Entscheidungsstichwort (Thema)

Erwerbsunfähigkeit. Vorliegen einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Bei der Prüfung, ob eine für die Bejahung von Erwerbsunfähigkeit bedeutsame Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder schwere spezifische Leistungsbehinderung vorliegt, ist es Aufgabe des Tatsachengerichts, die im Einzelfall vorliegenden qualitativen Leistungseinschränkungen insgesamt in ihrer konkreten Bedeutung für die Einsetzbarkeit des Versicherten auf dem Arbeitsmarkt abzuklären und zu bewerten.

2. Dabei muß das Tatsachengericht seine Entscheidung um so eingehender und konkreter begründen, je mehr die bei dem Versicherten bestehenden qualitativen Leistungseinschränkungen nach Anzahl, Art und Schwere geeignet erscheinen, gerade auch typische Arbeitsplätze für körperlich leichte Tätigkeiten zu versperren.

Stand: 24. Oktober 2002

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2, § 1247 Abs. 2; SGB VI § 43 Abs. 2 Fassung: 1996-05-02, § 44 Abs. 2 Fassung: 1996-05-02; SGG § 103

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 25.05.1993; Aktenzeichen L 9 J 640/91)

SG Mannheim (Entscheidung vom 21.02.1991; Aktenzeichen S 8 J 1443/89)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 25. Mai 1993 aufgehoben.

Die Sache wird zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Streitig ist im Revisionsverfahren noch die Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU), hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit (BU), bis längstens zum 30. Juni 1994.

Die im Jahre 1934 geborene Klägerin hat keinen Beruf erlernt. Sie arbeitete zunächst jahrelang als Reinemachefrau. Zuletzt war sie bei der Stadt M. als Badewärterin beschäftigt und hatte dabei Reinigungs-, Aufsichts- und Betreuungsarbeiten zu verrichten. Nach Schließung des Bades sollte die Klägerin in einer städtischen Sauna arbeiten, wozu sie aber gesundheitlich nicht in der Lage war. Sie war daraufhin durchgehend arbeitsunfähig krank, bis das Arbeitsverhältnis mit der Stadt M. im Jahre 1990 beendet wurde. Danach war die Klägerin arbeitslos und erhielt Leistungen von der Bundesanstalt für Arbeit (BA). Seit dem 1. Juli 1994 bezieht sie von der Beklagten Altersrente.

Mit Antrag vom 14. April 1989 begehrte die Klägerin Rentenleistungen wegen EU oder BU von der Beklagten, die unter dem 31. Mai 1989 einen ablehnenden Bescheid mit der Begründung erteilte, die Klägerin könne noch leichte Tätigkeiten vollschichtig ausüben. Sie sei auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar und daher weder berufsunfähig noch erwerbsunfähig.

Klage und Berufung der Klägerin blieben ohne Erfolg (Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ Mannheim vom 21. Februar 1991; Urteil des Landessozialgerichts ≪LSG≫ Baden-Württemberg vom 25. Mai 1993). Das LSG hat seine Entscheidung wie folgt begründet:

Unter Berücksichtigung der umfangreichen medizinischen Ermittlungen sei die Klägerin nicht berufsunfähig und damit erst recht nicht erwerbsunfähig. Auf internistischem Fachgebiet liege bei der Klägerin ein arterieller Bluthochdruck vor, der unter entsprechender Medikation regelmäßig nur leicht erhöhte Werte zeige. In hals-nasen-ohren(hno)-ärztlicher Hinsicht hätten zwar bei der Klägerin aufgetretene Hörstürze das Hörvermögen stets nur vorübergehend beeinträchtigt, sie leide jedoch unter rezidivierenden sekundenlangen Schwindelbeschwerden. Auf orthopädischem Fachgebiet bestünden Verschleißerscheinungen an der unteren Halswirbelsäule und der unteren Lendenwirbelsäule, die etwas über das altersentsprechende Maß hinausgingen. Die Belastbarkeit der Wirbelsäule sei hierdurch herabgesetzt, Bewegungseinschränkungen lägen aber nicht vor. Die Beschwerden im Bereich der rechten Schulter seien für das Leistungsvermögen ohne wesentlichen Belang. In Anbetracht dieser Gesundheitsstörungen könne die Klägerin körperlich leichte Arbeiten ohne gehäuftes Bücken, Heben und Tragen sowie ohne Zwangshaltungen, ohne Absturzgefahr, nicht auf Leitern und Gerüsten, ohne Akkord-, Fließband- und Schichtarbeiten in wohltemperierten, zug-, rauch- und abgasfreien Räumen vollschichtig verrichten. Bezüglich des Weges zur Arbeit sei der Klägerin die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel zumutbar, nicht aber das aktive Führen eines Kraftfahrzeuges.

