Entscheidungsstichwort (Thema)

Aufhebung und Rückforderung nach altem oder neuen Recht. Rechtswidrigkeit bei fehlender Ermessensentscheidung

 

Orientierungssatz

1. § 628 RVO aF ist ausnahmsweise über den 31.12.1980 hinaus anzuwenden, wenn der - bindende - Aufhebungsbescheid vor 1981, der Rückforderungsbescheid dagegen nach 1980 erlassen wird.

2. Bei einer Rückforderung nach § 628 RVO aF muß der Versicherungsträger sein Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung ausüben und hat dabei die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten.

 

Normenkette

RVO § 628 S 1 Fassung: 1963-04-30; SGB 10 § 50 Abs 1

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 15.02.1989; Aktenzeichen L 2 U 150/87)

SG Augsburg (Entscheidung vom 08.05.1987; Aktenzeichen S 3 U 259/84)

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist der Anspruch der beklagten Berufsgenossenschaft gegen den Kläger auf Rückerstattung zu Unrecht erbrachter Rentenleistungen in Höhe von 28.808,04 DM streitig.

Der Kläger, von Beruf Käsermeister, erlitt am 13. Juni 1967 bei der Mithilfe einer nicht gewerbsmäßigen Bauarbeit (Errichtung einer Garage) für seinen Bruder einen Unfall und zog sich einen linksseitigen Fersenbeinbruch zu. In der nach den Angaben des Klägers erstellten Unfallanzeige vom 19. Juni 1967 heißt es, der Kläger habe den Unfall bei seiner beruflichen Tätigkeit (Sturz vom Käsebock im Gärkeller bei dem Milchwerk S.       & R.   GmbH) erlitten. Die Beklagte erkannte daraufhin diesen Unfall als Arbeitsunfall an und gewährte dem Kläger ab September 1967 eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von zunächst 30 vH und ab August 1968 von 20 vH (Bescheide vom 12. Dezember 1967 und 25. Juni 1968).

Im April 1976 erfuhr die Beklagte erstmals, daß sich der Unfall nicht in der Käserei, sondern beim Bau der Garage seines Bruders im 30 km entfernten N.         zugetragen habe. Nachdem die Beklagte den Kläger zu einer Stellungnahme aufgefordert und auf eine mögliche Rückerstattungspflicht hingewiesen hatte (Schreiben vom 13. Mai 1976), räumte der Kläger ein, daß er bei Bauarbeiten für seinen Bruder verunglückt war; den betrieblichen Arbeitsunfall habe er aus Befürchtung vor einer Bestrafung seines Bruders wegen eines fehlenden Schutzgerüstes angegeben. Dabei habe er die Beklagte auch hinsichtlich des wahren Unfallhergangs als den allein zuständigen Versicherungsträger angesehen.

Die Beklagte stellte daraufhin die Rentenzahlungen mit Ablauf des Monats Mai 1976 ein und widerrief am 25. Mai 1976 die Bescheide vom 12. Dezember 1967 und 25. Juni 1968; zugleich teilte sie dem Kläger mit, daß sie bis zur Klärung der Frage, ob eventuell eine Entschädigung durch einen anderen Versicherungsträger zu gewähren sei, die Entscheidung über die Höhe der Schadensersatzforderung gegen ihn zurückstelle.

Durch Bescheid vom 25. November 1977 erkannte der beigeladene Gemeindeunfallversicherungsverband den Unfall des Klägers vom 13. Juni 1967 als Arbeitsunfall an. Die Gewährung einer Verletztenrente lehnte er jedoch ab. Der Kläger habe erstmals im Mai 1976 bekannt gegeben, daß sich der Unfall bei der Erstellung einer Garage für seinen Bruder ereignet habe. Leistungen wären daher wegen nicht rechtzeitiger Anmeldung nach § 1546 der Reichsversicherungsordnung (RVO) erst ab 1. Mai 1976 zu erbringen. Zu diesem Zeitpunkt wäre die Erwerbsfähigkeit des Klägers aber nicht mehr meßbar gemindert gewesen. Widerspruch, Klage und Berufung hiergegen blieben erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 3. Mai 1978, Urteile des Sozialgerichts -SG- vom 13. November 1979 - S 2 U 150/78 - und des Landessozialgerichts -LSG- vom 7. Juli 1981 - L 3 U 340/79 -).

