Entscheidungsstichwort (Thema)

Erwerbs- bzw Berufsunfähigkeit. Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen. schwere spezifische Leistungsbehinderung

 

Orientierungssatz

1. Zur Frage, ob im Rahmen der Prüfung des Vorliegens von Erwerbsunfähigkeit ein auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbarer Versicherter mit qualitativen Leistungseinschränkungen - gemessen an den tatsächlichen Anforderungen der Arbeitswelt - noch in erforderlichem Umfang erwerbstätig sein kann und zu den Anforderungen an die gerichtliche Prüfung des Vorliegens einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung (vgl BSG vom 19.8.1997 - 13 RJ 1/94 = SozR 3-2200 § 1247 Nr 23 = BSGE 81, 15-21) - hier: der Versicherte kann noch vollschichtig leichte Arbeiten mit geringen qualitativen Einschränkungen - Arbeiten im Wechsel von Sitzen, Stehen und Gehen, ohne häufiges Bücken, ohne häufiges Klettern oder Steigen, ohne Akkord, ohne Belastung durch Zugluft, Nässe, Kälte und starke Temperaturschwankungen, unter Berücksichtigung seiner Hautkrankheit und seiner Hörminderung - verrichten. Diese Feststellungen lassen nicht erkennen, welche qualitativen Leistungseinschränkungen durch die Hörminderung und die Hautkrankheit bedingt werden. Es reicht auch nicht aus, einzelne, die berufliche Einsatzfähigkeit möglicherweise einschränkende Krankheiten bzw Gebrechen zu benennen und deren "Berücksichtigung" zu postulieren. Erforderlich ist vielmehr eine genaue Untersuchung, welche Verrichtungen oder Arbeitsbedingungen durch die bei dem Versicherten vorliegenden Gesundheitsstörungen im einzelnen ausgeschlossen werden.

2. Der Umstand, daß ein Versicherter nicht nach einem Tarifvertrag entlohnt wurde macht die tarifliche Einordnung der bisher verrichteten Tätigkeit nicht unbeachtlich. Vielmehr kommt es darauf an, ob es im geographischen und fachlichen Bereich, in welchem der Versicherte gearbeitet hat, einen Tarifvertrag gibt, unter den die Tätigkeit fiele, wenn sie in einem tarifgebundenen Betrieb ausgeübt worden wäre.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2, § 1247 Abs. 2; SGB VI § 43 Abs. 2 Fassung: 1996-05-02, § 44 Abs. 2 Fassung: 1996-05-02; SGG § 103

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Beschluss vom 29.01.1996; Aktenzeichen L 2 J 2502/95)

SG Stuttgart (Entscheidung vom 14.07.1995; Aktenzeichen S 6 J 1024/94)

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Gewährung von Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU), hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit (BU).

Der 1942 geborene Kläger hat keinen Beruf erlernt. Von 1957 bis zum 30. Juni 1991 war er als Tapetendrucker, Magaziner, Bagger- und Staplerfahrer, Stadtarbeiter, von 1989 bis 1991 als Speditionsleiter bei der Spedition We. und anschließend bis zum 30. Juni 1992 als Speditionsarbeiter (stellvertretender Speditionsleiter) bei der Spedition W. beschäftigt. Seither ist er arbeitslos.

Im Juni 1993 beantragte der Kläger die Gewährung von Rente wegen geminderter Erwerbsfähigkeit. Die Beklagte holte von ihrem ärztlichen Dienst ein Gutachten nach Aktenlage und von dem letzten Arbeitgeber des Klägers eine Auskunft über dessen Tätigkeit ein. Darin wird ausgeführt, der Kläger habe Ware zu kommissionieren, zu verpacken und umzupacken, das Lager in Ordnung zu halten, Hilfsmaterial bereitzustellen, Botengänge zu Kreditinstituten und zur Post zu erledigen sowie an der Frankiermaschine zu arbeiten gehabt; dabei habe es sich um angelernte Arbeiten mit einer Einarbeitungszeit für Berufsfremde von fünf bis sechs Monaten gehandelt, die Entlohnung habe sich nicht nach einem Tarifvertrag gerichtet. Daraufhin lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab, weil der Kläger noch leichte Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtig verrichten könne und daher weder BU noch EU vorliege (Bescheid vom 19. August 1993). Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 27. April 1994).

