die angefochtenen Bescheide der Beklagten aufgehoben. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, soweit § 26 Abs 1 RAG die Einstellung einer bereits laufenden, dh zugesprochenen Versorgung auch für erwerbsfähige Witwen bestimme, verstoße dies gegen übergeordnete Verfassungsgrundsätze; insbesondere seien die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit verletzt, die auch für den DDR-Gesetzgeber verbindlich gewesen seien. Jedenfalls mit dem Inkrafttreten des Verfassungsgrundsätzegesetzes (VfGsG) vom 17. Juni 1990 (GBl DDR I S 299) sei der Anspruch auf Witwenrente aus dem Zusatzversorgungssystem auch vom Schutz der Eigentumsgewährleistung erfaßt worden; damit sei die nachträglich vollständige Entwertung einer Rechtsposition wie im vorliegenden Fall unvereinbar. Die demnach verfassungswidrige Vorschrift des § 26 Abs 1 Satz 2 RAG sei folglich auch nicht von Anlage II zum Einigungsvertrag (EV) Kapitel VIII Sachgebiet F Abschnitt III Nr 8 erfaßt worden. Der bisherige Rentenanspruch, der weder als ungerechtfertigt noch als überhöht anzusehen sei, lebe mit der Aufhebung der angefochtenen Bescheide ohne weiteres wieder auf; einer weitergehenden Verurteilung habe es daher nicht bedurft.

Die Beklagte hat am 15. März 1994 die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung von § 26 RAG und trägt vor, ein Verstoß gegen das Grundgesetz (GG) sei nicht erkennbar. Art 14 GG erfasse nämlich nur durch eigene Beitragsleistungen erworbene Positionen; der Beschränkung von Rentenansprüchen stehe er nicht entgegen, wenn wichtige Zwecke des Gemeinwohls betroffen seien und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt werde. Mit § 26 RAG, der sich begrifflich an zuvor erlassenen Normen orientiere, sei die Abschaffung dem allgemeinen Sozialversicherungsrecht der DDR fremder Leistungen bezweckt. Die Vorschrift diene damit einem wichtigen Zweck des Gemeinwohls. Erwerbsfähige Witwen sollten nicht mehr länger und nur deshalb anspruchsberechtigt sein, weil sie Zusatzrentenversorgungsberechtigte sind, sondern für sie sollten die gleichen Voraussetzungen wie im allgemeinen Sozialversicherungsrecht gelten.

Die Beklagte beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung gegen das Urteil des Kreisgerichts Dresden – Kammer für Sozialrecht – vom 20. Februar 1992 zurückzuweisen.

Die Klägerin hat im Revisionsverfahren keinen zugelassenen Vertreter beauftragt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die zulässige Revision der Beklagten erweist sich als sachlich im vollen Umfang unbegründet. Im Ergebnis zu Recht hat das LSG den mit der reinen Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 Regelung 1 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫) angefochtenen Bescheid vom 22. Januar 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. April 1991 aufgehoben.

Die dort getroffene Regelung ist rechtswidrig. Wie der Senat mit Urteil vom 15. Dezember 1994 (SozR 3-8560 Nr 2), dem sich mittlerweile auch der 13. Senat (Urteil vom 9. August 1995, 13/4 RA 53/93 – zur Veröffentlichung vorgesehen) angeschlossen hat, bereits entschieden hat, ist § 26 RAG für die Zeit ab dem 1. Juli 1990 kein anwendbares Recht. Weder hat die Vorschrift demgemäß den Anspruch der Klägerin auf Zusatzwitwenrente als sich selbst vollziehende Regelung unmittelbar in Wegfall geraten lassen, so daß die Beklagte zu einer entsprechenden Feststellung berechtigt gewesen wäre, noch ermächtigt sie allein oder iVm § 48 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch ≪SGB X≫ (vgl zum Inkrafttreten des SGB X im Beitrittsgebiet zum 1. Januar 1991: EV Anlage I Kapitel VIII Sachgebiet D Abschnitt III Nr 2) zur (rückwirkenden) Aufhebung der gemäß Art 19 EV fortgeltenden Bescheide vom 30. Mai 1975 und 10. Juni 1975. Es kann daher dahingestellt bleiben, ob eine § 24 SGB X entsprechende Anhörung durchgeführt worden ist.

Der Senat hält seine Entscheidung vom 15. Dezember 1994 nach erneuter Prüfung aufrecht.