Als Reinemachefrau sei die Klägerin nach dem Mehrstufenschema des Bundessozialgerichts (BSG) dem Leitberuf der Ungelernten zuzuordnen und daher ohne Einschränkungen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar. Eine Ausnahme von dem Grundsatz, daß von einem funktionierenden Arbeitsmarkt für breit verweisbare und vollschichtig einsatzfähige Versicherte auszugehen sei, gelte nur bei besonders erheblichen Einschränkungen der Einsatzfähigkeit, die bei der Klägerin nicht vorlägen. Daher sei die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit hier nicht erforderlich.

Mit ihrer – vom vorlegenden Senat zugelassenen – Revision rügt die Klägerin eine Verletzung der §§ 1246, 1247 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und trägt dazu vor:

Unter Berücksichtigung der bisherigen Rechtsprechung des BSG zur Verschlossenheit des Arbeitsmarktes sei es angezeigt, auch den Personenkreis der schwerbehinderten, langzeitarbeitslosen, älteren Versicherten, die wegen ihrer Leistungseinschränkungen nur noch leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verrichten könnten, als weiteren „Ausnahmetatbestand” anzuerkennen, für den eine konkrete Betrachtung des Einzelfalles vorzunehmen sei. Zu den betriebsüblichen Arbeitsbedingungen, die bei der Frage des Zuganges eines leistungsgeminderten Versicherten auf Arbeitsplätze zu beachten seien, gehöre im weiteren Sinne auch das typische Einstellungsverhalten der Arbeitgeber im Hinblick auf Versicherte, die das 50. Lebensjahr vollendet hätten, langzeitarbeitslos seien und nur noch leichte Tätigkeiten verrichten könnten. Diesem Personenkreis sei nach Art und Maß des eingeschränkten Leistungsvermögens unter Berücksichtigung aller arbeitsmarktrelevanten Faktoren praktisch der Arbeitsmarkt verschlossen, so daß es zumindest der konkreten Benennung einer Verweisungstätigkeit bedürfe. Da sie zu diesem Personenkreis gehöre, habe sie Anspruch auf Rente wegen EU.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 25. Mai 1993 sowie das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 21. Februar 1991 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 31. Mai 1989 zu verurteilen, ihr, der Klägerin, Rente wegen EU, hilfsweise wegen BU, bis zum 30. Juni 1994 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision der Klägerin zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Der erkennende Senat hat zu den Verhältnissen des allgemeinen Arbeitsmarktes – insbesondere soweit er für erheblich leistungsgeminderter Arbeiter in Betracht kommt – die Arbeitswissenschaftler Prof. Dr. F. … (Gesamthochschule Kassel – Universität –, Institut für Arbeitswissenschaft), Prof. Dr. L. … (Universität Hockenheim, Institut für Arbeitswissenschaft und Haushaltstechnologie), Dr. B. … sowie Dr. P. … (beide Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der BA) schriftlich und – in der Sitzung vom 22. November 1994 – mündlich als Sachverständige gehört. Sodann hat er dem Großen Senat des BSG nach § 41 Abs 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) folgende Rechtsfragen zur Entscheidung vorgelegt:

  1. Ist für die Beurteilung, ob eine Versicherte der Gruppe mit dem Leitbild der angelernten Arbeiterin im unteren Bereich oder der Gruppe mit dem Leitbild der ungelernten Arbeiterin berufs- oder erwerbsunfähig ist, die konkrete Benennung von Verweisungstätigkeiten erforderlich, wenn sie ihren bisherigen Beruf nicht mehr ausüben und auch sonst nur noch körperlich leichte Arbeiten mit weiteren Einschränkungen verrichten kann?
  2. Sind die Fallgruppen, bei denen das Bundessozialgericht bisher die erhebliche Gefahr einer Verschlossenheit des Arbeitsmarktes angenommen hat, als abschließend anzusehen?