Das Sozialgericht Freiburg (SG) hat die Klage des Klägers mit Urteil vom 14. Juli 1995 abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Der Kläger sei weder berufs- noch erwerbsunfähig. Er genieße auch bei seiner zuletzt ausgeübten Tätigkeit als stellvertretender Speditionsleiter keinen Berufsschutz als Facharbeiter. Angesichts der für diese Tätigkeit erforderlichen Anlernzeit von fünf bis sechs Monaten für einen normal begabten Versicherten sei er vielmehr als einfacher Angelernter anzusehen und daher auf alle ungelernten Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar. Da er noch vollschichtig leichte Arbeiten mit geringen qualitativen Einschränkungen (Arbeiten im Wechsel von Sitzen, Stehen und Gehen, ohne häufiges Bücken, ohne häufiges Klettern oder Steigen, ohne Akkord, ohne Belastung durch Zugluft, Nässe, Kälte und starke Temperaturschwankungen, unter Berücksichtigung seiner Hautkrankheit und seiner Hörminderung) verrichten könne, sei ihm der Arbeitsmarkt nicht praktisch verschlossen. Bei seinem vollschichtigen Leistungsvermögen gebe es noch eine Vielzahl von Arbeitsplätzen, die der Kläger trotz der qualitativen Einschränkungen noch ausfüllen könne. Weiterer Ermittlungen bezüglich der Arbeitsmarktsituation habe es nicht bedurft, weil Schwierigkeiten bei der Vermittlung eines Arbeitsplatzes nicht in den Risikobereich der Rentenversicherung, sondern den der Arbeitslosenversicherung fielen. Da der Kläger nicht berufsunfähig sei, seien auch die wesentlich strengeren Voraussetzungen für die Gewährung einer EU-Rente nicht erfüllt.

Das Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) hat die Berufung des Klägers durch Beschluß vom 29. Januar 1996 zurückgewiesen und diese Entscheidung im wesentlichen auf folgende Erwägungen gestützt: Soweit das SG der Auffassung sei, der Kläger müsse sich auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisen lassen und sei gesundheitlich in der Lage, derartige Tätigkeiten zu verrichten, werde im Hinblick auf die ausführlichen und überzeugenden Darlegungen im erstinstanzlichen Urteil, die der Kläger im Berufungsverfahren nicht angreife, gemäß § 153 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe abgesehen. Entgegen der Ansicht des Klägers sei es nicht erforderlich, ihm einen konkreten Arbeitsplatz zu benennen, den er mit seinem gesundheitlichen Leistungsvermögen noch ausfüllen könne.

Mit seiner Revision macht der Kläger geltend, ihm sei angesichts seiner Zugehörigkeit zu der vom erkennenden Senat in seinen Vorlagebeschlüssen an den Großen Senat (GS) des Bundessozialgerichts (BSG) vom 23. November 1994 (13 RJ 19/93 ua) angesprochenen Versichertengruppe, für die eine erhebliche Gefahr der Verschlossenheit des Arbeitsmarktes bestehe, in jedem Fall eine konkrete Verweisungstätigkeit zu bezeichnen. Dies gelte auch trotz der inzwischen erfolgten Änderungen der §§ 43 Abs 2, 44 Abs 2 Satz 2 und des § 45 Abs 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI).

Der Kläger beantragt,

den Beschluß des LSG Baden-Württemberg vom 29. Januar 1996 sowie das Urteil des SG Freiburg vom 14. Juli 1995 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 19. August 1993 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27. April 1994 zu verurteilen, ihm Rente wegen EU, hilfsweise wegen BU, zu gewähren.

Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist zulässig und begründet. Sie führt zur Zurückverweisung der Sache an das LSG. Die berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen reichen nicht aus, um abschließend beurteilen zu können, ob der Kläger berufs- oder erwerbsunfähig ist.

Der Anspruch des Klägers auf Versichertenrente wegen BU oder EU richtet sich nach §§ 43, 44 SGB VI, denn sein im Juni 1992 gestellter Rentenantrag bezieht sich ausschließlich auf Leistungen für die Zeit nach dem 31. Dezember 1991 (vgl § 300 Abs 1, 2 SGB VI).

Nach § 43 Abs 1 SGB VI haben Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen BU, wenn sie berufsunfähig sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der BU drei Jahre Pflichtbeitragszeiten und vor Eintritt der BU die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Berufsunfähig sind nach § 43 Abs 2 SGB VI Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung auf weniger als die Hälfte derjenigen von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfaßt alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Da der Versicherungsfall der EU (vgl § 44 Abs 2 SGB VI) an strengere Voraussetzungen geknüpft ist als derjenige der BU, ist es nicht zu beanstanden, daß das SG und ihm folgend das LSG vorrangig geprüft haben, ob der Kläger berufsunfähig ist.

Ausgangspunkt für die Prüfung der BU ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG der "bisherige Beruf", den der Versicherte ausgeübt hat (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 107, 169). Denn ein Versicherungsfall ist nicht eingetreten, solange der Versicherte seinen bisherigen Beruf noch ohne wesentliche Einschränkungen weiter ausüben kann (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nr 126). In der Regel ist dies die letzte versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit, von der auch bei nur kurzfristiger Ausübung auszugehen ist, wenn sie zugleich die qualitativ höchste im Berufsleben des Versicherten gewesen ist (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 130, 164). Wenn gesundheitliche Gründe für die Aufgabe einer früheren Tätigkeit verantwortlich waren, bleibt der Berufsschutz ohne weiteres erhalten, da sich insofern gerade das versicherte Risiko der gesetzlichen Rentenversicherung verwirklicht hat (vgl BSGE 2, 182, 187; BSG SozR Nr 33 zu § 1246 RVO).

Das LSG hat sich hinsichtlich der Feststellung, daß "nicht einmal BU" vorliege, gemäß § 153 Abs 2 SGG auf die "zutreffende und umfassende" Begründung des erstinstanzlichen Urteils bezogen und insoweit von eigenen Erörterungen abgesehen. Das SG hat als "bisherigen Beruf" des Klägers den des stellvertretenden Speditionsleiters angenommen. Für diese Annahme reichen allerdings die festgestellten Tatsachen nicht aus. Diesen ist nämlich nicht zu entnehmen, ob die vom Kläger zuletzt verrichtete Tätigkeit als stellvertretender Speditionsleiter zugleich die qualitativ höchste im Berufsleben des Versicherten gewesen ist; nur dann wäre sie ohne weiteres als "bisheriger Beruf" anzusehen. Angesichts des wechselvollen beruflichen Werdeganges des Klägers hätte hier Veranlassung bestanden zu prüfen, ob er zuvor eine höherwertigere Tätigkeit ausgeübt hat und insoweit weiterhin "Berufsschutz" genießt. Den Akten sind jedenfalls Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, daß der Kläger seine von 1989 bis 1991 ausgeübte Tätigkeit als Speditionsleiter, die höherwertiger sein könnte als die des lediglich stellvertretenden Speditionsleiters, aus gesundheitlichen Gründen aufgegeben haben könnte; aber auch die Aufnahme einer geringerwertigen Tätigkeit aus nicht gesundheitsbedingten Gründen führt unter bestimmten Voraussetzungen nicht zum Verlust des durch die Ausübung der höherwertigen Tätigkeit erworbenen Berufsschutzes (vgl etwa BSG SozR 2200 § 1246 Nr 158).

