Entscheidungsstichwort (Thema)

Lehrzeit ohne Beitragsentrichtung. Ausfallzeit. authentische Interpretation

 

Leitsatz (amtlich)

Eine vom August 1945 bis Juni 1948 im elterlichen Betrieb in Bayern zurückgelegte Lehrzeit ohne Entlohnung, für die eine Beitragsentrichtung nach den Art 1 und 3 SVVereinfV 1 aufgrund einer staatlichen Entschließung nicht erfolgen konnte, ist bei den noch nach den Vorschriften der RVO berechneten Renten im Wege der authentischen Interpretation des § 1259 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst a RVO als Ausfallzeit zu berücksichtigen (Abweichung von BSGE 3, 161, 171 = SozR Nr 1 zu Art 19 1. VereinfachungsVO; BSGE 52, 1, 5 = SozR 2200 § 1259 Nr 50; Abgrenzung zu BSG SozR 3-2200 § 1259 Nr 14).

 

Normenkette

SVVereinfV 1 Art. 1, 3, 25; RVO § 1259 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 Buchst. a; SGB VI § 247 Abs. 2a

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Urteil vom 31.03.1992; Aktenzeichen L 5 Ar 65/89)

SG Nürnberg (Urteil vom 20.12.1988; Aktenzeichen S 3 Ar 470/86)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 31. März 1992 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger dessen außergerichtliche Kosten auch für das Revisionsverfahren zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Streitig ist, ob die Beklagte die Lehrzeit des Klägers im elterlichen Betrieb bei der Rentenberechnung zu berücksichtigen hat.

Der im Jahr 1929 geborene Kläger machte im Rahmen eines Kontenklärungs- und Rentenauskunftsverfahrens geltend, er habe im elterlichen Betrieb, der in der ehemaligen Gemeinde D.… (jetzt Th.…) im Kreis G.…/Bayern lag, von August 1945 bis Juni 1948 eine Zimmererlehre ohne Entlohnung absolviert. Mit Bescheid vom 28. Februar 1986 lehnte die Beklagte die Anerkennung der streitigen Zeit als Beitragszeit ab. Der auf die Anerkennung der Lehrzeit als Ausfallzeit nach § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst a der Reichsversicherungsordnung (RVO) gerichtete Widerspruch wurde von der Beklagten durch Widerspruchsbescheid vom 27. Juni 1986 mit der Begründung zurückgewiesen, es habe keine nicht versicherungspflichtige oder versicherungsfreie Lehrzeit vorgelegen. Diese nach der genannten Vorschrift alternativ erforderlichen Voraussetzungen könnten für Zeiten ab Inkrafttreten der Ersten Verordnung zur Vereinfachung des Leistungs- und Beitragsrechts in der Sozialversicherung (Vereinfachungs-VO) vom 17. März 1945 (RGBl I 41), nämlich ab 1. Juni 1945, nicht mehr als gegeben angenommen werden, weil ab diesem Zeitpunkt alle Lehrverhältnisse ohne Rücksicht auf eine evtl Entgeltgewährung versicherungspflichtig gewesen seien, sofern – was im Falle des Klägers aufgrund seiner Angaben und des vorgelegten Gesellenprüfungszeugnisses zu bejahen sei – ein echtes Beschäftigungsverhältnis vorgelegen habe.

Mit seiner Klage hat der Kläger geltend gemacht, in Bayern sei die Vereinfachungs-VO auf Anordnung der Aufsichtsbehörden nicht angewandt worden. Auf Anfrage des Sozialgerichts (SG) teilte die Verwaltungsgemeinschaft G.… mit, die ehemalige Gemeinde D.… sei am 22. April 1945 von den US-Streitkräften besetzt worden. Im klageabweisenden Urteil vom 20. Dezember 1988 hat das SG zur Begründung im wesentlichen ausgeführt, die streitige Zeit sei nicht als Ausfallzeit vorzumerken, weil es sich nicht um eine nicht versicherungspflichtige oder versicherungsfreie Lehrzeit gehandelt habe. Die Vereinfachungs-VO sei am Lehrort am 1. Juni 1945 in Kraft getreten, weil dieser zZ ihrer Verkündung noch nicht dauerhaft von feindlichen Truppen besetzt gewesen sei.