Nachdem der Beigeladene unter Berufung auf § 1546 RVO die Erstattung der dem Kläger bis Ende Mai 1976 erbrachten Leistungen an die Beklagte abgelehnt hatte, forderte diese den Kläger mit Schreiben vom 1. Dezember 1977 und (nach Abschluß des erwähnten Klageverfahrens des Klägers gegen den Beigeladenen) mit Bescheid vom 26. Oktober 1981 idF des Widerspruchsbescheides vom 29. Dezember 1981 auf, die aufgrund bewußt falscher Angaben zu Unrecht bis Ende Mai 1976 empfangenen Leistungen in Höhe von insgesamt 28.804,04 DM nebst Zinsen zurückzuerstatten.

Das SG hat durch Urteil vom 8. Mai 1987 die angefochtenen Bescheide hinsichtlich des Zinsanspruchs aufgehoben und im übrigen die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das LSG das Urteil des SG und die angefochtenen Bescheide aufgehoben (Urteil vom 15. Februar 1989). Zur Begründung heißt es, der Kläger sei nach § 50 Abs 1 Sozialgesetzbuch - Zehntes Buch - (SGB X) nicht verpflichtet, die ihm von der Beklagten erbrachten Rentenleistungen zurückzuerstatten. Aufgrund seines Bescheides vom 25. November 1977 stehe der Beigeladene als der für die Entschädigung des Arbeitsunfalls des Klägers vom 13. Juni 1967 zuständige Versicherungsträger fest. Die Beklagte habe dem Kläger als unzuständiger Leistungsträger Sozialleistungen erbracht und habe somit den wegen der Folgen des Arbeitsunfalls gegen den Beigeladenen bestehenden Anspruch des Klägers auf Verletztenrente erfüllt. Insoweit bestehe ein Erstattungsanspruch nach § 105 Abs 1 SGB X gegen den Beigeladenen. Daneben stehe dem Beklagten ein Rückgriffsrecht gegen den Kläger nach § 50 Abs 1 Satz 1 SGB X nicht zu.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte die Verletzung der §§ 50 Abs 1, 105 und 107 SGB X. Sie ist der Ansicht, die Voraussetzungen des § 50 Abs 1 SGB X seien erfüllt. Eine Anwendung der §§ 105 und 107 SGB X sei hier ausgeschlossen. Aber auch bei einer Anwendung des § 628 Satz 2 RVO aF sei der Rückforderungsanspruch gegeben, weil bei betrügerischer Erschleichung der Leistung die Rückforderung immer vertretbar und die Rückzahlung zumutbar sei.

Die Beklagte beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen,

das Urteil des Bayerischen LSG vom 15. Februar 1989 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Augsburg vom 8. Mai 1987 zurückzuweisen.

Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht durch einen Prozeßbevollmächtigten vertreten und begehrt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen, die Revision der Beklagten zurückzuweisen. Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Der Beigeladene schließt sich im wesentlichen den Ausführungen der Beklagten an.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des (Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Das LSG hat die Auffassung vertreten, die Beklagte habe nach § 107 SGB X den wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 13. Juni 1967 gegen den Beigeladenen bestehenden Anspruch des Klägers auf Verletztenrente erfüllt; demgemäß habe der Kläger die Rentenleistungen mit rechtlichem Grund erhalten und sei nicht nach § 50 SGB X zur Rückerstattung verpflichtet. Der Senat ist jedoch der Auffassung, daß nicht § 50 SGB X, sondern § 628 RVO aF die Rechtsgrundlage für einen Rückforderungsanspruch der Beklagten ist und deshalb die fehlende Ermessensentscheidung im Bescheid der Beklagten vom 26. Oktober 1981 idF des Widerspruchsbescheides vom 29. Dezember 1981 zur Rechtswidrigkeit und zu einer Aufhebung führt.