Durch den EV, der am 29. September 1990 in Kraft getreten ist und mit Beginn des 3. Oktober 1990 in vollem Umfang Wirksamkeit erlangt hat, wurde § 26 Abs 1 RAG, soweit darin die Renten an erwerbsfähige Witwen und Witwer geregelt sind, für den gesamten Geltungsbereich der Vorschrift, dh auch für die Zeit ab 1. Juli 1990, unanwendbar. Die Vorschrift wurde spezialgesetzlich durch EV Nr 9 Buchst b verdrängt. Als dem Bundesgesetzgeber wegen des Einigungsvertragsgesetzes vom 23. September 1990 (BGBl II S 885) direkt zuzurechnende Sachregelung geht EV Nr 9 allen allgemeinen Bestimmungen in der Anlage II des EV vor, in denen lediglich (übergangsrechtlich) die Fortgeltung oder weitere Anwendung von Recht der früheren DDR angeordnet wird. Die Spezialregelung tritt ihrerseits nur zurück, soweit im Text des EV selbst oder in den Anlagen hierzu eine originär dem Bundesgesetzgeber zuzurechnende abweichende Sachregelung getroffen worden ist. Diese kann zB in Maßgaben des EV zu fortgeltendem oder weiter anzuwendendem Recht der früheren DDR liegen. Hinsichtlich § 26 Abs 1 RAG hat der EV selbst aber keine derartige, die Spezialregelung in EV Nr 9 verdrängende, besondere Sachregelung getroffen, sondern lediglich in den allgemeinen Vorschriften zur Sozialversicherung das Inkraftbleiben des RAG angeordnet. Die dort zu einzelnen Vorschriften des RAG ausgestalteten Maßgaben betreffen § 26 RAG nicht und sind auch sonst ersichtlich nicht einschlägig.

§ 26 Abs 1 RAG wäre daher seit dem 3. Oktober 1990 nur dann anwendbares Recht geblieben, wenn die Vorschrift mit den in EV Nr 9 Buchst b getroffenen Regelungen vereinbar wäre. Das ist aber nicht der Fall. Sie steht vielmehr hierzu derart in Widerspruch, daß sie für den gesamten Zeitraum, für den Bundesrecht rückwirkend Anwendung findet, dh seit dem 1. Juli 1990 (st Rspr seit BSG SozR 3-1300 § 44 Nr 8), nicht angewandt werden darf. § 26 RAG wurde als sekundäres Bundesrecht durch das originäre Bundesrecht im Überführungsprogramm des EV (und nicht etwa als älteres Gesetz durch ein jüngeres) „verdrängt” und damit gegenstandslos:

§ 26 Abs 1 RAG ist Bestandteil des zum 1. Juli 1990 von der demokratisierten DDR aufgrund Art 20 des Vertrages über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR vom 18. Mai 1990 (BGBl II S 537) in Kraft gesetzten Konzepts zur Angleichung des Rentenrechts der DDR an das Rentenversicherungsrecht der Bundesrepublik Deutschland. Da bei Abschluß dieses Staatsvertrages und auch bei Beschluß des RAG am 28. Juni 1990 noch nicht abzusehen war, wann die Wiedervereinigung Deutschlands würde erreicht werden können, beruhen die Regelungen des RAG auf dem Grundgedanken, die für die vereinbarte Angleichung notwendigen Änderungen möglichst zum 1. Januar 1991 in Kraft zu setzen. Angestrebt wurde, zu diesem Zeitpunkt ein in den wesentlichen Grundstrukturen einheitliches, von sachfremden Vergünstigungen bereinigtes Rentenversicherungsrecht der DDR zu schaffen, das im wesentlichen dem Rentenversicherungsrecht der Bundesrepublik Deutschland entsprach.

Deshalb sah der Sechste Abschnitt des RAG über Zusatzversorgungssysteme auch für die zusätzlichen Versorgungen, die dem Recht der gesetzlichen Rentenversicherung der Bundesrepublik Deutschland fremd sind, deren Überführung im zweiten Halbjahr 1990 durch Neufestsetzung von Renten der Sozialversicherung vor (§ 24 Abs 1 Satz 1 RAG). Durch die Regelung über die Überführung bereits festgesetzter zusätzlicher Versorgungen (§§ 23, 24 RAG) und über die Überführung bisher erworbener Anwartschaften (§ 25 RAG) sollten die Berechtigten aus zusätzlichen Versorgungssystemen grundsätzlich den in der allgemeinen Sozialpflichtversicherung der DDR Versicherten gleichgestellt werden. Sachwidrig überhöhte Ansprüche und Anwartschaften sollten abgebaut werden, jedoch auch sachlich begründete Differenzierungen fortgeführt werden (vgl die Dynamisierung auch der auf Zusatzversorgungszeiten beruhenden Rententeile und die schonende Abschmelzung der noch gezahlten Teile der zusätzlichen Versorgung in §§ 24 Abs 5 und 25 Abs 2 RAG). Zur Beseitigung von – immer gemessen an dem Standard des DDR-Rentenversicherungsrechts, das ab 1. Januar 1991 gelten sollte -ungerechtfertigten Leistungen dienten die §§ 26 und 27 RAG.

