Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Urteil vom 27.02.1992; Aktenzeichen L 16 Ar 628/88)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 27. Februar 1992 aufgehoben.

Die Sache wird zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Hierbei spielen die Auswirkungen eines Anfalleidens sowie die ausreichende Eignung und Bezeichnung von Verweisungsberufen eine Rolle.

Der Kläger (geboren 1935) ist jugoslawischer Staatsangehöriger. Er hat nach seinen Angaben von 1954 bis 1968 als Bergmann und von Juli 1968 bis April 1970 als Bauhelfer (letzteres in Österreich) gearbeitet. In der Bundesrepublik Deutschland war er zunächst ebenfalls als Bauhelfer, dann von Mai 1972 bis August 1978 als Rangierer bei der Deutschen Bundesbahn und schließlich bis April 1983 mit Unterbrechungen als Hilfsarbeiter bei verschiedenen Firmen beschäftigt. Von Mai 1983 bis Januar 1985 bezog der Kläger Leistungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz (AFG). Ab 28. Januar 1985 wurde die Weitergewährung von Arbeitslosenhilfe (Alhi) abgelehnt, weil für den Kläger der Arbeitsmarkt verschlossen sei. Daraufhin kehrte er im Juli 1985 nach Jugoslawien zurück.

Die österreichische Versicherungszeit umfaßt 16, die deutsche 149 Pflichtbeitragsmonate.

Ein 1978 eingeleitetes Rentenverfahren führte nicht zum Erfolg (Berufungsrücknahme am 9. September 1982).

Am 27. Dezember 1983 beantragte der Kläger Versichertenrente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit (BU/EU). Auf diesen Antrag bezieht sich das vorliegende Verfahren. Der Rentenantrag und ein weiterer Antrag vom 3. September 1984 wurden von der Beklagten abgelehnt (Bescheide vom 19. September 1984 und 2. Oktober 1984); der gegen beide Bescheide erhobene Widerspruch wurde zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 3. Juli 1985). Das anschließende Klage- und Berufungsverfahren hatte keinen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts München ≪SG≫ vom 29. März 1988; Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 27. Februar 1992).

Das LSG hat seine Entscheidung auf folgende Gründe gestützt:

Der Kläger sei nicht berufsunfähig (bu) und demnach erst recht nicht erwerbsunfähig (eu). Der bisherige Beruf des Klägers sei der des Bauhelfers. Anhaltspunkte dafür, daß er sich von dem Beruf als Arbeiter im Rangierdienst aus gesundheitlichen Gründen gelöst habe, lägen nicht vor. Außerdem handele es sich auch dabei um eine ungelernte Tätigkeit, so daß der Kläger auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar sei. Dort könne er noch „Tätigkeiten zB als Güteprüfer oder Fertigungskontrolleur für einfache Prüfaufgaben, sowie Sortier- oder leichte Lagerarbeiten in Handel und Industrie, die nach kurzer innerbetrieblicher Einarbeitung zu verrichten sind” ausüben. Diese Tätigkeiten seien körperlich leicht und in der Regel in geschlossenen Räumen überwiegend im Sitzen zu leisten, wobei vielfach die Möglichkeit bestehe, die Körperhaltung zu verändern und den gesundheitlichen Erfordernissen anzupassen, Heben und Tragen schwerer Lasten, das Besteigen von Leitern und Gerüsten sowie rasch wechselnde Aufmerksamkeit oder ständig hohe Konzentration seien bei diesen Tätigkeiten in der Regel nicht erforderlich. Damit entsprächen sie dem von den medizinischen Gutachtern festgestellten Leistungsvermögen des Klägers.

Das LSG stützt sich dabei vor allem auf ein von ihm eingeholtes Gutachten des Sachverständigen Dr. Dr. H. vom 23. Oktober 1991 (nebst Zusatzgutachten), der zu dem Ergebnis kam, daß der Kläger leichte bis mittelschwere Arbeiten im Wechsel noch ganztags verrichten könne. Vermieden werden sollten Heben, Tragen und Bewegen schwerer Lasten einschließlich Halten, Drücken und Schieben; ferner längeres Arbeiten im Stehen, Überkopfarbeiten, Tätigkeiten auf Leitern und Gerüsten, an und mit gefährdenden Geräten und Maschinen, Schicht-, Akkord- und Fließbandarbeit sowie Tätigkeiten, die eine rasch wechselnde Aufmerksamkeit oder ständige hohe Konzentration erforderten.