Der Große Senat hat die – von ihm teilweise anders gefaßten – Fragen durch Beschluß vom 19. Dezember 1996 – GS 4/95 – verneint.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (vgl § 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Klägerin ist zulässig und begründet. Sie führt zur Zurückverweisung der Sache an das LSG. Wegen fehlender Tatsachenfeststellungen kann noch nicht abschließend entschieden werden, ob das LSG zu Unrecht das Urteil des SG bestätigt hat, durch welches die auf Versichertenrente wegen EU, hilfsweise wegen BU, gerichtete Klage abgewiesen worden ist.

Der Anspruch der Klägerin auf Versichertenrente wegen BU oder EU richtet sich noch nach §§ 1246, 1247 RVO, da der Rentenantrag bereits im Jahre 1988 – also bis zum 31. März 1992 – gestellt worden ist und er sich auch auf die Zeit vor dem 1. Januar 1992 bezieht (vgl § 300 Abs 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Rentenversicherung – ≪SGB VI≫; BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 29).

Rente wegen EU, welche die Klägerin in erster Linie begehrt, erhält gemäß § 1247 Abs 1 RVO ein Versicherter, der erwerbsunfähig ist und zuletzt vor Eintritt der EU eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeführt hat, wenn die Wartezeit erfüllt ist. EU liegt vor, wenn der Versicherte infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder von Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben oder nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann (vgl § 1247 Abs 2 RVO).

Zwar ist die Klägerin im Rahmen der Prüfung von EU ohne subjektive Zumutbarkeitsbeschränkungen (iS eines Berufsschutzes) auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar. Der vorliegende Fall gibt jedoch Anlaß, der Frage nachzugehen, ob sie mit ihren Leistungseinschränkungen – gemessen an den tatsächlichen Anforderungen der Arbeitswelt – noch in erforderlichem Umfang erwerbstätig sein kann (vgl dazu BSG SozR 3-2200 § 1247 Nr 8). Dies vermag der erkennende Senat auf der Grundlage der berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen nicht sicher zu beurteilen, zumal das LSG keine für die Klägerin geeigneten Tätigkeitsfelder aufgezeigt hat.

Nach der jetzt vom Großen Senat des BSG (vgl den Beschluß vom 19. Dezember 1996 – GS 4/95 – Umdr S 11 ff mwN) bestätigten Rechtsprechung des BSG ist einem Versicherten, der aus gesundheitlichen Gründen seine bisherige Erwerbstätigkeit nicht mehr verrichten kann, bei Verweisung auf das übrige Arbeitsfeld grundsätzlich zumindest eine Tätigkeit konkret zu benennen, die er noch auszuüben vermag. Eine derartige Bezeichnung einer Verweisungstätigkeit ist hingegen nicht erforderlich, wenn der Versicherte – wie die Klägerin – zwar nicht mehr zu körperlich schweren, aber doch vollschichtig zu mittelschweren oder leichten Arbeiten in der Lage ist und auf den allgemeinen Arbeitsmarkt ungelernter Tätigkeiten verweisbar ist.

Eine Ausnahme von diesem Grundsatz ist allerdings dann zu machen, wenn bei dem Versicherten eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorliegt. In diesem Falle kann nämlich nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, daß auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt für die an sich noch mögliche Vollzeittätigkeit eine ausreichende Anzahl von Arbeitsplätzen vorhanden ist. Es kommen vielmehr ernste Zweifel daran auf, ob der Versicherte mit dem ihm verbliebenen Leistungsvermögen in einem Betrieb einsetzbar ist.