Ob eine weitere Erwerbstätigkeit des Klägers im (vom SG angenommenen) bisherigen Beruf aufgrund seiner gesundheitlichen Leistungseinschränkungen ausscheidet, läßt sich dem Urteil des SG nicht klar entnehmen. Das SG hat sich darauf beschränkt festzustellen, daß der Kläger in der Zeit zwischen der Rentenantragstellung im Juni 1993 und der "jetzigen Gerichtsentscheidung" nach seinem gesundheitlichen Leistungsvermögen noch in der Lage war, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eine ihm zumutbare Beschäftigung auszuüben. Unterstellt man - wie offenbar die Vorinstanzen - die Tätigkeit als stellvertretender Speditionsleiter als bisherigen Beruf und die Unfähigkeit des Klägers, diesen Beruf weiter auszuüben, so hängt sein Anspruch auf BU-Rente davon ab, ob es zumindest noch eine berufliche Tätigkeiten gibt, die ihm sozial zumutbar ist und die er sowohl gesundheitlich als auch fachlich zu bewältigen vermag.

Die soziale Zumutbarkeit einer Verweisungstätigkeit beurteilt sich nach der Wertigkeit des bisherigen Berufes. Zur Erleichterung dieser Beurteilung hat die Rechtsprechung des BSG die Berufe der Versicherten in Gruppen eingeteilt. Diese Berufsgruppen sind ausgehend von der Bedeutung, die Dauer und Umfang der Ausbildung für die Qualität eines Berufs haben, gebildet worden. Dementsprechend werden die Gruppen durch die Leitberufe des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion bzw des besonders hoch qualifizierten Facharbeiters, des Facharbeiters (anerkannter Ausbildungsberuf mit einer Ausbildungszeit von mehr als zwei Jahren), des angelernten Arbeiters (sonstiger Ausbildungsberuf mit einer Regelausbildungszeit von drei Monaten bis zu zwei Jahren) und des ungelernten Arbeiters charakterisiert (vgl zB BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 138, 140). Die Einordnung eines bestimmten Berufs in dieses Mehrstufenschema erfolgt aber nicht ausschließlich nach der Dauer der absolvierten förmlichen Berufsausbildung. Ausschlaggebend hierfür ist vielmehr allein die Wertigkeit der verrichteten Arbeit, dh der aus einer Mehrzahl von Faktoren zu ermittelnde Wert der Arbeit für den Betrieb. Es kommt auf das Gesamtbild an, wie es durch die in § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO am Ende genannten Merkmale (Dauer und Umfang der Ausbildung sowie des bisherigen Berufs, besondere Anforderungen der bisherigen Berufstätigkeit) umschrieben wird (vgl zB BSG SozR 3-2200 § 1246 Nrn 27, 33).

Die Tatsachenfeststellungen des SG, auf die das LSG Bezug genommen hat, reichen nicht aus, um den (von SG und LSG angenommenen) bisherigen Beruf des Klägers nach diesen Kriterien bewerten zu können. Mit seiner Folgerung, die Tätigkeit als stellvertretender Speditionsleiter sei als "einfache" Anlerntätigkeit anzusehen, weil die erforderliche Anlernzeit etwa 5 bis 6 Monate betragen habe, hat das SG ausschließlich auf die Dauer der regelmäßigen Einarbeitungszeit abgestellt. Dabei sind indes andere wichtige Faktoren unberücksichtigt geblieben, die das Gesamtbild eines Berufes prägen. Insbesondere hat das SG keine Feststellungen zur tarifvertraglichen Einstufung der Tätigkeit getroffen (vgl dazu BSG SozR 3-2200 § 1246 Nrn 13, 14).