Dem im Verfahren umstrittenen Anfalleiden mißt das LSG keine Wirkung auf die Erwerbsfähigkeit bei, da die vom Kläger behauptete Häufigkeit von drei bis vier Anfällen jährlich den Zugang zum Arbeitsmarkt nicht erschwere, zumal nach seinen Aussagen dem Anfall regelmäßig eine „Aura” in Form von Schwindelerscheinungen vorausgehe, welche ihn in die Lage versetzten, vor Eintritt der Bewußtlosigkeit Sicherungsmaßnahmen zu ergreifen, sich insbesondere aus einer etwaigen Gefahrenzone zu begeben, hinzusetzen oder hinzulegen.

Dagegen wendet sich der Kläger mit seiner Revision. Im Laufe des Revisionsverfahrens hat die Beklagte ein Teilanerkenntnis abgegeben, das der Kläger angenommen hat. Sie gewährt dem Kläger EU-Rente ab 1. April 1993.

Zur Begründung der Revision macht der Kläger geltend:

Zunächst habe das LSG den bisherigen Beruf unzureichend festgestellt. Es habe nicht eindeutig den Beruf des Bundesbahnrangierers ausgeschlossen, insbesondere nicht eindeutig festgestellt, daß er sich davon nicht aus gesundheitlichen Gründen gelöst habe. Es habe andererseits auch nicht unter Berücksichtigung der tariflichen Einordnung von Rangierern geprüft, ob es sich nicht um eine Berufsgruppe mit dem Leitberuf des angelernten Arbeiters, uU sogar im oberen Bereich, gehandelt habe.

Zudem habe das LSG die Verweisungstätigkeiten unzureichend bezeichnet. Es seien hier nur allgemeine Bezeichnungen verwendet und keine konkreten Tätigkeiten benannt worden. Sofern man die Tätigkeit des Güteprüfers und Fertigungskontrolleurs als hinreichend bezeichnet ansehen wollte, fehle es dort und auch im übrigen an der erforderlichen Abgleichung zwischen Restleistungsvermögen und Anforderungen der einzelnen Tätigkeiten. Hierzu sei darauf hinzuweisen, daß es sich bei Güteprüfern und Fertigungskontrolleuren regelmäßig um hochqualifizierte Facharbeiter oder Angestellte handele.

Darüber hinaus habe das LSG die Verweisungstätigkeiten unter Verletzung des rechtlichen Gehörs zugrunde gelegt, ohne daß vorher die Möglichkeit bestanden habe, zu diesen Berufstätigkeiten Stellung zu nehmen. Sie seien im bisherigen Verfahren nicht aufgetaucht.

Das LSG habe ferner nicht geprüft, ob es eine ausreichende Zahl von Arbeitgebern gebe, die das Risiko eingingen, Personen mit Anfalleiden einzustellen. Insoweit liege auch eine Verletzung des rechtlichen Gehörs darin, daß das LSG, ohne seine Sachkunde zu offenbaren oder diese Frage zur Diskussion zu stellen, das Urteil darauf gestützt habe, es gebe in diesem Rahmen hinreichend viele Arbeitsplätze, bei denen die Möglichkeit bestehe, sich hinzusetzen oder hinzulegen.

Der Kläger beantragt (dem Sinne nach),

die Urteile des LSG und des SG aufzuheben sowie die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide vom 19. September 1984 und 2. Oktober 1984 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. März 1985, soweit sie die Zeit vor dem 1. April 1993 betreffen, zu verurteilen, ihm Rente wegen EU – hilfsweise wegen BU – gemäß Antragstellung vom 27. Dezember 1983 auch für die Zeit bis 31. März 1993 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist zulässig. Sie ist auch im Sinne der Zurückverweisung begründet.

Der geltend gemachte Anspruch auf EU/BU-Rente richtet sich noch nach den Bestimmungen des Vierten Buches der Reichsversicherungsordnung (RVO), weil der Kläger den Rentenantrag bereits vor dem 1. April 1992 gestellt hat und sich der geltend gemachte Anspruch auch auf die Zeit vor dem 1. Januar 1992 bezieht (§ 300 Abs 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch ≪SGBVI≫; vgl BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 29).

Der Kläger begehrt in erster Linie Rente wegen EU; diese richtet sich nach § 1247 RVO. Nach Abs 1 dieser Vorschrift erhält ein Versicherter Rente, wenn er eu ist und zuletzt vor Eintritt der EU eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt hat, wenn im übrigen die Wartezeit erfüllt ist.