Mit Bescheid vom 17. Januar 1989 bewilligte die Beklagte dem Kläger ab 1. April 1988 Berufsunfähigkeitsrente, die mit Bescheid vom 1. Mai 1990 ab 1. Juni 1990 in Altersruhegeld umgewandelt wurde.

Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) die Beklagte unter Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils und des Bescheides vom 28. Februar 1986 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Juni 1986 sowie in Abänderung der Rentenbescheide vom 17. Januar 1989 und 1. Mai 1990 verurteilt, die Lehrzeit des Klägers vom 21. August 1945 bis 4. Juni 1948 als Ausfallzeit bei der Rentenberechnung zu berücksichtigen. Zur Begründung hat das LSG ausgeführt: Entgegen der Ansicht der Beklagten und des SG handele es sich bei der streitigen Lehrzeit um eine Ausfallzeit, für die (ausweislich der vorliegenden Rentenbescheide) auch die sog Halbbelegung erfüllt sei. Anspruchsgrundlage sei § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst a RVO idF des Rentenreformgesetzes (RRG) 1972 vom 16. Oktober 1972 (BGBl I 1965). Der Senat sehe es als erwiesen an, daß der Kläger im elterlichen Betrieb eine versicherungsfreie Lehrzeit in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis absolviert habe. Der in § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst a RVO nicht definierte Begriff der versicherungsfreien Lehrzeit beurteile sich für die streitige Zeit grundsätzlich nach § 1226 Abs 1 Nr 1 RVO iVm § 165 Abs 2 RVO, jeweils idF der Vereinfachungs-VO. Nach diesen gemäß der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) spätestens am 7. September 1949 im gesamten Bundesgebiet wirksam gewordenen Vorschriften sei für alle Lehrlinge die Versicherungspflicht unabhängig davon eingeführt worden, ob sie gegen Entgelt beschäftigt gewesen seien oder nicht. Die neue Regelung der Versicherungspflicht durch die Vereinfachungs-VO könne aber dann nicht gelten, wenn sie von den zuständigen Einzugsstellen nicht angewandt worden sei, sondern weiterhin die §§ 1226 Abs 1 Nr 4 und Abs 2, 1227 RVO jeweils in der Bekanntmachung vom 15. Dezember 1924 (RGBl I 779), zur Anwendung gekommen seien, wonach Lehrlinge, die – wie der Kläger – nur freien Unterhalt erhielten, versicherungsfrei gewesen seien. Die nachgeordneten Versicherungsträger seien nämlich vom Bayerischen Staatsministerium für Arbeit und soziale Fürsorge in der mit Rundschreiben bekanntgemachten Entschließung vom 10. September 1945 ohne nähere Begründung angewiesen worden, die Vereinfachungs-VO in Bayern nicht anzuwenden. Daß der Begriff der versicherungsfreien Lehrzeit erweiternd auf die Fälle der vorliegenden Art anzuwenden sei, bedeute nicht, daß jede Lehrzeit, für die nach Inkrafttreten der Vereinfachungs-VO schuldlos keine Beiträge entrichtet worden seien, als Ausfallzeit anzuerkennen sei. Dies sei nur auf die Fälle zu beschränken, in denen die gesetzlich festgelegte Versicherungspflicht faktisch von den Einzugsstellen nicht realisiert worden sei. Ob Versicherungspflicht bestehe oder nicht, beurteile sich nämlich nach dem zZ der streitigen Ausbildung geltenden Recht. Mit diesem Grundsatz sei es nicht vereinbar, wenn ein versicherungsrechtlicher Sachverhalt im nachhinein so behandelt werde, wie er hätte behandelt werden müssen, tatsächlich aufgrund der faktischen Verhältnisse aber nicht behandelt worden sei und insoweit für die Betroffenen