Im Hinblick darauf, daß der Große Senat des BSG die vom erkennenden Senat angestrebte Fortentwicklung der Rechtsprechung zur Benennung von ungelernten Verweisungstätigkeiten für erheblich leistungsgeminderte, aber noch vollschichtig einsetzbare Versicherte (vgl den Vorlagebeschluß vom 23. November 1994) auch mit Rücksicht auf zwischenzeitliche gesetzgeberische Maßnahmen (vgl §§ 43, 44 SGB VI in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch) abgelehnt hat, kommt den Merkmalen „Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen” und „schwere spezifische Leistungsbehinderung” eine besondere Bedeutung zu.

Der dargestellten Systematik entsprechend liegt eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung nur dann vor, wenn die Fähigkeit der Versicherten, zumindest körperlich leichte Arbeiten vollschichtig zu verrichten, zusätzlich in erheblichem Umfang eingeschränkt ist. Dazu hat nach Auffassung des erkennenden Senats der Große Senat des BSG in seinen Beschlüssen vom 19. Dezember 1996 hinreichend deutlich gemacht, daß die Frage, ob im konkreten Fall eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung anzunehmen ist, nur unter Berücksichtigung der tatsächlichen Verhältnisse der Arbeitswelt, insbesondere auch der dort an Arbeitnehmer gestellten Anforderung, zutreffend beantwortet werden kann (vgl bereits BSG SozR 2200 § 1246 Nr 81).

Unter dem Begriff „schwere spezifische Leistungsbehinderung” werden vom BSG diejenigen Fälle erfaßt, wo bereits eine schwerwiegende Behinderung ein weites Feld von Verweisungsmöglichkeiten versperrt. Hingegen trägt das Merkmal „Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen” dem Umstand Rechnung, daß auch eine Mehrzahl von Einschränkungen, die jeweils nur einzelne Verrichtungen oder Arbeitsbedingungen betreffen, zusammengenommen das noch mögliche Arbeitsfeld in erheblichem Umfang zusätzlich einengen können. Jede qualitative Leistungseinschränkung, zB der Ausschluß von Arbeiten auf Leitern und Gerüsten, versperrt der Versicherten eine bestimmte Gruppe von Arbeitsplätzen, dh alle Tätigkeiten, bei denen – und sei es auch nur gelegentlich – die nicht mehr mögliche Leistungserbringung gefordert wird. Jede weitere Leistungseinschränkung schließt ihrerseits einen anderen Bereich des Arbeitsmarktes aus, wobei sich diese Bereiche überschneiden, aber auch zu einer größeren Einengung des Arbeitsmarktes addieren können. Mit jeder zusätzlichen Einengung steigt die Unsicherheit, ob in dem verbliebenen Feld noch ohne weiteres Beschäftigungsmöglichkeiten unterstellt werden können. In diesem Sinne kann letztlich auch eine größere Summierung „gewöhnlicher” Leistungseinschränkungen zur Benennungspflicht führen.

„Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen” und „schwere spezifische Leistungsbehinderung” sind unbestimmte Rechtsbegriffe, die einer Konkretisierung nur schwer zugänglich sind. Denn zum einen sind die verschiedenen Leistungsanforderungen der auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in Betracht kommenden Arbeitsplätze kaum überschaubar und zudem ständigen Veränderungen unterworfen. Zum anderen können sich qualitative Leistungseinschränkungen je nach ihrer bei einem Versicherten vorliegenden Anzahl, Art und Schwere ganz unterschiedlich auf dessen betriebliche Einsetzbarkeit auswirken. Feste Grenzlinien lassen sich nicht festlegen, zumal auch der Begriff „leichte Arbeiten”, auf den sich die genannten Merkmale als Ausnahmen beziehen, Unschärfen enthält, die es erforderlich machen, die im Einzelfall vorliegenden Leistungseinschränkungen insgesamt in ihrer konkreten Bedeutung für die Einsetzbarkeit des Versicherten auf dem Arbeitsmarkt zu bewerten. Nur so erscheint eine „vernünftige Handhabung dieser weiten Begriffe” gewährleistet, wie sie der Große Senat des BSG in seinem Beschluß vom 19. Dezember 1996 (GS 4/95, Umdr S 20) vorausgesetzt hat.