Zwar wurde der Kläger nach den Feststellungen im Tatbestand des Berufungsurteils nicht nach einem Tarifvertrag entlohnt. Auch in einem solchen Falle kann indessen weder die Vorstellung des Gerichts vom qualitativen Wert seiner Tätigkeit noch die Dauer der Ausbildung oder regelmäßigen Einarbeitungszeit noch die Ansicht des Arbeitgebers allein maßgebend sein. Vielmehr kommt es darauf an, wie der Versicherte mit seinem "bisherigen Beruf" im Falle einer tariflichen Entlohnung einzustufen gewesen wäre. Es ist mithin zu ermitteln, ob es in dem geographischen und fachlichen Bereich, in welchem der Versicherte gearbeitet hat, einen Tarifvertrag gibt, unter den die Tätigkeit fiele, wenn sie in einem tarifgebundenen Betrieb ausgeübt worden wäre (vgl BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 18); heranzuziehen ist der Tarifvertrag, der im Zeitpunkt der tatsächlichen Beendigung des "bisherigen Berufs" galt (vgl BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 21). Sodann ist zu untersuchen, wie die Tätigkeit dort einzustufen gewesen wäre.

Da eine sichere Bestimmung und Einordnung des bisherigen Berufs des Klägers noch nicht möglich ist, läßt sich auch nicht sagen, welcher Gruppe des Mehrstufenschemas eine für ihn zumutbare Verweisungstätigkeit mindestens zugehören muß. Sozial zumutbar sind ihm nämlich grundsätzlich nur Tätigkeiten, deren Wertigkeit nicht mehr als eine Stufe unterhalb seines bisherigen Berufs liegt (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nr 143; SozR 3-2200 § 1246 Nr 5).

Kann somit anhand der bisherigen Tatsachenfeststellungen ein Anspruch des Klägers auf BU-Rente - entgegen dem LSG - nicht verneint werden, so sind die Voraussetzungen für eine Gewährung der von dem Kläger in erster Linie begehrten EU-Rente zu prüfen. Erwerbsunfähig sind gemäß § 44 Abs 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder Arbeitseinkommen zu erzielen, das ein Siebtel der monatlichen Bezugsgröße übersteigt.

Zwar ist der Kläger im Rahmen der Prüfung des Vorliegens von EU ohne subjektive Zumutbarkeitsbeschränkung (iS eines Berufsschutzes) auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar. Ob er jedoch mit seinen qualitativen Leistungseinschränkungen - gemessen an den tatsächlichen Anforderungen der Arbeitswelt - noch in erforderlichem Umfang erwerbstätig sein kann (vgl dazu BSG SozR 3-2200 § 1247 Nr 8), vermag der erkennende Senat auf der Grundlage der berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen nicht zu beurteilen.

Nach der vom GS des BSG (vgl den Beschluß vom 19. Dezember 1996 - GS 2/95 - Umdr S 10 ff mwN, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen) bestätigten ständigen Rechtsprechung des BSG ist einem Versicherten, der aus gesundheitlichen Gründen seine bisherige Erwerbstätigkeit nicht mehr verrichten kann, bei Verweisung auf das übrige Arbeitsfeld grundsätzlich zumindest eine Tätigkeit konkret zu benennen, die er noch auszuüben vermag. Eine derartige Bezeichnung einer Verweisungstätigkeit ist hingegen nicht erforderlich, wenn der Versicherte - wie der Kläger - zwar nicht mehr zu körperlich schweren, aber doch vollschichtig zu mittelschweren oder leichten Arbeiten in der Lage und auf den allgemeinen Arbeitsmarkt ungelernter Tätigkeiten verweisbar ist.

Eine Ausnahme von diesem Grundsatz ist allerdings dann zu machen, wenn bei dem Versicherten eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorliegt. In diesem Falle kann nämlich nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, daß auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt für die an sich noch mögliche Vollzeittätigkeit eine ausreichende Anzahl von Arbeitsplätzen vorhanden ist. Es kommen vielmehr ernste Zweifel daran auf, ob der Versicherte mit dem ihm verbliebenen Leistungsvermögen in einem Betrieb einsetzbar ist.