auch keine Möglichkeit bestanden habe, die nur theoretisch bestehende Rechtslage durchzusetzen. Diese erweiternde – auf die Fälle der vorliegenden Art beschränkte – Auslegung des § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst a RVO entspreche eindeutig dem Willen des Gesetzgebers, dem insbesondere im Bereich der sog darreichenden Verwaltung, zu dem die gesetzliche Rentenversicherung zähle, besondere Bedeutung zukomme. Der entsprechende Wille des Gesetzgebers ergebe sich aus der Entwicklungsgeschichte des mit dem Rentenversicherungs-Änderungsgesetz (RVÄndG) vom 19. Juni 1965 (BGBl I 476) eingeführten Ausfallzeittatbestandes der Lehrzeit. Dieser Tatbestand sei auf Anregung des Bundesrates eingefügt worden, weil in vielen Fällen nach dem Recht, das vor März 1957 gegolten habe, für Lehrlingszeiten keine Versicherungspflicht bestanden habe. Durch die endgültige Fassung des § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 4 RVO sei eine Klarstellung beabsichtigt gewesen, weil Lehrverhältnisse ohne Entgelt nicht versicherungspflichtig und solche ohne Barlohn, aber mit Kost und Logis, versicherungsfrei gewesen seien. Die Ansicht der Beklagten, Lehrlinge seien in der streitigen Zeit auch ohne Entgelt generell versicherungspflichtig gewesen, widerspreche daher dem eindeutigen Willen des Gesetzgebers. Es sei nämlich nicht ersichtlich, welche Lehrlinge nach dem Inkrafttreten der Vereinfachungs-VO bis zum 28. Februar 1957 nicht versicherungspflichtig bzw versicherungsfrei gewesen sein sollen, wovon der Gesetzgeber nach seinem erklärten Willen aber ausgegangen sei. Es müsse daher angenommen werden, daß der Gesetzgeber die Rechtslage, wie sie von der Rechtsprechung behandelt worden sei, durch das RVÄndG – zumindest für Fälle der vorliegenden Art – habe ändern wollen. Der Senat sehe sich in seiner Ansicht durch die mit Wirkung vom 1. Januar 1992 erfolgte Neuregelung des Rentenrechts durch das RRG 1992 bestätigt. Gemäß § 252 Abs 1 Nr 3 Sozialgesetzbuch – Sechstes Buch – (SGB VI) seien Anrechnungszeiten (bisher Ausfallzeiten) Zeiten, in denen Versicherte ua versicherungsfrei gewesen seien. Darin, daß § 252 Abs 1 Nr 3 SGB VI auf Zeiten längstens bis zum 28. Februar 1957 abstelle, sei in bezug auf vor diesem Zeitpunkt zurückgelegte Lehrzeiten eine sog authentische Interpretation des Gesetzgebers mit einem klarstellenden Charakter zu sehen. Denn die Vorschrift solle nach der Begründung des Gesetzentwurfs zum RRG 1992 dem bisherigen Recht entsprechen. Durch die Vorschrift werde jetzt klargestellt, daß auch nach dem 11. April 1945 bzw 7. September 1949 und vor dem 28. Februar 1957 liegende Zeiten als Anrechnungszeiten in Betracht kämen. Diese Verdeutlichung sei im Hinblick auf die Rechtsprechung des BSG angezeigt gewesen. Wenn es der Wille des Gesetzgebers gewesen wäre, sich die bisherige Rechtsprechung des BSG zu eigen zu machen, hätte er statt auf den 28. Februar 1957 auf den 11. April 1945 (Tag der Verkündung der Vereinfachungs-VO) bzw auf den 7. September 1949 (Tag des Zusammentritts des Bundestages) abstellen müssen. Dies werde auch dadurch bestätigt, daß in § 207 Abs 1 SGB VI die Möglichkeit der Nachzahlung von freiwilligen Beiträgen für Ausbildungszeiten, die nicht als Anrechnungszeiten (= Ausfallzeiten) berücksichtigt werden können, auf nach dem 16. Lebensjahr liegende Zeiten eines