Im Hinblick auf diese Gegebenheiten sind die bisherigen Entscheidungen des BSG zum Vorliegen einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung nur als Einzelfallentscheidungen zu werten, die den Besonderheiten der jeweiligen Sachlage Rechnung zu tragen suchen. Die vom BSG jeweils vorgenommenen Beurteilungen mögen zwar – auch wenn sie weder näher begründet noch berufskundlich oder arbeitswissenschaftlich belegt worden sind – im allgemeinen nachvollziehbar sein, ihnen lassen sich jedoch keine generellen Abgrenzungskriterien entnehmen; allenfalls können sie – soweit sie auf aktuellen Erkenntnissen zu den Verhältnissen der Arbeitswelt beruhen – Anhaltspunkte für weitere Entscheidungen liefern.

Da es für die Prüfung, ob eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorliegt, keinen konkreten Beurteilungsmaßstab gibt, können auch für die tatrichterliche Begründung und die dazu nötigen Tatsachenfeststellungen keine allgemeingültigen Anforderungen aufgestellt werden. Auch der jeweilige Begründungsaufwand richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere hängt er von der Anzahl, Art und Schwere der bestehenden qualitativen Leistungseinschränkungen ab. Je mehr diese geeignet erscheinen, gerade auch typische Arbeitsplätze für körperlich leichte Tätigkeiten zu versperren, um so eingehender und konkreter muß das Tatsachengericht seine Entscheidung zur Frage einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung begründen.

Wie sich der Richter die jeweils erforderliche Tatsachenkenntnis verschafft, liegt in seinem Ermittlungsermessen (vgl § 103 SGG). Angesichts des (noch) unzulänglichen Gesamtüberblicks über typische Anforderungen ungelernter Verrichtungen ist ihm dabei ein weiter Freiraum für Einschätzungen zuzugestehen. Gleichwohl muß aber aus rechtsstaatlichen Gründen ein Mindestmaß an Berechenbarkeit und Nachvollziehbarkeit der Entscheidung gesichert bleiben. Zwar wird der Richter in vielen Fällen anhand allgemeinkundiger Tatsachen, seiner Berufserfahrung oder durch Beiziehung von Beweisergebnissen aus anderen Verfahren über eine Beurteilungsgrundlage verfügen, die eine Beweisaufnahme im Einzelfall erübrigt. Wegen der großen Beurteilungs- und Abgrenzungsschwierigkeiten ist dann regelmäßig eine eingehende Erörterung der Einschätzungen mit den Beteiligten erforderlich. Dort, wo dies nicht ausreicht – was vor allem in Grenzfällen so sein wird –, ist jedoch eine Beweisaufnahme erforderlich, zB durch Anhörung eines Sachverständigen der Arbeitsverwaltung, um aufzuklären, ob noch ein ausreichendes Verweisungsfeld vorliegt oder, falls dies nicht der Fall ist, eine geeignete Tätigkeit konkret benannt werden kann.

Nach diesen Grundsätzen reichen die berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen nicht aus, um im vorliegenden Fall eine Pflicht zur Benennung einer Verweisungstätigkeit ausschließen zu können. Den Feststellungen des LSG zufolge ist davon auszugehen, daß die Klägerin aufgrund ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigungen noch vollschichtig leichte Tätigkeiten verrichten kann. Ausgeschlossen sind dabei allerdings Arbeiten mit häufigem Bücken, Heben und Tragen, in Zwangshaltungen (Überkopfarbeiten), unter Witterungs- oder Schadstoffeinflüssen (dh in wohltemperierten, zug-, rauch- und abgasfreien Räumen), mit besonderen Streßsituationen, an heißen oder laufenden Maschinen, ferner Akkord-, Fließband-, Nacht- und Schichtarbeit sowie Arbeiten, bei denen durch einen kurzfristigen Schwindelanfall eine Gefährdung der Person oder der Umgebung erfolgen kann (zB mit Absturzgefahr).