Nachdem der Aufhebungsbescheid der Beklagten vom 25. Mai 1976 mangels Anfechtung durch den Kläger nach § 77 SGG bindend geworden war (s auch das oben erwähnte Urteil des LSG vom 7. Juli 1981 - L 3 U 340/79 - S 7), stützte die Beklagte nach rechtskräftigem Abschluß dieses Rechtsstreits zwischen dem Kläger und dem Beigeladenen aus der damals noch ungeklärten Rechtslage über das anzuwendende alte oder neue Recht auf Fälle der vorliegenden Art (s insbesondere BSG-Urteil vom 21. Februar 1985 - 4 RJ 103/83 - HV-INFO 10/1985 S 4 ff, das insoweit eine Gesetzeslücke feststellt) ihren Erstattungsbescheid vom 26. Oktober 1981 auf § 50 SGB X. Das LSG indessen hat nicht beachtet, daß die Rechtmäßigkeit dieses Rückforderungsbescheides der Beklagten nach § 628 RVO aF und nicht nach § 50 SGB X zu beurteilen ist.

Zwar gilt seit dem 1. Januar 1981 für die Rückforderung von erbrachten Sozialleistungen allein § 50 SGB X. Die bislang für solche Fälle anzuwendende Vorschrift des § 628 RVO idF des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes vom 30. April 1963 (BGBl I S 241) ist mit dem Inkrafttreten der beiden ersten Kapitel des SGB X (das ist der 1. Januar 1981 - Artikel II § 40 Abs 1 SGB X -) gestrichen worden (Art II § 4 Nr 1 SGB X). Die Vorschrift des § 50 SGB X ersetzt damit § 628 RVO aF und ist auf Rückforderungen ab dem 1. Januar 1981 anzuwenden. Das gilt grundsätzlich auch dann, wenn von der Rückforderung Leistungen aus der Zeit vor dem 1. Januar 1981 betroffen sind (Verbandskommentar § 50 SGB X RdNr 1; s auch Schneider-Danwitz in SGB-SozVers - GesKomm, § 50 SGB X Anm 2 Buchst c -). Hingegen ist § 628 RVO aF ausnahmsweise über den 31. Dezember 1980 hinaus anzuwenden, wenn der - bindende - Aufhebungsbescheid vor 1981, der Rückforderungsbescheid dagegen nach 1980 erlassen wird. Denn die Anwendung alten Rechts auf die Aufhebung und neuen Rechts auf die Rückforderung hätte hier zur Folge, daß der Vertrauensschutz selbst bei Schuldlosigkeit des Leistungsempfängers an der Überzahlung ganz entfiele. Diese Erwägungen waren nach dem vor dem 1. Januar 1981 geltenden Recht erst bei Erlaß des auf § 628 RVO aF gestützten Rückforderungsbescheides, hingegen nach neuem Recht schon bei Erlaß des Aufhebungsbescheides zu berücksichtigen (BSG aaO und BSG SozR 2200 § 1301 Nr 14 für den Bereich der Rentenversicherung; Schneider-Danwitz in SGB-SozVers - GesKomm aaO Anm 2 Buchst d; Kocher in Jahn, SGB X § 50 RdNr 23).

Die Bescheide der Beklagten vom 12. Dezember 1967 und 25. Juni 1968, die zu den erbrachten Rentenleistungen geführt haben, sind mit rückwirkender Kraft durch Bescheid vom 25. Mai 1976 bindend aufgehoben worden. Die dem Kläger gewährten Rentenleistungen sind daher zu Unrecht gezahlt worden. Dem sich daraus ergebenden öffentlich-rechtlichen Rückforderungsanspruch liegt der allgemeine Grundsatz des öffentlichen Rechts, der auch auf dem Gebiet des Sozialrechts gilt, zugrunde, daß ohne Rechtsgrund gewährte öffentliche Leistungen zurückgefordert werden können und zu erstatten sind (BSG SozR Nr 4 zu § 628 RVO mwN; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 11. Aufl, S 232i/iI). Ist - wie hier - ein Rückforderungsanspruch vorhanden, so richten sich das "Ob" und "Wie" der Rückforderung nach § 628 RVO aF. Nach Satz 2 dieser Vorschrift darf der Unfallversicherungsträger zu Unrecht erbrachte Leistungen nur zurückfordern, wenn ihn für die Überzahlung kein Verschulden trifft und nur soweit der Leistungsempfänger bei Empfang wußte oder wissen mußte, daß ihm die Leistung nicht oder nicht in der gewährten Höhe zustand und soweit die Rückforderung nach den wirtschaftlichen Verhältnissen des Empfängers vertretbar ist.

