Entscheidungsstichwort (Thema)

Altersruhegeld. 63. Lebensjahr. Hinzuverdienst. Überschreitung. Aufhebung. Änderung der Verhältnisse. Härte. atypischer Fall. Deckung von überschießendem Verdienst und Sozialleistung

 

Leitsatz (amtlich)

1. § 48 Abs. 1 S 2 Nr. 3 SGB X ist nur anwendbar, soweit sich die zu Unrecht bezogene Sozialleistung und das Einkommen, das zum Wegfall der Sozialleistung geführt hat, decken (Anschluß an BSGE 60, 180 = SozR 1300 § 48 Nr. 26).

2. Führt das Überschreiten einer Verdienstgrenze zum Wegfall einer Sozialleistung, so kann die rückwirkende Aufhebung des Bewilligungsbescheides gemäß § 48 Abs. 1 S 2 Nr. 3 SGB X nur in Höhe des Mehrverdienstes erfolgen.

3. Bei der rückwirkenden Aufhebung eines Leistungsbescheides nach § 48 SGB X und der Feststellung des sich daraus ergebenden Erstattungsbetrages nach § 50 Abs. 1 SGB X ist nicht zugleich auch über den Erlaß der Rückforderung zu entscheiden (Anschluß an BSG SozR 1200 § 42 Nr. 4).

 

Normenkette

RVO § 1248 Abs. 1, 4; SGB X § 48 Abs. 1 S. 2 Nrn. 2-4; SGB I § 42 Abs. 3

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 11.03.1994; Aktenzeichen L 5 J 29/93)

SG Lübeck (Entscheidung vom 21.12.1992; Aktenzeichen S 6 J 154/91)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 11. März 1994 aufgehoben.

Die Sache wird zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger wegen Überschreitens der zulässigen Einkommensgrenze das für die Zeit von Februar bis Dezember 1990 gezahlte Altersruhegeld (ARG) zurückerstatten muß.

Mit Bescheid vom 8. November 1989 bewilligte die Beklagte dem Kläger (geboren 1926) ab 1. Januar 1990 ARG wegen Vollendung des 63. Lebensjahres (§ 1248 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung ≪RVO≫) in Höhe von monatlich 2.054,92 DM. Zugleich belehrte sie ihn über den Fortfall der Rente bei Überschreiten der zulässigen Beschäftigungs- oder Einkommensgrenzen (§ 1248 Abs. 4 RVO).

Der Kläger arbeitete ab 1. Januar 1990 bei seinem Arbeitgeber weiter. Die Arbeitszeit war mit 12 Stunden wöchentlich, der monatliche Bruttolohn mit 1.000,00 DM vertraglich festgelegt.

Im Februar 1991 erfuhr die Beklagte, daß der Kläger vom 1. Januar 1990 bis 31. Dezember 1990 ein Bruttoentgelt von 16.682,26 DM erhalten habe. In dieser Summe seien enthalten: Überstundenvergütung für Dezember 1989 von 760,64 DM, Urlaubsgeld von 225,00 DM und 13. Monatsgehalt von 1.040,00 DM. Eine Aufschlüsselung der monatlichen Verdienste ergab folgendes:

Januar 1990

1.000,00 DM

Februar 1990

1.024,02 DM

März 1990

1.103,25 DM

April 1990

1.024,02 DM

Mai 1990

1.040,00 DM

Juni 1990

1.179,86 DM

Juli 1990

1.156,09 DM

August 1990

1.147,10 DM

September 1990

1.009,03 DM

Oktober 1990

1.147,39 DM

November 1990

1.274,77 DM

Dezember 1990

2.451,09 DM.