Das LSG hat dazu lediglich ausgeführt, daß Zweifel, ob ein Versicherter überhaupt in einem Betrieb einsetzbar sei, nur dann angebracht seien, wenn dieser gesundheitlich stärker oder in spezifischer Weise eingeschränkt oder nur unter besonders unüblichen Arbeitsbedingungen einsatzfähig sei. Als Beispiele hierfür habe die Rechtsprechung den Fall der Einarmigkeit und den der Reduzierung des Gehvermögens auf Strecken von weniger als 500 Meter angeführt. Die bei der Klägerin vorliegenden Einschränkungen ihrer Leistungsfähigkeit kämen einer derart schweren Leistungsbehinderung nicht gleich.

Abgesehen davon, daß sich die genannten Beispiele allenfalls auf eine „schwere spezifische Leistungsbehinderung”, nicht jedoch auf eine „Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen” beziehen, wird diese pauschale Einschätzung nach Auffassung des erkennenden Senats nicht den Anforderungen gerecht, die unter Berücksichtigung der Besonderheiten des vorliegenden Falles an die Prüfung dieser beiden Merkmale zu stellen sind. Wie er bereits in seinem Vorlageschluß vom 23. November 1994 dargelegt hat, liegt das Restleistungsvermögen der Klägerin insgesamt gesehen in einem Grenzbereich, der mit den bisherigen Kriterien nicht klar zu beurteilen ist. Daraus folgen erweiterte Begründungserfordernisse. Insbesondere hat es das LSG unterlassen, diejenigen qualitativen Leistungseinschränkungen der Klägerin, die auch einer Verrichtung körperlicher leichter Arbeit entgegenstehen, daraufhin zu untersuchen, inwiefern sie deren betriebliche Einsatzfähigkeit weiter einengen. Dies gilt namentlich bezüglich der bei der Klägerin auftretenden Schwindelerscheinungen. Ferner wäre zu prüfen gewesen, ob nicht körperlich leichte und fachlich einfache Frauenarbeiten häufig einen Einsatz am Fließband oder im Akkord bedingen (vgl Schimanski, SozVers 1991, 169, 171).

Da der erkennende Senat die somit noch erforderlichen Ermittlungen im Revisionsverfahren nicht selbst nachholen kann (vgl § 163 SGG), ist das Berufungsurteil gemäß § 170 Abs 2 Satz 2 SGG aufzuheben und die Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Kommt das LSG nach weiterer Sachaufklärung zu dem Ergebnis, daß eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorliegt, bleibt zu prüfen, ob für die dann zu benennende Verweisungstätigkeit der Arbeitsmarkt verschlossen ist (vgl dazu jetzt auch den Beschluß des Großen Senats vom 19. Dezember 1996 – GS 4/95 – Umdr S 14f). Dabei ist insbesondere in Betracht zu ziehen, daß es sich um Schonarbeitsplätze handeln könnte.

Soweit das LSG nach dem Ergebnis der noch durchzuführenden Ermittlungen zu der Beurteilung gelangen sollte, daß die Klägerin nicht (ab Antragstellung) erwerbsunfähig ist, wird es auch das Vorliegen von BU zu prüfen haben. Dabei erscheint es erforderlich, ergänzende Feststellungen zum bisherigen Beruf der Klägerin zu treffen. Der Annahme des LSG, dies sei die Tätigkeit einer Reinemachefrau, dürfte es jedenfalls widersprechen, daß die Klägerin zuletzt als Badewärterin offenbar nicht nur Reinigungs-, sondern auch Aufsichts- und Betreuungsarbeiten verrichtet hat. Ein derartig erweiterter Aufgabenbereich könnte auch zu einer höheren Wertigkeit des bisherigen Berufs der Klägerin führen, insbesondere, wenn dabei auch dessen tarifvertragliche Einstufung berücksichtigt wird (vgl dazu allgemein BSG SozR 3-2200 § 1246 Nrn 13, 14).

Das LSG wird auch über die Kosten des Verfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1173144

BSGE 81, 15

BSGE, 15

SGb 1998, 221

SozR 3-2200 § 1247, Nr.23

SozSi 1998, 77

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