Dabei bestand die nach Auffassung der Volkskammer durch § 26 Abs 1 RAG abzuschaffende sachwidrige Ungleichheit im Blick auf die Versorgung erwerbsfähiger Witwen und Witwer im Kern in folgendem: Gemäß § 19 der Rentenverordnung (Renten-VO) bestand in der allgemeinen Sozialpflichtversicherung der früheren DDR Anspruch auf Witwen- oder Witwerrente für Frauen ab Vollendung des 60. Lebensjahres und für Männer ab Vollendung des 65. Lebensjahres, ferner bei Vorliegen von Invalidität oder für Witwen mit einem Kind unter drei Jahren oder mit zwei Kindern unter acht Jahren, wenn der Verstorbene die finanziellen Aufwendungen für die Familie überwiegend erbracht und zum Zeitpunkt seines Todes die Voraussetzungen zum Bezug einer Alters-, Invaliden- oder Kriegsbeschädigtenrente erfüllt hatte (vgl auch Art 2 § 11 Rentenüberleitungsgesetz ≪RÜG≫). Demgegenüber sahen die zusätzlichen Versorgungssysteme – bei im einzelnen unterschiedlicher Ausprägung – die Gewährung einer Hinterbliebenenversorgung auch schon für Witwen bzw Witwer ohne weitere Voraussetzungen vor, die das 60. bzw das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten. So war es möglich, daß eine Witwe, die nach § 19 Renten-VO eine Witwenrente aus der Sozialpflichtversicherung noch nicht beanspruchen konnte, gleichwohl eine Hinterbliebenenversorgung aus dem zusätzlichen Versorgungssystem erhalten konnte (zzgl der Übergangshinterbliebenenrente nach § 20 Renten-VO). § 26 Abs 1 RAG sollte diese Besserstellung in den zusätzlichen Versorgungssystemen beseitigen. Dies klingt in dem mehrdeutigen Wortlaut der Vorschrift noch hinreichend klar an. Gerade deshalb ist er aber mit EV Nr 9 Buchst b nicht vereinbar.

EV Nr 9 hat das im RAG konkretisierte Konzept zur Überführung von Rentenansprüchen aus Zusatzversorgungssystemen in das Rentenrecht der DDR entscheidend verändert (st Rspr seit BSGE 72, 50, 65). Der vom RAG vorgesehene Zwischenschritt auf dem Weg zur Wiederherstellung der Rechtseinheit in Deutschland auch auf dem Gebiet des Rentenversicherungsrechts, nämlich die Schaffung eines DDR-Rentenversicherungsrechts, das im wesentlichen dem Rentenversicherungsrecht der Bundesrepublik Deutschland entsprach (Art 20 Abs 1 des Staatsvertrages), wurde im Blick auf das ohnehin anstehende Inkrafttreten des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) zum 1. Januar 1992 fallengelassen; gemäß EV Nr 9 Buchst b Satz 1 waren nunmehr die in (Sonder- und) Zusatzversorgungssystemen erworbenen Ansprüche und Anwartschaften auf Leistungen wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, Alters und Tod – soweit noch nicht geschehen – bis zum 31. Dezember 1991 in die Rentenversicherung zu überführen; gleiches galt nach EV Nr 9 Buchst a für das Versicherungs- und Beitragsrecht (näher zur Struktur von EV Nr 9: BSG SozR 3-8570 § 11 Nr 3 S 27 f; zur Bedeutung des neuen Überführungszeitpunkts „31. Dezember 1991” schon BSGE 72, 50, 56, 66). Damit aber hat EV Nr 9 schon den für die Qualifikation der Hinterbliebenenversorgung als ungerechtfertigte Leistung maßgeblichen Vergleichsmaßstab, nämlich das für die Zeit ab Januar 1991 vorgesehene bereinigte Rentenversicherungsrecht der DDR, durch das neue Ziel der Überleitung, nämlich das SGB VI, ersetzt.