Schul-, Fachschul- oder Hochschulbesuchs beschränkt sei. Zwar beziehe sich diese Regelung auf die Begrenzung der Ausbildungs-Anrechnungszeiten auf höchstens sieben Jahre nach § 58 Abs 1 Satz 1 Nr 4 SGB VI. Es hätte jedoch nahegelegen, eine entsprechende Nachzahlungsregelung auch für nicht anrechenbare Lehrzeiten einzuführen, weil diese ebenfalls zu erheblichen Versorgungslücken führten, die sich insbesondere bei der neuen Gesamtleistungsbewertung für beitragsfreie Zeiten und beitragsgeminderte Zeiten durch Lücken im Versicherungsverlauf ergäben. Daß der Gesetzgeber für Versicherte, deren Lehrzeit nach der Rechtsprechung des BSG weder als Anrechnungszeit noch wegen der tatsächlichen Handhabung und Durchführung der Versicherungspflicht in der streitigen Zeit als Beitragszeit anrechenbar sei, bewußt auf die Schaffung einer speziellen Nachzahlungsregelung verzichtet habe, spreche dafür, daß die rentenrechtliche Absicherung dieser Lehrlinge nach dem Willen des Gesetzgebers iS einer authentischen Interpretation durch die Anrechnung einer Anrechnungszeit habe gesichert werden sollen. Zum anderen habe der Senat erhebliche Bedenken, ob die gegenteilige Auslegung mit dem in Art 3 Abs 1 des Grundgesetzes (GG) statuierten Gleichheitsgrundsatz vereinbar sei. Unter Berücksichtigung dieses Grundsatzes führe die Ansicht der Beklagten zu einer Ungleichbehandlung des Personenkreises, zu dem der Kläger gehöre, im Verhältnis zu Versicherten, denen eine Ausfallzeit der Lehre nur deshalb angerechnet werde, weil der Ort, an dem sie ihre Lehrzeit absolviert hätten, zZ der Verkündung der Vereinfachungs-VO bereits von alliierten Truppen besetzt gewesen sei. Dieses zZ der Absolvierung der Lehre bereits in der Vergangenheit liegende Abgrenzungskriterium habe keinerlei aktuellen Bezug zur Lehre mehr. Ob die Lehrzeit als Ausfallzeit anrechenbar sei oder nicht, hänge vielmehr von dem gegen Kriegsende mehr oder weniger zufälligen Frontverlauf, nicht hingegen von einem zZ der Absolvierung der Lehre gegenwärtigen oder beeinflußbaren Kriterium ab, obwohl der zugrundeliegende Sachverhalt – die Lehrzeit – für beide Personenkreise identisch gewesen sei. Diese durch eine sachliche Differenzierung nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung nach dem Beschäftigungsort werde zudem in der Gegenwart dadurch fortgeschrieben, daß die Anrechnung einer Lehrzeit als Ausfallzeit nicht nur von dem zufälligen Frontverlauf in der Vergangenheit, sondern im nachhinein auch davon abhängig sei, an welchem Ort in der Bundesrepublik der Versicherte zZ der Rentenantragstellung zufällig seinen Wohnsitz bzw ständigen Aufenthaltsort habe. Denn aufgrund der aufgezeigten unterschiedlichen Verwaltungspraxis der Rentenversicherungsträger, insbesondere der in Bayern allein von der Beklagten vertretenen Ansicht, sei die Anrechnung davon abhängig, welcher Rentenversicherungsträger zuständig sei. Die gegenteilige Ansicht laufe im Ergebnis auf eine Anwendung des § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 4 RVO auf einen Sachverhalt hinaus, den der Gesetzgeber offensichtlich anders habe regeln wollen. Da dem Gesetzgeber aber gerade im Bereich der sog darreichenden Verwaltung eine weitgehende Gestaltungsfreiheit eingeräumt sei, komme seinem Willen bei der Auslegung von sozialrechtlichen Vorschriften eine besondere Bedeutung zu (Urteil vom 31. März 1992).