Eu ist ein Versicherter, der infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder von Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben oder nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann (§ 1247 Abs 2 RVO).

Nach den Feststellungen des LSG ist der Kläger in der Zeit bis zur mündlichen Berufungsverhandlung (27. Februar 1992) noch in der Lage gewesen, vollschichtig körperlich leichte Tätigkeiten in geschlossenen Räumen überwiegend im Sitzen zu verrichten, sofern die Möglichkeit besteht, die Körperhaltung zu verändern und den gesundheitlichen Erfordernissen anzupassen; Heben und Tragen schwerer Lasten, das Besteigen von Leitern und Gerüsten sowie rasch wechselnde Aufmerksamkeit oder ständig hohe Konzentration sind nicht zumutbar, ferner nicht Arbeiten mit gefährdenden Geräten sowie Maschinen-, Schicht-, Akkord- und Fließbandarbeiten. Das LSG benennt auch Tätigkeiten, die für den Kläger angesichts dieses Restleistungsvermögens noch in Betracht kommen. Es verweist auf „Tätigkeiten als Güteprüfer oder Fertigungskontrolleur für einfache Prüfaufgaben, Sortier- oder leichte Lagerarbeiten in Handel und Industrie, die nach kurzer innerbetrieblicher Einarbeitung zu verrichten sind”.

Diese Feststellungen erlauben indes keine Entscheidung, ob der Kläger eu ist. Es ist nicht hinreichend geklärt, ob eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorliegt, die zur Bezeichnung einer Verweisungstätigkeit zwingt. Die bisherigen Hinweise des LSG auf noch mögliche Tätigkeiten reichen als Bezeichnung nicht aus.

Nach der vom Großen Senat bestätigten Rechtsprechung des BSG (vgl den Beschluß vom 19. Dezember 1996 – GS 2/95 – Umdr S 10 ff mwN) ist einem Versicherten, der aus gesundheitlichen Gründen seine bisherige Erwerbstätigkeit nicht mehr ausüben kann, bei Verweisung auf das übrige Arbeitsfeld grundsätzlich zumindest eine Tätigkeit konkret zu benennen, die er noch ausüben kann. Eine derartige Bezeichnung einer Verweisungstätigkeit ist hingegen nicht erforderlich, wenn der Versicherte zwar nicht mehr zu körperlich schweren, aber doch vollschichtig zu mittelschweren oder leichten Arbeiten in der Lage und auf den allgemeinen Arbeitsmarkt ungelernter Tätigkeiten verweisbar ist.

Eine Ausnahme von diesem Grundsatz ist allerdings dann zu machen, wenn bei dem Versicherten eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorliegt. In diesem Fall kann nämlich nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, daß auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt für die an sich noch mögliche Vollzeittätigkeit eine ausreichende Anzahl von Arbeitsplätzen vorhanden ist. Es kommen vielmehr ernste Zweifel daran auf, ob der Versicherte mit dem ihm verbliebenen Leistungsvermögen in einem Betrieb einsetzbar ist.

Im Hinblick darauf, daß der Große Senat des BSG die vom erkennenden Senat angestrebte Fortentwicklung der Rechtsprechung zur Benennung von ungelernten Verweisungstätigkeiten für erheblich leistungsgeminderte, aber noch vollschichtig einsetzbare Versicherte (vgl die Vorlagebeschlüsse vom 24. November 1994 – 13 RJ 19/93 – ua) auch mit Rücksicht auf zwischenzeitliche gesetzgeberische Maßnahmen (vgl §§ 43, 44 SGB VI in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch) abgelehnt hat, kommt den Merkmalen „Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen” und „schwere spezifische Leistungsbehinderung” eine besondere Bedeutung zu.

Der dargestellten Systematik entsprechend liegt eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung nur dann vor, wenn die Fähigkeit des Versicherten, zumindest körperlich leichte Arbeiten vollschichtig zu verrichten, zusätzlich in erheblichem Umfang eingeschränkt ist. Dazu hat nach Auffassung des erkennenden Senats der Große Senat in seinen Beschlüssen vom 19. Dezember 1996 hinreichend deutlich gemacht, daß die Frage, ob im konkreten Fall eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung anzunehmen ist, nur unter Berücksichtigung der tatsächlichen Verhältnisse der Arbeitswelt, insbesondere auch der dort an Arbeitnehmer gestellten Anforderungen, zutreffend beantwortet werden kann (vgl bereits BSG SozR 2200 § 1246 Nr 81).