Nicht stichhaltig ist in diesem Zusammenhang das Vorbringen der Beklagten, in EV Nr 9 Buchst b Satz 3 Nr 1 sei vorgeschrieben, die zum 31. Dezember 1991 nach Satz 1 aaO überführbaren Ansprüche und Anwartschaften an das Rentenversicherungsrecht der DDR anzupassen. Denn die dort genannten „allgemeinen Regelungen der Sozialversicherung in dem in Art 3 des Vertrages genannten Gebiet” bestehen nach dem Geltungsanspruch des EV höchstrangig aus den Vorschriften des GG (Art 3 EV), sodann aus denjenigen des EV selbst sowie des sonstigen im Beitrittsgebiet anwendbaren originären Bundesrechts einschließlich der unmittelbar in Anlage II Kapitel VIII und speziell in EV Nr 9 getroffenen Sachregelungen; nur nachrangig, lückenfüllend und übergangsrechtlich ist auf die fortgeltenden bzw weiter anzuwendenden Regelungen des Rechts der früheren DDR kraft bundesrechtlichen Anwendungsbefehls und in dessen Grenzen zurückzugreifen.

Dies bedarf im vorliegenden Fall im einzelnen keiner erneuten Darlegung, weil jedenfalls der im EV Nr 9 Buchst f ermächtigte Verordnungsgeber, die Bundesregierung, bei der in EV Nr 9 Buchst b Satz 3 vorgesehenen Anpassung von vornherein hätte berücksichtigen müssen, daß jede Angleichung von Regelungen des Rentenrechts der früheren DDR im Blick auf die Überführung in das seit dem 1. Januar 1992 in ganz Deutschland geltende SGB VI zu keinen sachlich unvertretbaren, insbesondere unverhältnismäßigen Ungleichheiten führen durfte (Art 3 Abs 1 GG). EV Nr 9 Buchst b Satz 1 hat aber schon am 3. Oktober 1990, also zu einem Zeitpunkt, zu dem Rentenansprüche „erwerbsfähiger” Hinterbliebener auf Hinterbliebenenrenten aus Zusatzversorgungssystemen noch bestanden, ausdrücklich bestimmt, daß die erworbenen Ansprüche auf Leistungen wegen Tod in die Rentenversicherung zu überführen sind. Das originäre Bundesrecht hat also nicht zwischen erwerbsfähigen und nicht erwerbsfähigen Witwen bzw Witwern unterschieden. Dementsprechend hat der parlamentarische Bundesgesetzgeber auch in § 4 Abs 1 des Gesetzes zur Überführung der Ansprüche und Anwartschaften aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen des Beitrittsgebiets (AAÜG), das seit dem 1. August 1991 (statt EV Nr 9 Buchst f) gilt, ebenfalls vorgesehen, daß die „in Zusatzversorgungssystemen erworbenen Ansprüche auf zusätzliche Hinterbliebenenversorgung (Abs 1 Nr 3 aaO) in die Rentenversicherung zu überführen sind”. Darüber hinaus ist in EV Nr 9 Buchst b Satz 2 bestimmt worden, daß bis zur Überführung (am 31. Dezember 1991) die leistungsrechtlichen Regelungen der jeweiligen Versorgungssysteme weiter anzuwenden sind, soweit sich „aus diesem Vertrag, insbesondere den nachfolgenden Regelungen, nichts anderes ergibt”. Außer in dem nachfolgenden Satz 3 Nr 1 finden sich aber „in diesem Vertrag” im Blick auf Renten ua wegen Todes keine anderweitigen Sachregelungen, die dem Bundesgesetzgeber originär zuzurechnen sind. In Satz 3 wird das (nach dem Konzept von EV Nr 9 gemäß Buchst f aaO durch die Bundesregierung als Verordnungsgeber durchzusetzende) Überführungs- und Anpassungsprogramm (in Anlehnung an Art 20 des Staatsvertrages) einer künftigen bundesrechtlichen Regelung zugewiesen. Schließlich wird in EV Nr 9 Buchst c Satz 1 gemäß der neuen Zielvorgabe des Überführungsprozesses bestimmt, daß die Versorgungssysteme bis zur Überführung der darin erworbenen Ansprüche und Anwartschaften in die Rentenversicherung weitergeführt werden. Demnach durfte nach EV Nr 9 Buchst f der Verordnungsgeber nur diejenigen Angleichungen vornehmen, die im Blick auf das Angleichungsziel, das ab dem 1. Januar 1992 in ganz Deutschland gültige SGB VI, sachgerecht und verhältnismäßig waren. Nach § 46 Abs 2 Satz 1 Nr 1 SGB VI haben Witwen oder Witwer, die – wie die Klägerin – nicht wieder geheiratet haben, nach dem Tode des versicherten Ehegatten, der – wie der Ehemann der Klägerin – die allgemeine Wartezeit erfüllt hatte, Anspruch auf große Witwenrente/Witwerrente, wenn sie – wie die Klägerin – das 45. Lebensjahr vollendet haben. Das in EV Nr 9 Buchst b angestrebte Angleichungsziel kann also auf dem durch § 26 Abs 1 Regelung 2 RAG beschrittenen Weg schlechthin nicht erreicht werden. Die Anwendung dieser Vorschrift ist daher – und zwar für ihren gesamten zeitlichen Geltungsbereich ab 1. Juli 1990 – nach Maßgabe von EV Nr 9 Buchst b ausgeschlossen. § 26 Abs 1 Satz 1 und 2 RAG ist kein anwendbares Recht, soweit darin Regelungen über Versorgungen an erwerbsfähige Witwen und Witwer getroffen waren.