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst a RVO durch das Berufungsgericht.

Die Beklagte beantragt sinngemäß,

das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 31. März 1992 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 20. Dezember 1988 zurückzuweisen sowie die Klage gegen die Bescheide der Beklagten vom 17. Januar 1989 und 1. Mai 1990 abzuweisen.

Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht durch einen Prozeßbevollmächtigten vertreten.

 

Entscheidungsgründe

II

Die durch Zulassung statthafte Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Das LSG hat zu Recht entschieden, daß die Lehrzeit des Klägers vom 21. August 1945 bis 4. Juni 1948 als Ausfallzeit iS des § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst a RVO in der Fassung des RRG 1972 bei der Rentenberechnung in den Rentenbescheiden vom 17. Januar 1989 und 1. Mai 1990, die gemäß den §§ 96, 153 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden sind, zu berücksichtigen ist. Zutreffend ist das Berufungsgericht dabei davon ausgegangen, daß diese Vorschrift trotz des mit Wirkung vom 1. Januar 1992 in Kraft getretenen SGB VI weiterhin als Anspruchsgrundlage in Betracht kommt, weil der Anspruch im vorliegenden Fall bis zum 31. März 1992 geltend gemacht worden ist (vgl § 300 Abs 2 SGB VI).

Aufgrund der von der Beklagten im Revisionsverfahren nicht gerügten und damit für den erkennenden Senat gemäß § 163 SGG bindenden Tatsachenfeststellungen des LSG ist davon auszugehen, daß der Kläger während seiner Lehrzeit in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis stand und in diesem Zeitraum die die Versicherungspflicht für Lehrlinge einführende Vereinfachungs-VO aufgrund einer Entschließung des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und soziale Fürsorge vom 10. September 1945 in Bayern – und damit auch am Wohnort des Klägers – nicht angewandt worden ist. Bei dieser Sachlage stimmt der erkennende Senat der Rechtsauffassung des LSG zu, daß für den streitigen Zeitraum im Wege einer sog authentischen. Interpretation des Gesetzgebers eine versicherungsfreie Lehrzeit iS des § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 4a RVO zu bejahen ist, die – da die sog Halbbelegung vom LSG rechtsfehlerfrei festgestellt wurde – rentensteigernd zu berucksichtigen ist. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob die Vereinfachungs-VO am Lehrort des Klägers zum vorgesehenen Termin am 1. Juni 1945 (Art 25 Abs 1 Vereinfachungs-VO) und damit schon vor Beginn der Lehrzeit unabhängig von dem genannten Anwendungsverbot in Kraft getreten war (vgl hierzu BSGE 52, 1, 5 = SozR 2200 § 1259 Nr 50).

Das BSG hat bereits mehrfach entschieden, daß im Wege einer authentischen Interpretation eine Änderung des Gesetzestextes auch insofern eine “Rückwirkung” entfalten kann, als der Gesetzgeber durch eine Klarstellung – also durch eine eigene nachträgliche Interpretation seiner selbst – anordnen kann, wie die schon bisher bestehenden gesetzlichen Bestimmungen von Anfang an zu verstehen waren (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 11. Juli 1985 in BSGE 58, 243, 246 mwN). Es kann offen bleiben, ob – entsprechend den Ausführungen des LSG – ein derartiger Wille des Gesetzgebers, in Fällen der vorliegenden Art § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst a RVO erweiternd auszulegen, bereits aus der Entwicklungsgeschichte des mit dem RVÄndG eingeführten Ausfallzeittatbestandes der Lehrzeit bis zur Regelung der anstelle der Ausfallzeiten getretenen Anrechnungszeiten in § 252 Abs 1 Nr 3 SGB VI entnommen werden kann. Eine diesbezügliche authentische Interpretation des Gesetzgebers ist jedenfalls nunmehr aufgrund des § 247 Abs 2a SGB VI idF des Rentenüberleitungs-Ergänzungsgesetzes (Rü-ErgG) vom 24. Juni 1993 (BGBl I 1038) zu bejahen. Nach dieser Vorschrift sind Pflichtbeitragszeiten aufgrund einer versicherungspflichtigen Beschäftigung auch Zeiten, in denen vom 1. Juni 1945 bis 30. Juni 1965 Personen – ua – als Lehrling beschäftigt waren und grundsätzlich Versicherungspflicht bestand, eine Zahlung von Pflichtbeiträgen für diese Zeiten jedoch – wie im Falle des Klägers – nicht erfolgte.