In dem daraufhin von der Beklagten eingeleiteten Anhörungsverfahren erklärte der Kläger hierzu, die Überschreitung der Hinzuverdienstgrenze beruhe auf einem Versehen der Sachbearbeiterin der Arbeitgeberfirma, auf deren Buchhaltung er sich verlassen habe. Er sei bereit, den über der zulässigen Grenze liegenden Lohn von 889,76 DM zurückzuzahlen. Im übrigen machte er geltend, dieser Betrag sei so gering, daß im Vergleich zur Lage bei Rentenbewilligung keine wesentliche Änderung der Verhältnisse eingetreten sei, die eine Rückforderung rechtfertige.

Mit Bescheid vom 4. April 1991 hob die Beklagte die Rentenbewilligung für die Zeit vom 1. Februar bis 31. Dezember 1990 auf und forderte das für diese Zeit gezahlte ARG in Höhe von 22.993,16 DM zurück: Die Rückforderung sei gerechtfertigt, weil der Kläger grob fahrlässig die Überschreitung der Einkommensgrenzen nicht mitgeteilt habe; im übrigen führe allein die Tatsache, daß er rentenschädliches Einkommen erzielt habe, zum Fortfall des Rentenanspruchs. Der Widerspruch des Klägers blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 28. Juni 1991). Die Klage führte zunächst zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung (Urteil des Sozialgerichts Lübeck ≪SG≫ vom 21. Dezember 1992). Auf die Berufung der Beklagten wurde dieses Urteil jedoch wieder aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 11. März 1994). Das LSG hat die Auffassung vertreten, daß die Voraussetzungen für die teilweise Aufhebung des Rentenbewilligungsbescheides gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) iVm § 1248 Abs. 4 RVO vorgelegen hätten. Es handele sich hier auch nicht um einen sogenannten atypischen Fall, der zur Folge hätte, daß die Beklagte bei der Rückforderung Ermessenserwägungen anstellen müsse. Die Überschreitung der vereinbarten Verdienstgrenze sei ein Fehler der Vertragserfüllung im Verhältnis Kläger/Arbeitgeber, der auch im Rahmen dieses Verhältnisses ausgeglichen werden müsse. Ebenso stelle das Mißverhältnis von Mehrverdienst und Rückforderungsbetrag keinen atypischen Fall dar, denn anderenfalls würde entgegen der klaren Vorgabe des Gesetzes der Rentenanspruch nicht mehr nur von der Höhe des Hinzuverdienstes, sondern auch von der Höhe der Rente abhängig gemacht. Im übrigen habe der Kläger die zulässige Hinzuverdienstgrenze um mehr als 10 % überschritten. Überschreitungen in dieser Größenordnung könnten bei der klaren Regelung des Gesetzes nicht mehr vernachlässigt werden. Es liege in der Typik des Gesetzes, daß bereits geringfügige Überschreitungen zu einem Fortfall der Rente führten.

Mit der Revision macht der Kläger geltend, die Frage, ob ein atypischer Fall vorliege, könne nicht losgelöst von der Frage der Höhe der zurückgeforderten Leistung beurteilt werden, denn diese sei durch § 50 Abs. 1 SGB X mit der Aufhebung verknüpft.

Der Kläger beantragt dem Sinne nach,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie beruft sich im wesentlichen auf das angefochtene Urteil. Ergänzend trägt sie vor: Die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 11. Januar 1989 – 10 RKg 12/87 – (SozR 1300 § 48 Nr. 53) könne nicht zugunsten des Klägers herangezogen werden. Dort werde nämlich ausdrücklich ausgeführt, daß die Frage, ob die mit der rückwirkenden Aufhebung des Verwaltungsaktes verbundenen Nachteile für den Leistungsempfänger eine Härte darstellten, nur im Rahmen einer Ermessensentscheidung zu prüfen sei, nicht aber bereits bei der Prüfung der Typik oder Atypik eines Lebenssachverhalts.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist zulässig. Sie führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG.