Im Hinblick darauf, daß der GS die vom erkennenden Senat angestrebte Fortentwicklung der Rechtsprechung zur Benennung von ungelernten Verweisungstätigkeiten für erheblich leistungsgeminderte, aber noch vollschichtig einsetzbare Versicherte (vgl die Vorlagebeschlüsse vom 24. November 1994 - 13 RJ 19/93 - ua) auch mit Rücksicht auf zwischenzeitliche gesetzgeberische Maßnahmen (vgl §§ 43, 44 SGB VI in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch) abgelehnt hat, kommt den Merkmalen "Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen" und "schwere spezifische Leistungsbehinderung" eine besondere Bedeutung zu.

Der dargestellten Systematik entsprechend liegt eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung nur dann vor, wenn die Fähigkeit des Versicherten, zumindest körperlich leichte Arbeiten vollschichtig zu verrichten, zusätzlich in erheblichem Umfang eingeschränkt ist. Dazu hat nach Auffassung des erkennenden Senats der GS in seinen Beschlüssen vom 19. Dezember 1996 hinreichend deutlich gemacht, daß die Frage, ob im konkreten Fall eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung anzunehmen ist, nur unter Berücksichtigung der tatsächlichen Verhältnisse der Arbeitswelt, insbesondere auch der dort an Arbeitnehmer gestellten Anforderungen, zutreffend beantwortet werden kann (vgl bereits BSG SozR 2200 § 1246 Nr 81).

Unter dem Begriff "schwere spezifische Leistungsbehinderung" werden vom BSG diejenigen Fälle erfaßt, wo bereits eine schwerwiegende Behinderung ein weites Feld von Verweisungsmöglichkeiten versperrt. Hingegen trägt das Merkmal "Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen" dem Umstand Rechnung, daß auch eine Mehrzahl von Einschränkungen, die jeweils nur einzelne Verrichtungen oder Arbeitsbedingungen betreffen, zusammengenommen das noch mögliche Arbeitsfeld in erheblichem Umfang zusätzlich einengen können. Jede qualitative Leistungseinschränkung, zB der Ausschluß von Arbeiten auf Leitern und Gerüsten, versperrt dem Versicherten eine bestimmte Gruppe von Arbeitsplätzen, dh alle Tätigkeiten, bei denen - und sei es auch nur gelegentlich - die nicht mehr mögliche Leistungserbringung gefordert wird. Jede weitere Leistungseinschränkung schließt ihrerseits einen anderen Bereich des Arbeitsmarktes aus, wobei sich diese Bereiche überschneiden, aber auch zu einer größeren Einengung des Arbeitsmarktes addieren können. Mit jeder zusätzlichen Einengung steigt die Unsicherheit, ob in dem verbliebenen Feld noch ohne weiteres Beschäftigungsmöglichkeiten unterstellt werden können. In diesem Sinne kann letztlich auch eine größere Summierung "gewöhnlicher" Leistungseinschränkungen zur Benennungspflicht führen.

"Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen" und "schwere spezifische Leistungsbehinderung" sind unbestimmte Rechtsbegriffe, die einer Konkretisierung nur schwer zugänglich sind. Denn zum einen sind die verschiedenen Leistungsanforderungen der auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in Betracht kommenden Arbeitsplätze kaum überschaubar und zudem ständigen Veränderungen unterworfen. Zum anderen können sich qualitative Leistungseinschränkungen je nach ihrer bei einem Versicherten vorliegenden Anzahl, Art und Schwere ganz unterschiedlich auf deren betriebliche Einsetzbarkeit auswirken. Feste Grenzlinien lassen sich nicht festlegen, zumal auch der Begriff "leichte Arbeiten", auf den sich die genannten Merkmale als Ausnahmen beziehen, Unschärfen enthält, die es erforderlich machen, die im Einzelfall vorliegenden Leistungseinschränkungen insgesamt in ihrer konkreten Bedeutung für die Einsetzbarkeit der Versicherten auf dem Arbeitsmarkt zu bewerten. Nur so erscheint eine "vernünftige Handhabung dieser weiten Begriffe" gewährleistet, wie sie der GS in seinen Beschlüssen vom 19. Dezember 1996 (vgl zB GS 2/95 Umdr S 19) vorausgesetzt hat.