Unter dem Begriff „schwere spezifische Leistungsbehinderung” werden vom BSG diejenigen Fälle erfaßt, wo bereits eine schwerwiegende Behinderung ein weites Feld von Verweisungsmöglichkeiten versperrt. Hingegen trägt das Merkmal „Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen” dem Umstand Rechnung, daß auch eine Mehrzahl von Einschränkungen, die jeweils nur einzelne Verrichtungen oder Arbeitsbedingungen betreffen, zusammengenommen das noch mögliche Arbeitsfeld in erheblichem Umfang zusätzlich einengen können. Jede qualitative Leistungseinschränkung, zB der Ausschluß von Arbeiten auf Leitern und Gerüsten, versperrt dem Versicherten eine bestimmte Gruppe von Arbeitsplätzen, dh alle Tätigkeiten, bei denen – und sei es auch nur gelegentlich – die nicht mehr mögliche Leistungserbringung gefordert wird. Jede weitere Leistungseinschränkung schließt ihrerseits einen anderen Bereich des Arbeitsmarktes aus, wobei sich diese Bereiche überschneiden, aber auch zu einer größeren Einengung des Arbeitsmarktes addieren können. Mit jeder zusätzlichen Einengung steigt die Unsicherheit, ob in dem verbliebenen Feld noch ohne weiteres Beschäftigungsmöglichkeiten unterstellt werden können. In diesem Sinne kann letztlich auch eine größere Summierung „gewöhnlicher” Leistungseinschränkungen zur Benennungspflicht führen.

„Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen” und „schwere spezifische Leistungsbehinderung” sind unbestimmte Rechtsbegriffe, die einer Konkretisierung nur schwer zugänglich sind; denn zum einen sind die verschiedenen Leistungsanforderungen der auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in Betracht kommenden Arbeitsplätze kaum überschaubar und zudem ständigen Veränderungen unterworfen. Zum anderen können sich qualitative Leistungseinschränkungen je nach ihrer bei einem Versicherten vorliegenden Anzahl, Art und Schwere ganz unterschiedlich auf dessen betriebliche Einsetzbarkeit auswirken. Feste Grenzlinien lassen sich nicht festlegen, zumal auch der Begriff „leichte Arbeiten”, auf den sich die genannten Merkmale als Ausnahmen beziehen, Unschärfen enthält, die es erforderlich machen, die im Einzelfall vorliegenden Leistungseinschränkungen insgesamt in ihrer konkreten Bedeutung für die Einsetzbarkeit des Versicherten auf dem Arbeitsmarkt zu bewerten. Nur so erscheint eine „vernünftige Handhabung dieser weiten Begriffe” gewährleistet, wie sie der Große Senat des BSG in seinen Beschlüssen vom 19. Dezember 1996 (vgl zB GS 2/95 Umdr S 19) vorausgesetzt hat.

Im Hinblick auf diese Gegebenheiten sind die bisherigen Entscheidungen des BSG zum Vorliegen einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung nur als Einzelfallentscheidung zu werten, die den Besonderheiten der jeweiligen Sachlage Rechnung zu tragen suchen. Die vom BSG jeweils vorgenommenen Beurteilungen mögen zwar – auch wenn sie weder näher begründet noch berufskundlich oder arbeitswissenschaftlich belegt worden sind – im allgemeinen nachvollziehbar sein, ihnen lassen sich jedoch keine generellen Abgrenzungskriterien entnehmen; allenfalls können sie – soweit sie auf aktuellen Erkenntnissen zu den Verhältnissen der Arbeitswelt beruhen – Anhaltspunkte für weitere Entscheidungen liefern.

Da es für die Prüfung, ob eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorliegt, keinen konkreten Beurteilungsmaßstab gibt, können auch für die tatrichterliche Begründung und die dazu nötigen Tatsachenfeststellungen keine allgemeingültigen Anforderungen aufgestellt werden. Auch der Begründungsaufwand richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere hängt er von der Anzahl, Art und Schwere der bestehenden qualitativen Leistungseinschränkungen ab. Je mehr diese geeignet erscheinen, gerade auch typische Arbeitsplätze für körperlich leichte Tätigkeiten zu versperren, um so eingehender und konkreter muß das Tatsachengericht seine Entscheidung zur Frage einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung begründen.