Rechtsgrundlage für den angefochtenen Bescheid ist § 48 SGB X. Es geht darum, ob nach Erlaß eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung (Rentenbewilligung) eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen eingetreten ist, die eine Aufhebung dieses Bescheides in dem hier streitigen Umfang rechtfertigt. Der Mehrverdienst, der zum Wegfall des Rentenanspruchs für die Zeit vom 1. Februar bis 31. Dezember 1990 geführt haben soll, ist erst erzielt worden, nachdem der Rentenbescheid vom 8. November 1989 dem Kläger zugegangen ist. Dabei handelt es sich um eine wesentliche Änderung iS des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Wesentlich ist eine Änderung stets, wenn sie rechtlich zum Wegfall einer Leistung führt. Dies ist hier der Fall.

Maßgeblich für die Beurteilung ist noch das Recht der RVO, weil das Neufeststellungsverfahren vor dem 31. März 1992 eingeleitet worden ist und sich auf einen Bewilligungszeitraum vor dem 1. Januar 1992 bezieht. Nach dem Übergangsrecht des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) ist insoweit insgesamt noch das Recht der RVO anzuwenden, wobei hier dahinstehen kann, ob sich dies unmittelbar aus § 300 Abs. 2 SGB VI ergibt oder aus § 300 Abs. 3 SGB VI in Verbindung mit dessen Abs. 2.

Nach § 1248 Abs. 4 Satz 1 Buchst b RVO besteht ein Rentenanspruch für Zeiten vor Vollendung des 65. Lebensjahres nicht, wenn daneben eine Beschäftigung gegen ein Entgelt ausgeübt wird, das 1.000,00 DM im Monat überschreitet. Das ARG fällt mit Beginn des Monats weg, in dem diese Grenze überschritten wird. Dementsprechend war im vorliegenden Fall bei Überschreiten der Einkommensgrenze Ende Februar 1990 der Rentenanspruch ab 1. Februar 1990 entfallen. Der Kläger war im Jahre 1990 laufend beschäftigt und hat dabei ab Februar 1990 in jedem Monat Beträge oberhalb der Nebenverdienstgrenze erhalten. Die Anwendung des § 1248 Abs. 4 Satz 1 Buchst a RVO – die grundsätzlich im selben Jahre neben Satz 1 Buchst b möglich wäre (s Verbandskommentar § 1248 RVO Rz 21) – scheidet bei dieser Konstellation aus. Darüber besteht auch kein Streit.

Da die Höhe eines 1.000,00 DM überschreitenden Mehrverdienstes für den Wegfall des Rentenanspruchs ohne Bedeutung ist, braucht hier nicht näher darauf eingegangen zu werden, ob insofern auch das Urlaubsgeld und das 13. Monatsgehalt zu berücksichtigen wären (vgl dazu BSG SozR 2200 § 1248 Nr. 9).

Eine Überschreitung der Verdienstgrenze läge allerdings dann nicht vor, wenn die vertraglichen Vereinbarungen des Klägers mit seinem Arbeitgeber dahin gegangen wären, daß unabhängig von Tariferhöhungen oder einzelnen Überstunden monatlich nur 1.000,00 DM gezahlt werden sollten, die überschießenden Beträge also dem Kläger nach dem Arbeitsvertrag gar nicht zustanden, vielmehr nur irrtümlich ausgezahlt und vom Kläger deshalb zurückgezahlt wurden. In einem solchen Fall wäre die Grundlage der Aufhebung des Rentenbescheides entfallen. Eine derartige Vertragsgestaltung sowie die Rückzahlung der Beträge hat das LSG aber nicht festgestellt; sie würde uU auch gegen Tarifrecht verstoßen.

Aus der Feststellung des Wegfalls des Rentenanspruchs für die Zeit von Februar bis Dezember 1990 ergibt sich außerdem nicht ohne weiteres die Berechtigung zu einer entsprechenden Aufhebung des Verwaltungsakts. Es handelt sich hier um eine Aufhebung mit Wirkung für die Vergangenheit. Diese ist, soweit hier erheblich, in § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X nur vorgesehen, soweit

  • der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X),
  • nach Antragstellung oder Erlaß des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X) oder
  • der Betroffene wußte oder nicht wußte, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, daß der sich aus dem Verwaltungsakt ergebene Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X).