Allerdings gilt die durch das Rü-ErgG mit Wirkung vom 1. Januar 1992 eingefügte Vorschrift des § 247 Abs 2a SGB VI – wie sich auch aus Art 16 Abs 5 Rü-ErgG ergibt – nur für die nach dem SGB VI berechneten Renten. Die dem Kläger gewährten Renten sind indes aufgrund des § 300 Abs 2 SGB VI nach den Bestimmungen der RVO berechnet worden, und sie sind, da sie von der Regelung des § 307 SGB VI erfaßt werden, nicht nach den Vorschriften des SGB VI neu zu berechnen (vgl hierzu Niesel im Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, Randbemerkungen 5 vor § 300 SGB VI und 2 zu § 307 SGB VI).

Gleichwohl wird durch die Neuregelung in § 247 Abs 2a SGB VI und durch die hierfür gegebene Gesetzesbegründung der eindeutige Wille des Gesetzgebers erkennbar, auch bei den noch nach den Vorschriften der RVO berechneten Renten die in der Zeit vom 1. Juni 1945 bis zum 30. Juni 1965 als Lehrling ohne Beitragsleistung zurückgelegten Beschäftigungszeiten rentensteigernd zu berücksichtigen. In der Gesetzesbegründung zu Nummer 6a (BT-Drucks 12/5017, S. 47/48) heißt es insoweit:

“Grundsätzlich bestand seit Inkrafttreten der Vereinfachungsverordnung vom 17. März 1945 und im übrigen seit der Rentenreform 1957 für Personen, die als Lehrling oder sonst zu ihrer Berufsausbildung beschäftigt waren, Versicherungspflicht. Bis zum Inkrafttreten des 1. Rentenversicherungsänderungsgesetzes am 1. Juli 1965 sind dennoch nicht für alle in Berufsausbildung befindlichen Personen die erforderlichen Pflichtbeiträge durch die zuständigen Sozialversicherungsträger eingezogen worden. Erst durch die Rechtsprechung wurde klargestellt, daß zB Versicherungspflicht auch für Lehrlinge in staatlich anerkannten Lehrwerkstätten eines Erziehungsheimes, für Behinderte, soweit sie eine Lehrzeit zurückgelegt haben, und für sonst zu ihrer Berufsausbildung beschäftigte Vor- und Nachpraktikanten bestand und daß Beiträge einzuziehen waren.

Die dadurch in der Versicherungsbiographie entstandenen Lücken, die bis zum Inkrafttreten des Rentenreformgesetzes 1992 durch die Träger der Rentenversicherung entweder überhaupt nicht als rentenrechtliche Zeit berücksichtigt werden konnten (vgl BSG-Urteil vom 3. Dezember 1992 13 RJ 73/91) oder nur im Wege der ergänzenden Rechtsauslegung als beitragsfreie Zeiten anerkannt worden sind, sollen durch fiktive Beitragszeiten geschlossen werden.”