Im Hinblick auf diese Gegebenheiten sind die bisherigen Entscheidungen des BSG zum Vorliegen einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung nur als Einzelfallentscheidungen zu werten, die den Besonderheiten der jeweiligen Sachlage Rechnung zu tragen suchen. Die vom BSG jeweils vorgenommenen Beurteilungen mögen zwar - auch wenn sie weder näher begründet noch berufskundlich oder arbeitswissenschaftlich belegt worden sind - im allgemeinen nachvollziehbar sein, ihnen lassen sich jedoch keine generellen Abgrenzungskriterien entnehmen; allenfalls können sie - soweit sie auf aktuellen Erkenntnissen zu den Verhältnissen der Arbeitswelt beruhen - Anhaltspunkte für weitere Entscheidungen liefern.

Da es für die Prüfung, ob eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorliegt, keinen konkreten Beurteilungsmaßstab gibt, können auch für die tatrichterliche Begründung und die dazu nötigen Tatsachenfeststellungen keine allgemeingültigen Anforderungen aufgestellt werden. Auch der Begründungsaufwand richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere hängt er von der Anzahl, Art und Schwere der bestehenden qualitativen Leistungseinschränkungen ab. Je mehr diese geeignet erscheinen, gerade auch typische Arbeitsplätze für körperlich leichte Tätigkeiten zu versperren, um so eingehender und konkreter muß das Tatsachengericht seine Entscheidung zur Frage einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung begründen.

Wie sich der Richter die jeweils erforderliche Tatsachenkenntnis verschafft, liegt in seinem Ermittlungsermessen (vgl § 103 SGG). Angesichts des (noch) unzulänglichen Gesamtüberblicks über typische Anforderungen ungelernter Verrichtungen ist ihm dabei ein weiter Freiraum für Einschätzungen zuzugestehen. Gleichwohl muß aus rechtsstaatlichen Gründen ein Mindestmaß an Berechenbarkeit und Nachvollziehbarkeit der Entscheidung gesichert bleiben. Zwar wird der Richter in vielen Fällen anhand allgemeinkundiger Tatsachen, seiner Berufserfahrung oder durch Beiziehung von Beweisergebnissen aus anderen Verfahren über eine Beurteilungsgrundlage verfügen, die eine Beweisaufnahme im Einzelfall erübrigt. Wegen der großen Beurteilungs- und Abgrenzungsschwierigkeiten ist dann regelmäßig eine eingehende Erörterung der Einschätzungen mit den Beteiligten erforderlich. Dort, wo dies nicht ausreicht - was vor allem in Grenzfällen so sein wird -, ist jedoch eine Beweisaufnahme erforderlich, zB durch Anhörung eines Sachverständigen der Arbeitsverwaltung, um aufzuklären, ob noch ein ausreichendes Verweisungsfeld vorliegt oder, falls dies nicht der Fall ist, eine geeignete Tätigkeit konkret benannt werden kann.