Die Vorinstanz hat ihrer Entscheidung das Vorliegen der 2. Alternative zugrunde gelegt und den Aufhebungstatbestand allein dadurch als erfüllt angesehen, daß der Kläger Einkommen bezogen hat, das zum Wegfall der Rente geführt hat. Dieser Auslegung des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X vermag sich der erkennende Senat indes nicht anzuschließen. Die sehr weitgehende Möglichkeit der Aufhebung des Verwaltungsakts für die Vergangenheit nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X ist nur dadurch zu rechtfertigen, daß der Leistungsempfänger (auch wirtschaftlich) eine doppelte Zahlung erhalten hat, er also sowohl die ursprüngliche Sozialleistung (ARG) bezogen hat als auch die andere Leistung (Arbeitsentgelt), die zum Wegfall des erstgenannten Anspruchs geführt hat. Eine solche Doppelleistung liegt aber nur vor, soweit sich die Leistung, die zum Wegfall des Anspruchs geführt hat, mit dem weggefallenen Anspruch deckt. Denn nur in diesem Umfang hatte der Kläger einen doppelten wirtschaftlichen Vorteil. Dementsprechend hat bereits der 7. Senat des BSG (SozR 1300 § 48 Nr. 26) entschieden, daß sich das Aufhebungsrecht für die Vergangenheit im Rahmen des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X auf die Höhe der nachträglich bewilligten Leistung beschränke, wenn die wegfallende Leistung höher sei als diejenige, die den Wegfall bewirke. Ein anderes Ergebnis wäre unbillig und mit dem vom Vertrauensschutz geprägten Grundgedanken des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X nicht zu vereinbaren. Im Wortlaut des Gesetzes komme dies in dem Satzteil zum Ausdruck, wo es heiße, daß der Verwaltungsakt nur aufgehoben werden solle, „soweit” Einkommen oder Vermögen erzielt wurde. Dieser Auffassung schließt sich der erkennende Senat an. Die im Rahmen dieser Regelung erleichterte Aufhebung von Verwaltungsakten mit Wirkung für die Vergangenheit ist nur in dem Umfang als sachgerecht anzusehen, als sie die „Abschöpfung” eines unzulässigen Doppelbezuges ermöglicht.

Im vorliegenden Fall bedarf es jedoch noch der Erörterung, ob als Leistung, die zum Wegfall des Anspruchs geführt hat, das gesamte Bruttoarbeitsentgelt anzusehen ist oder lediglich der Teil, der die Hinzuverdienstgrenze überschritten hat. Berücksichtigt man, daß der Versicherte das Arbeitsentgelt bis zur Hinzuverdienstgrenze neben der Rente erzielen durfte, ohne daß dies Einfluß auf die Rente hatte, erscheint hier die Folgerung sachgerecht, daß nur der die Verdienstgrenze übersteigende Teil als Verdienst anzusehen ist, der zum Wegfall des Rentenanspruchs geführt hat. Lediglich die rechtliche Auswirkung dieses Mehrverdienstes geht weiter, indem materiell nicht nur ein Teil des Rentenanspruchs entfällt, sondern der Anspruch insgesamt für den betreffenden Zeitraum. Wirtschaftlich – und darauf kommt es bei § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X an – hat der Kläger aber nur einen Betrag in Höhe des Mehrverdienstes doppelt (nämlich als Rente und als Arbeitsentgelt) erhalten, weil Einkünfte aus Beschäftigung oder Erwerbstätigkeit in Höhe von bis zu 1.000,00 DM neben dem ARG unschädlich gewesen wären.

Diese Beschränkung des Wirkungsbereichs von § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X bedeutet jedoch nicht, daß die Aufhebung des Rentenbescheides in dem von der Beklagten ausgesprochenen Umfang nicht aus anderen Gründen gerechtfertigt sein könnte. Es muß darüber hinaus geprüft werden, ob die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nrn 2 oder 4 SGB X vorliegen. Dafür fehlen bisher im Hinblick darauf, daß das LSG einen anderen Weg gegangen ist, die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen. Diese müssen noch nachgeholt werden.