Wie sich der Richter die jeweils erforderliche Tatsachenkenntnis verschafft, liegt in seinem Ermittlungsermessen (vgl § 103 SGG). Angesichts des (noch) unzulänglichen Gesamtüberblicks über typische Anforderungen ungelernter Verrichtungen ist ihm dabei ein weiter Freiraum für Einschätzungen zuzugestehen. Gleichwohl muß aus rechtsstaatlichen Gründen ein Mindestmaß an Berechenbarkeit und Nachvollziehbarkeit der Entscheidung gesichert bleiben. Zwar wird der Richter in vielen Fällen anhand allgemeinkundiger Tatsachen, seiner Berufserfahrung oder durch Beiziehung von Beweisergebnissen aus anderen Verfahren über eine Beurteilungsgrundlage verfügen, die eine Beweisaufnahme im Einzelfall erübrigt. Wegen der großen Beurteilungs- und Abgrenzungsschwierigkeiten ist dann regelmäßig eine eingehende Erörterung der Einschätzungen mit den Beteiligten erforderlich. Dort, wo dies nicht ausreicht – was vor allem in Grenzfällen so sein wird –, ist jedoch eine Beweisaufnahme erforderlich, zB durch Anhörung eines Sachverständigen der Arbeitsverwaltung, um aufzuklären, ob noch ein ausreichendes Verweisungsfeld vorliegt oder, falls dies nicht der Fall ist, eine geeignete Tätigkeit konkret benannt werden kann.

Diesen Anforderungen genügt das Berufungsurteil nicht. Das LSG hat allerdings Bereiche des allgemeinen Arbeitsmarkts beschrieben, in denen es seiner Auffassung nach noch Arbeitsplätze gibt, die der Kläger ausfüllen könnte. Dazu genügt die Nennung eines Arbeitsfeldes oder von Tätigkeiten der Art nach. Eine präzise Bezeichnung von einzelnen Tätigkeiten, wie sie notwendig ist, wenn bereits feststeht, daß zB eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vorliegt (vgl zu den Präzisierungsanforderungen BSG SozR 3-2200 § 1247 Nr 8 S 19; BSG, Urteil vom 8. Oktober 1992 – 13 RJ 24/90 –), ist auf der vorausgehenden Überlegungsstufe, bei der geprüft wird, wieweit der allgemeine Arbeitsmarkt durch die Behinderungen eingeschränkt ist, noch nicht erforderlich.

Der Kläger hat aber insoweit begründet die Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG) gerügt; denn es ist nicht erkennbar, daß diese Einschätzungen des LSG zu irgendeinem Zeitpunkt zur Diskussion gestanden haben. Der Kläger hat seine Einwendungen auch deutlich gemacht und mitgeteilt, daß er bei Kenntnis der Tatsache, daß das LSG die genannte Einschätzung zugrunde legen würde, ein Sachverständigengutachten beantragt hätte. Da der erkennende Senat die noch erforderlichen Feststellungen nicht selbst nachholen kann (§ 163 SGG), ist die Sache an das LSG zurückzuverweisen.

Im übrigen ist darauf hinzuweisen, daß die vom LSG vorgenommene Einschätzung des Arbeitsmarktes auch noch an anderen Mängeln leidet. Das LSG hat bei seiner Benennung von Tätigkeitsfeldern jeweils die Einschränkungen hinzugefügt, die den Behinderungen des Klägers entsprechen, ohne zu prüfen, ob es Arbeiten mit den genannten Einschränkungen überhaupt gibt. So ist zB nicht selbstverständlich, daß es für „einfache Prüfaufgaben” ein hinreichend bedeutsames Arbeitsfeld gibt; hierauf hat auch der Kläger hingewiesen. Dasselbe gilt für „leichte Lagerarbeiten”, zumal nach den eigenen Feststellungen des LSG der Kläger diese Tätigkeiten überwiegend im Sitzen verrichten müßte.

Kommt das LSG nach weiterer Sachaufklärung zu dem Ergebnis, daß eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorliegt, ist außerdem zu prüfen, ob für die dann zu benennende Verweisungstätigkeit der Arbeitsmarkt verschlossen ist (BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 137, 139; Beschluß vom 19. Dezember 1996 – GS 2/95 – Umdr. S. 14). Dabei ist insbesondere in Betracht zu ziehen, daß es sich um Schonarbeitsplätze handeln könnte.

In diesem Zusammenhang ist auch die Bedeutsamkeit des Anfalleidens auf der Basis der Entscheidung des erkennenden Senats vom 8. November 1995 (BSGE 77, 43) zu prüfen.

Über den Hilfsantrag auf Gewährung von BU-Rente hat der erkennende Senat noch nicht zu befinden.

Das LSG wird in seinem abschließenden Urteil auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173162

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