Das LSG hat (durch Bezugnahme auf das erstinstanzliche Urteil) zur körperlichen Leistungsfähigkeit des Klägers für den erkennenden Senat bindend (§ 163 SGG) festgestellt, er könne noch vollschichtig leichte Arbeiten mit geringen qualitativen Einschränkungen (Arbeiten im Wechsel von Sitzen, Stehen und Gehen, ohne häufiges Bücken, ohne häufiges Klettern oder Steigen, ohne Akkord, ohne Belastung durch Zugluft, Nässe, Kälte und starke Temperaturschwankungen, unter Berücksichtigung seiner Hautkrankheit und seiner Hörminderung) verrichten. Diese Feststellungen sind jedoch ersichtlich unvollständig. Sie lassen nämlich nicht erkennen, welche qualitativen Leistungseinschränkungen durch die Gesundheitsstörungen "Hörminderung" und "Hautkrankheit" bedingt werden. Es reicht nicht aus, einzelne die berufliche Einsatzfähigkeit möglicherweise einschränkende Krankheiten bzw Gebrechen zu benennen und deren "Berücksichtigung" zu postulieren. Erforderlich ist vielmehr eine genaue Untersuchung, welche Verrichtungen oder Arbeitsbedingungen durch die bei dem Versicherten vorliegenden Gesundheitsstörungen im einzelnen ausgeschlossen werden. Diese Feststellungen sind zur Bestimmung der Restleistungsfähigkeit des Versicherten unerläßlich, weil nur so hinreichend genau untersucht werden kann, welche Tätigkeitsfelder ihm noch offen bzw welche ihm verschlossen sind.

Mit der Frage, ob diese Leistungseinschränkungen die Einsatzfähigkeit des Klägers in einem Ausmaß mindern, daß eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungseinschränkung angenommen werden muß, haben sich die Vorinstanzen nicht befaßt. Anlaß zu einer solchen Prüfung besteht jedoch, da es zumindest nicht fernliegt, daß die vielfältigen Behinderungen des Klägers, die nicht lediglich mit der Unfähigkeit zur Verrichtung mittelschwerer und schwerer Arbeiten deckungsgleich sind, eine derartige Auswirkung haben. Da etwa die Arbeit an Maschinen zumindest einen nicht unerheblichen Teil der auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verlangten Tätigkeiten ausmachen dürfte, hierzu aber die Fähigkeit zur Leistung von Akkordarbeiten erforderlich sein könnte (vgl dazu Schimanski SozVers 1991, 169, 171), könnte dieser wichtige Bereich bereits ausscheiden. Daß darüber hinaus insbesondere die Notwendigkeit des Wechsels von Sitzen, Stehen und Gehen weitere erhebliche Bereiche des allgemeinen Arbeitsmarktes - ua vermutlich die hauptsächlich im Sitzen zu verrichtenden Sortier- und Kontrollarbeiten - zu verschließen vermag, erscheint naheliegend. Welche Tätigkeitsbereiche durch die "Hautkrankheit" und die "Hörminderung" ausgeschlossen sind, ist wegen des Mangels an Feststellungen zu deren Einfluß auf die Leistungsfähigkeit des Klägers nicht sicher zu beurteilen.

Da der erkennende Senat die nach alledem erforderliche weitere Sachaufklärung nicht selbst vornehmen kann (vgl § 163 SGG), hält er es für geboten, das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen (vgl § 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

Kommt das LSG nach weiterer Sachaufklärung zu dem Ergebnis, daß eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorliegt, bleibt weiter zu prüfen, ob für die dann zu benennende Verweisungstätigkeit der Arbeitsmarkt verschlossen ist (vgl dazu BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 137, 139; Beschluß des GS vom 19. Dezember 1996 - GS 2/95 - Umdr S 14). Dabei ist insbesondere in Betracht zu ziehen, daß es sich um Schonarbeitsplätze handeln könnte.

Falls das LSG bei seiner erneuten Behandlung der Sache zu dem Ergebnis kommt, daß der Kläger keinen Anspruch auf EU-Rente hat, wird es auch den mit dem Hilfsantrag geltend gemachten Anspruch auf Gewährung von BU-Rente unter Beachtung der oben aufgezeigten Hinweise zu prüfen haben.

Das LSG wird in seinem abschließenden Urteil auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173199

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