Sowohl zu § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X als auch zu Nrn 2 und 4 dieser Vorschrift muß außerdem untersucht werden, ob ein sogenannter atypischer Fall vorliegt, der die Beklagte hätte veranlassen müssen, bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen noch nach pflichtgemäßem Ermessen darüber zu entscheiden, ob wegen der besonderen Lage des Falles ganz oder teilweise von einer rückwirkenden Aufhebung des Rentenbescheides abzusehen war. Nach § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X „soll” der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Veränderung der Verhältnisse aufgehoben werden, wenn die Voraussetzungen der Nrn 1 bis 4 vorliegen. Das bedeutet, daß die Behörde im Regelfall den Verwaltungsakt aufzuheben, in sogenannten „atypischen Fällen” aber vorher ein Ermessen auszuüben hat (st Rspr vgl ua BSG SozR 3–1300 § 48 Nr. 3; SozR 3–4100 § 115 Nr. 1; SozR 3–4100 § 103 Nr. 47 jeweils mwN). Das hat das LSG auch nicht verkannt.

Seinen Ausführungen hierzu vermag der erkennende Senat jedoch nicht uneingeschränkt zu folgen. Das LSG hat – bezogen auf § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X – ausgeführt, daß Versäumnisse des Arbeitnehmers bei der Kontrolle seiner Lohnabrechnung keinen Härtefall darstellten. Dem kann im Grundsatz zugestimmt werden. Das LSG fährt dann aber fort, daß ein Vertrauen des Klägers in die korrekte Abwicklung durch den Arbeitgeber auch keinen Härtefall begründen könne. Der Kläger müsse sich bei diesem schadlos halten und könne die Folgen seines Vertrauens nicht auf die Beklagte abwälzen.

Diese Überlegungen knüpfen an die Rechtsprechung des BSG an, daß bei der Anwendung von § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X ein Härtefall anzunehmen ist, wenn der Betroffene das zum Ruhen der Sozialleistung führende Einkommen gutgläubig verbraucht hat und dies nicht mehr rückgängig zu machen ist (SozR 1300 § 48 Nr. 22 S 57f; a.a.O. Nr. 53); denn dann muß der Leistungsempfänger die Rückzahlung aus seinen laufenden Bezügen erbringen, was zu Härten führen könnte, die im Rahmen des Ermessens berücksichtigt werden müßten (zur Begründung eines atypischen Falles durch Verwaltungsfehler s auch BSG SozR 1300 § 48 Nr. 25).

Den Begründungen der eben zitierten Urteile kann nicht entnommen werden, daß es dem BSG auf die Ursachen des gutgläubigen irreversiblen Verbrauchs ankam. Als maßgeblich wurde vielmehr die Situation angesehen, daß in Fällen, in denen ein Berechtigter – uU erhebliche – Rückzahlungen aus seinem laufenden Einkommen vornehmen muß, Ermessenserwägungen notwendig sind, um unzumutbare Belastungen zu vermeiden. Die Rechtfertigung hierfür liegt darin, daß die Sozialleistungsträger eine besondere Verantwortung für eine angemessene Sicherung des Lebensunterhalts der Versicherten haben und dies ihnen nicht erlaubt, ihre Erstattungsansprüche ohne Rücksicht auf die Folgen für den einzelnen durchzusetzen, wie dies einem sonstigen Dritten im Bereich des Zivilrechts möglicherweise zugebilligt würde (sehr deutlich in anderem Zusammenhang BSG SozR 2100 § 76 Nr. 2). Es kommt also hier nicht darauf an, wodurch der gute Glaube des Klägers verursacht wurde, sondern nur darauf, ob er die doppelte Zahlung in gutem Glauben verbraucht hat und sich nun in einer ihn besonders hart treffenden Situation befindet.