Zwar sind hier die Voraussetzungen aller drei Regelungen erfüllt: Es sind keine Anhaltspunkte vorhanden, daß die Beklagte ein Verschulden an der Überzahlung trifft. Nach dem vom LSG festgestellten Sachverhalt wußte der Kläger aufgrund der falschen Unfallanzeige, daß ihm gegen die Beklagte kein Anspruch auf Verletztenrente zustand. In solchen Fällen der rechtswidrigen Rentenfeststellung und -zahlung durch vorsätzliches Handeln des Versicherten kommt es auf die wirtschaftlichen Verhältnisse nicht an (BSG aaO und SozR Nr 5 zu § 628 RVO).

Gleichwohl erweist sich der dem Kläger erteilte Rückforderungsbescheid vom 26. Oktober 1981 aus einem anderen Grunde als rechtswidrig. Nach § 628 Satz 1 RVO aF "braucht" der Versicherungsträger eine Leistung nicht zurückzufordern, die er zu Unrecht gezahlt hat. Die Behörde ist danach nicht zu einer Rückforderung verpflichtet, und zwar auch dann nicht, wenn alle in § 628 Satz 2 RVO aF angeführten Voraussetzungen erfüllt sind. Diese steht vielmehr in ihrem Ermessen (Brackmann aaO S 232 iIV/iV; Lauterbach/Watermann, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, § 628 Anm 3c). Daß dem Rückforderungsanspruch bei erschlichenen Leitungen die schlechten wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen nicht entgegenstehen, besagt nur, daß der Versicherungsträger die Leistungen zurückfordern darf. Ob er sie zurückfordert, steht in seinem Ermessen. Infolgedessen muß der Versicherungsträger bei einer Rückforderung nach § 628 RVO aF sein Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung ausüben und hat dabei die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten. Für die Frage, ob der Versicherungsträger überhaupt eine Ermessensentscheidung getroffen hat und ob diese rechtmäßig gewesen ist, kommt es auf den Inhalt des Bescheides und insbesondere dessen Begründung an. Sie muß nicht nur erkennen lassen, daß der Versicherungsträger eine Ermessensentscheidung hat treffen wollen und getroffen hat, sondern auch die Gesichtspunkte, von denen er bei der Ausübung seines Ermessens ausgegangen ist (BSGE 59, 157, 169f mwN). Hat der Versicherungsträger keine Ermessensentscheidung getroffen oder die für diese Entscheidung maßgebenden Gesichtspunkte nicht in der Begründung des Bescheides mitgeteilt, so führt dies allein zur Rechtswidrigkeit und Aufhebbarkeit des Bescheides (BSGE 57, 138, 144; 59, 157, 172; BSG SozR 1300 § 45 Nr 32 mwN; s auch BSGE 2, 142, 148).

Der dem Kläger erteilte Rückforderungsbescheid vom 26. Oktober 1981 idF des Widerspruchsbescheides vom 29. Dezember 1981 ist allein aus diesen Gründen rechtswidrig. Seiner Begründung ist nicht zu entnehmen, daß die Beklagte über die Rückforderung eine Ermessensentscheidung hat treffen wollen und getroffen hat und von welchen rechtlichen Gesichtspunkten sie sich bei einer solchen Entscheidung hat leiten lassen. Die Fassung des Bescheides läßt im Gegenteil insbesondere durch die Bezugnahme auf § 50 SGB X erkennen, daß die Beklagte sich nach dieser Vorschrift zur Rückforderung für verpflichtet gehalten hat; vom Rechtsstandpunkt der Beklagten aus war diese Annahme allerdings auch folgerichtig (s Brackmann aa0 S 232k III).

Der dem Kläger erteilte Rückforderungsbescheid ist somit aufzuheben. Damit kommt es auf die vom LSG erörterten Fragen nicht an, insbesondere ob hier die Erfüllungsfiktion des § 107 Abs 1 SGB X überhaupt vorliegen kann und zur Folge hätte, daß dem erstattungsberechtigten Versicherungsträger ein Rückgriff auf den Empfänger der Leistungen - hier den Kläger - abgeschnitten wäre. Ob und wie die Beklagte ihren Rückforderungsanspruch erneut geltend macht, wird sie zu prüfen haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1649485

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