Diese Gesetzesbegründung enthält eindeutig eine rückwirkende Klarstellung dahin, daß die Anerkennung der Lehrzeit als beitragsfreie Zeit im Wege der ergänzenden Rechtsauslegung auch für die Vergangenheit zu billigen ist; denn der Gesetzgeber will ausdrücklich die bis zum Inkrafttreten des RRG 1992 entstandenen Lücken in der Versicherungsbiographie beseitigen. Da die vom Gesetzgeber somit rückwirkend gebilligte Anerkennung bei den nach der RVO berechneten Renten nur als – beitragsfreie – Ausfallzeit erfolgen konnte, beinhaltet die zitierte Gesetzesbegründung eine authentische Interpretation des § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst a RVO im aufgezeigten Sinne.

Die vom Gesetzgeber mißbilligten Lücken in der Versicherungsbiographie beruhen auf einer unterschiedlichen Anwendung der die Versicherungspflicht einführenden und damit die Anerkennung einer versicherungsfreien Ausfallzeit ausschließenden Vereinfachungs-VO vom 17. März 1945 durch die höchstrichterliche Rechtsprechung einerseits und durch die meisten Versicherungsträger andererseits. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG sind die eine Versicherungspflicht der Lehrzeit begründenden Art 1 und 3 Vereinfachungs-VO spätestens am 7. September 1949 wirksam geworden (vgl zuletzt Urteil des 13. Senats vom 3. Dezember 1992 – 13 RJ 73/91 – in SozR 3-2200 § 1259 Nr 14 mwN). Für die Zeit davor hängt die Wirksamkeit davon ab, ob im Zeitpunkt der Verkündung der Vereinfachungs-VO am 11. April 1945 im Reichsgesetzblatt, Teil I Nr 10, das alte deutsche Reich seine Gesetzgebungshoheit noch behalten oder infolge der Besetzung durch die alliierten Truppen bereits verloren hatte. Nach der Entscheidung des 11. Senats des BSG vom 30. April 1981 (BSGE 52, 1, 5 = SozR 2200 § 1259 Nr 50) soll deshalb die Vereinfachungs-VO nur in Kraft getreten sein, wenn am 11. April 1945 der Wohnort des jeweiligen Versicherten “noch nicht dauerhaft von feindlichen Truppen besetzt” war. Zu Recht hat das LSG darauf hingewiesen, daß damit die Anrechenbarkeit der Lehrzeit als Ausfallzeit von dem gegen Kriegsende mehr oder weniger zufälligen Frontverlauf abhängt und dies zwangsläufig zu einer in der Sache nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung des gleichen Personenkreises führt. Im Gegensatz zu dieser Rechtsprechung trat die Vereinfachungs-VO im Bundesgebiet – mit Ausnahme der früheren britischen Zone und der früheren Nordrheinprovinz – “in der Verwaltungspraxis” erst ab “etwa Oktober 1956” in Kraft (so Amtl Mitteilungen der Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz 1971, S 310, 324). Damit im Einklang stehen die von der Beklagten nicht angegriffenen und deshalb für das Revisionsgericht gemäß § 163 SGG bindenden Feststellungen des LSG, wonach mit Ausnahme der Beklagten die übrigen – vier – bayerischen Landesversicherungsanstalten die restriktive Auslegung der Ausfallzeitenregelung auf bis zum 28. Februar 1957 zurückgelegte Lehrzeiten nicht anwenden, was eine weitere unterschiedliche Bewertung der bis dahin zurückgelegten Lehrzeiten zur Folge hat. Diese wird noch dadurch verschärft, daß nach der Entscheidung des 13. Senats des BSG vom 3. Dezember 1992 aaO – im Anschluß an BSGE 3, 161, 171; 52, 1, 5 – die Anerkennung einer Lehrzeit als Ausfallzeit nach § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst a RVO auch dann ausgeschlossen sein soll, wenn derartige Beschäftigungsverhältnisse in weiten Teilen des Bundesgebietes von den zuständigen Versicherungsträgern als nicht versicherungspflichtig oder als versicherungsfrei behandelt wurden. Dies soll selbst dann gelten, wenn der Versicherte – wie der Kläger – infolge eines staatlichen Anwendungsverbots schuldlos keine Beiträge entsprechend der Vereinfachungs-VO entrichten konnte. Diese rentenrechtliche Nichtberücksichtigung der Lehrzeit in der Vergangenheit durch die höchstrichterliche Rechtsprechung ist in der zitierten Gesetzesbegründung – wie der dortige ausdrückliche Hinweis auf das BSG-Urteil vom 3. Dezember 1992 zeigt – mißbilligt worden. Der Gesetzgeber will vielmehr – was aus seiner Begründung eindeutig zu erkennen ist – die aufgrund der dargelegten unterschiedlichen Anwendung der Vereinfachungs-VO durch Verwaltung und Rechtsprechung eingetretene Rechtsunsicherheit und Rechtsungleichheit rückwirkend beseitigen.