Auch in den Fällen, in denen ein Arbeitnehmer von seinem Arbeitgeber nicht zutreffend unterrichtet wurde, kann dementsprechend ein atypischer Fall angenommen werden, wenn der Betroffene im guten Glauben gehandelt hat und der Verbrauch der gezahlten Beträge nicht mehr rückgängig zu machen ist. Guter Glaube liegt nicht vor, wenn dem Versicherten bekannt oder infolge grober Fahrlässigkeit unbekannt war, daß ihm die Leistung nicht zustand (vgl § 932 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches ≪BGB≫). Dafür sind die Umstände des Einzelfalles maßgeblich. Insoweit sind noch genauere Feststellungen durch das LSG erforderlich. Hinsichtlich des vom Kläger erzielten die Einkommensgrenze von 1.000,00 DM übersteigenden Mehrverdienstes liegt ein guter Glaube des Klägers allerdings fern. Folgerichtig hat der Kläger auch selbst schon die Rückzahlung eines Betrages von 889,76 DM angeboten.

Da das LSG die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nrn 2 und 4 SGB X bisher aufgrund seiner Auffassung nicht zu prüfen brauchte, hatte es auch keine Veranlassung, dazu Stellung zu nehmen, ob und unter welchen Voraussetzungen in diesem Rahmen ein atypischer Fall angenommen werden kann. Hierzu ist darauf hinzuweisen, daß die Rechtsprechung des BSG in diesem Bereich einen atypischen Fall angenommen hat, wenn das Einkommen des Klägers bei der rückwirkenden Aufhebung des Rentenbescheides im nachhinein unter den Sozialhilfesatz sinken würde. Die Härte liegt in diesem Fall darin, daß er die Sozialhilfeansprüche, die ihm bei rechtzeitiger Klärung zugestanden hätten, für die Vergangenheit nicht mehr geltend machen kann (BSG SozR 1300 § 50 Nr. 6; SozR 1500 § 154 Nr. 8; SozR 3–1300 § 45 Nr. 10). Diese Entscheidungen sind zwar zu § 50 SGB X ergangen. Sie lassen aber deutlich werden, daß dieser Gesichtspunkt auch im Rahmen der §§ 45, 48 SGB X zu berücksichtigen ist. Ansonsten begründen zwar Einkommens- und Vermögenslosigkeit nicht ohne weiteres einen atypischen Fall, weil diese Gesichtspunkte typischerweise erst im Rahmen des Ermessens zu berücksichtigen wären (BSG SozR 5870 § 2 Nr. 30; BSG Urteil vom 26. November 1986 – 7 RAr 65/85 –, NZA 1987, 467). Bei der Frage der Sozialhilfebedürftigkeit in dem Zeitraum, für den der Bewilligungsbescheid aufgehoben wird, geht es jedoch nicht um die Fähigkeit, den Betrag, der zurückzuzahlen ist, gegenwärtig und/oder in Zukunft aufbringen zu können, sondern um den zusätzlichen Schaden, der dem Versicherten dadurch entsteht, daß ihm Sozialhilfeansprüche entgangen sind, die ihm zugestanden hätten, wenn die Rente ihm damals nicht zugeflossen wäre. Entsprechendes gilt für höheren Verdienst, den er evtl. zum Ausgleich der weggefallenen Rentenzahlung hätte erzielen können, wenn er sich nicht an die Zuverdienstgrenze gebunden gefühlt hätte. Eine solche Situation ist nach den bisherigen Feststellungen nicht ausgeschlossen, weil der Kläger bei vollständigem Wegfall der Rente offenbar allein auf seinen Arbeitsverdienst von etwas über 1.000,00 DM angewiesen gewesen wäre. Zumindest für einen Teilbetrag könnte sich insoweit ein atypischer Fall ergeben. Die dazu erforderlichen Feststellungen muß das LSG noch treffen.