Diesem Ergebnis steht nicht entgegen, daß der Bundesrat in seiner Initiative zur Abänderung von § 26 Abs 1 Satz 2 RAG und die Bundesregierung in ihrer Erwiderung hierauf (BT-Drucks 12/630 S 18 f, 20 f) von der Annahme ausgegangen sind, das Bundesrecht sehe die Anwendung von § 26 Abs 1 RAG vor. Diese dort nicht näher begründete Rechtsauffassung findet – wie dargelegt – im EV keine hinreichende Grundlage. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat ferner keinen Bestätigungswillen des parlamentarischen Bundesgesetzgebers iS von Art 100 Abs 1 GG festgestellt (SozR 3-8560 § 26 Nr 1); er habe sich diese Vorschrift weder aufgrund der vorgenannten Bundesratsinitiative noch aufgrund des EV oder der Beratungen zum RÜG zu eigen gemacht. Mit dem BVerfG ist der erkennende Senat der Ansicht, daß der parlamentarische Gesetzgeber diese Regelung nur für eine von vornherein begrenzte Übergangszeit bis zum 31. Dezember 1991 hingenommen, eine Prüfung ihrer Vereinbarkeit mit dem vorrangigen Inhalt des EV nicht vorgenommen und lediglich eine ausdrückliche Änderung vorerst unterlassen hat. Soweit das BVerfG (S 10 f aaO) im Blick auf die Beratungen zum RÜG angesprochen hat, diese seien erst im Mai 1991 erfolgt, „also zu einer Zeit, in der die von dieser Norm angeordnete Rechtsfolge, nämlich die Einstellung der Witwenrenten aus den Zusatzversorgungen an erwerbsfähige Witwen zum 31. Dezember 1990 bereits eingetreten” gewesen sei, handelt es sich um eine bloße Wiedergabe des Inhalts des § 26 Abs 1 RAG sowie der Verwaltungspraxis. Die Erörterungen erfolgten allein im Zusammenhang mit der Frage, ob es sich insoweit um vor- oder nachkonstitutionelles Recht handelt. Das BVerfG selbst hat nicht geprüft, ob die ihm vorgetragenen Rechtsansichten und die Verwaltungspraxis mit der objektiven Rechtslage vereinbar sind. Der erkennende Senat ist durch diese beiläufige Formulierung im Beschluß der 2. Kammer des 1. Senats des BVerfG nicht gebunden iS von § 31 Abs 1 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes. Er hat in eigener Kompetenz das „einfache” Gesetzesrecht, zu dem auch der EV Nr 9 und das RAG gehören, auszulegen und über die Anwendbarkeit des § 26 Abs 1 RAG zu entscheiden. Im übrigen steht es dem BVerfG frei, auf welche von mehreren Gesichtspunkten es seine Entscheidung stützen will.

Der Klägerin steht demgemäß ein Anspruch auf Zusatzwitwenrente auch in der Zeit ab dem 1. Januar 1991 zu.

Der Revision der Beklagten mußte der Erfolg versagt bleiben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173779

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