Soweit das vorliegende Urteil von der bisherigen Rechtsprechung des BSG abweicht, bestehen hiergegen verfahrensrechtlich schon deswegen keine Bedenken, weil in den genannten BSG-Entscheidungen die Gesetzesbegründung zum Rü-ErgG, auf die der erkennende Senat seine authentische Interpretation des § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst a RVO stützt, noch nicht berücksichtigt werden konnte. Hinzu kommt, daß der 13. Senat im Urteil vom 3. Dezember 1992 aaO über einen vom hier rechthängigen Fall abweichenden Sachverhalt, nämlich über eine von 1951 bis 1954 zurückgelegte Lehrzeit, zu entscheiden hatte, für die eine Anerkennung als Ausfallzeit schon allein deswegen nicht in Betracht kam, weil der 13. Senat mit der bisherigen Rechtsprechung des BSG davon ausgegangen ist, daß die Art 1 und 3 Vereinfachungs-VO – und damit auch die Versicherungspflicht der dortigen Lehrzeit – spätestens am 7. September 1949 wirksam geworden sind. Auf diese für die Entscheidung des 13. Senats allein rechtserhebliche Frage (vgl insoweit Urteil des 11. Senats vom 16. Juni 1982 in SozR 2200 § 1259 Nr 64 Leitsatz 2) kommt es im vorliegenden Fall gerade nicht an, weil hier die Lehrzeit des Klägers längst vor dem genannten Zeitpunkt beendet war. Wenn sich der 13. Senat gleichwohl ausdrücklich mit dem im vorliegenden Revisionsverfahren anhängigen Urteil des Bayerischen LSG “vom 31. März 1992 ≪L 5 Ar 65/89≫” auseinandersetzt und dessen Rechtsauffassung ablehnt, so handelt es sich dabei lediglich um ein obiter dictum, das eine vom 13. Senat abweichende Entscheidung des zuständigen Revisionssenats nicht hindert. Schließlich kann sich der 13. Senat für seine im Urteil vom 3. Dezember 1992 aaO vertretene Rechtsauffassung auch nicht – wie er meint – auf das Urteil des erkennenden Senats vom 26. Juni 1990 (SozR 3-1500 § 77 Nr 1) berufen. In jenem Urteil war über eine von April 1953 bis Januar 1956 und damit über eine nach dem 7. September 1949 zurückgelegte Lehrzeit zu entscheiden, für die eine Ausfallzeit schon allein deswegen nicht in Betracht kam, weil – wie bereits dargelegt – die nach diesem Zeitpunkt zurückgelegten Lehrzeiten nach der bisherigen Rechtsprechung des BSG regelmäßig versicherungspflichtig sind (vgl BSG-Urteil vom 16. Juni 1982 aaO). Im übrigen konnte der erkennende Senat in seinem Urteil vom 26. Juni 1990 die für seine authentische Interpretation des § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst a RVO maßgebende Gesetzesbegründung zum Rü-ErgG ebenfalls noch nicht berücksichtigen.

Nach alledem mußte der Revision der Beklagten der Erfolg versagt bleiben; sie war zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 112

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