Der Kläger meint allerdings, das Vorliegen eines atypischen Falles auch mit dem Mißverhältnis zwischen Mehrverdienst und Rentenhöhe begründen zu können. Insoweit ist jedoch dem LSG zu folgen, daß erstens eine erhebliche Überschreitung vorliegt, die nicht vernachlässigt werden kann, und daß im übrigen Festbetragsregelungen typischerweise auch bei geringfügigen Überschreitungen zum Fortfall der Rente führen. Eine andere Beurteilung würde – wie das LSG zu Recht hervorhebt – auch dazu führen, daß dann die Aufhebung und Rückforderung nicht mehr nur vom Umfang der Überschreitung, sondern auch von der Höhe der Rente abhängig gemacht würde. Dies entspräche nicht dem Gesetz.

Hingegen hatte die Beklagte nicht schon bei Aufhebung des Bescheides oder bei Rückforderung der Überzahlung über einen möglichen Erlaß des Erstattungsbetrages zu entscheiden oder auch nur die Grundgedanken von § 42 Abs. 3 Nr. 3 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch (SGB I), § 76 Abs. 2 Nr. 3 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IV) und § 59 Abs. 1 Nr. 3 der Bundeshaushaltsordnung (BHO) bei der Entscheidung zu berücksichtigen. Allerdings haben mehrere Senate des BSG bei Rückforderung einer sogenannten Urteilsrente nach § 50 SGB X die Berücksichtigung von Härten in entsprechender Anwendung von § 42 Abs. 3 Nr. 3 SGB I und die gleichzeitige Entscheidung über diese Fragen für erforderlich gehalten (SozR 1300 § 50 Nr. 6; SozR 1500 § 154 Nr. 8; SozR 3–1300 § 45 Nr. 10). Der 4. Senat des BSG hat jedoch in einer anderen Entscheidung klargestellt, daß der Leistungsträger im übrigen nicht verpflichtet ist, bei Geltendmachung des Erstattungsanspruchs zugleich über Stundung oder Erlaß nach § 42 Abs. 3 SGB I zu entscheiden (SozR 1200 § 42 Nr. 4). Dem ist beizupflichten.

§ 42 Abs. 3 Nr. 3 SGB I, § 76 Abs. 2 Nr. 3 SGB IV und § 59 Abs. 1 Nr. 3 BHO sind Regelungen, die dem Bereich des Beitreibungsverfahrens zuzuordnen sind. Die Voraussetzungen von Stundung oder Erlaß können bei der Entscheidung über Aufhebung und Rückforderung vorliegen, später aber durchaus entfallen. Dem Versicherungsträger muß es unbenommen bleiben, auf solche Veränderungen zu reagieren oder diese abzuwarten. Lediglich dann, wenn von vornherein unzweifelhaft ist, daß im Beitreibungsverfahren ein Erlaß auszusprechen wäre, könnte erwogen werden, diese Situation – aus verfahrensökonomischen Gründen – schon bei der Entscheidung über die Aufhebung des Verwaltungsakts und über die Rückforderung zu berücksichtigen. Der vorliegende Fall bietet indes keine Veranlassung, hierauf näher einzugehen, da bisher für eine „Härte” im Sinne der genannten Vorschriften kein Anhalt besteht. Der Härtebegriff ist nämlich dort nicht gleichzusetzen mit dem Begriff der Härte, wie er vom BSG im Zusammenhang mit § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X herausgearbeitet worden ist. Im Rahmen der letztgenannten Vorschrift führt eine Härte dazu, daß Ermessen auszuüben ist. Eine Härte im Sinne der Vorschriften über das Beitreibungsverfahren liegt indes erst dann vor, wenn die Durchsetzung des Anspruchs den Verpflichteten so hart trifft, daß der Versicherungsträger den Erlaß aussprechen muß, ihm also gerade kein Ermessen mehr zusteht.

Wegen der nach den obigen Ausführungen im übrigen aber noch erforderlichen Feststellungen muß die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden. Dieses hat auch über die Kosten des Verfahrens zu entscheiden.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1049496

Breith. 1995, 997

SozSi 1997, 111

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