Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Urteil vom 22.10.1992; Aktenzeichen L 4 Kr 78/88)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 22. Oktober 1992 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Streitig ist die Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU), hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit (BU).

Die im Jahre 1938 geborene Klägerin ist jugoslawische Staatsangehörige und wohnt in ihrer Heimat. Sie hat keinen Beruf erlernt. In der Bundesrepublik Deutschland war sie von Dezember 1968 bis Dezember 1985 sowie im Oktober/November 1989 und Januar/Februar 1990 als Arbeiterin, zuletzt als Reinigungskraft, versicherungspflichtig beschäftigt. In den Zwischenzeiten war sie arbeitsunfähig erkrankt oder arbeitslos. In Jugoslawien hat sie keine Versicherungszeiten zurückgelegt.

Im November 1988 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung von Rente wegen BU oder EU. Diesen Antrag lehnte die Beklagte nach medizinischer Sachaufklärung durch Bescheid vom 23. August 1990 idF des Widerspruchsbescheides vom 6. Dezember 1990 mit der Begründung ab, nach den ärztlichen Feststellungen könne die Klägerin noch leichte bis mittelschwere Arbeiten vollschichtig ausüben. Nach ihrem beruflichen Werdegang sei sie auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar und daher nicht berufsunfähig, somit erst recht nicht erwerbsunfähig.

Klage und Berufung der Klägerin blieben ohne Erfolg (Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ Landshut vom 3. April 1992; Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 22. Oktober 1992). Das LSG hat seine ablehnende Entscheidung im wesentlichen wie folgt begründet:

Unter Berücksichtigung der umfangreichen ärztlichen Befunde sei die Klägerin nicht berufsunfähig und damit auch nicht erwerbsunfähig. Durch Veränderungen der Wirbelsäule, einen mäßigen paralumbalen Muskelhartspann sowie eine Verspannung des Trapeziusrandes werde die Beweglichkeit des Kopfes kaum, die des Rumpfes nur geringgradig eingeschränkt. Beschwerden im rechten Kniegelenk beruhten auf einer Gelenksarthrose, die im linken Knie bereits festzustellen sei. Beide Kniegelenke seien aber noch ausreichend beweglich. Des weiteren leide die Klägerin an einem Fersensporn rechts, der aber beim Tragen entsprechender Einlagen keine Einschränkung der Erwerbsfähigkeit bedinge. Nach einem Arbeitsunfall bestehe ein Streckdefizit der Finger drei bis fünf der rechten Hand. Dies führe nur zu einer Minderung der Fingerfertigkeit, aber nicht zu einer Einschränkung des Faustschlusses oder des Fingerspitzgriffs; auch die grobe Kraft sei nicht herabgesetzt. Schmerzen in der rechten Schulter hätten bislang zu keiner Funktionsbeeinträchtigung geführt. Die mäßige Hypertonie der Klägerin stünde Arbeiten ohne Streßbelastung nicht entgegen. Daß die Klägerin im Liegen unter Pochen im linken Ohr leide (sog Tinnitus), sei für ihre Leistungsfähigkeit ohne Belang. Weitere Leiden, insbesondere auch psychische Beschwerden, seien nicht nachweisbar. Nach alledem dürfe die Klägerin keine Arbeiten mit Streßbelastung ausüben. Heben und Tragen von schweren Lasten oder ständiges Bücken sei der Klägerin nicht mehr zumutbar, insgesamt würden sich körperlich schwere Arbeiten verbieten. Die Klägerin solle tunlichst wechselnde Körperhaltungen einnehmen können. Arbeiten auf Gerüsten, Leitern oder am Fließband seien ebenfalls nicht mehr möglich. Unter Beachtung dieser Einschränkungen sei die Klägerin aber noch in der Lage, leichte körperliche Arbeiten vollschichtig zu verrichten.

Als ungelernte Arbeiterin sei die Klägerin ohne Einschränkungen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar. Eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung liege nicht vor, so daß auch insoweit die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit nicht erforderlich sei. Es sei vielmehr davon auszugehen, daß für sie zumutbare Tätigkeiten im ausreichenden Umfang vorhanden seien. Ob sie tatsächlich einen solchen Arbeitsplatz finde, sei unbeachtlich. Dieses Risiko trage nicht die Rentenversicherung, sondern die Arbeitslosenversicherung.

Da weder BU noch EU vorliege, könne dahinstehen, ob die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen der §§ 1246 Abs 2a, 1247 Abs 2a der Reichsversicherungsordnung (RVO) erfüllt seien.

Mit ihrer – vom Senat zugelassenen – Revision rügt die Klägerin eine Verletzung der §§ 1246, 1247 RVO sowie der §§ 103, 106 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Zur Begründung trägt sie vor: Ihr stehe EU-Rente zu, da sie wegen ihrer Gesundheitsstörungen und der Vielzahl der vorliegenden qualitativen Leistungseinschränkungen nicht mehr in der Lage sei, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben. Selbst wenn man davon ausgehe, daß sie nach dem Mehrstufenschema als ungelernte Arbeiterin einzustufen sei, hätte das LSG eine Verweisungstätigkeit konkret bezeichnen müssen, da sie bei einer Gesamtbetrachtung den typischen Anforderungen des allgemeinen Arbeitsmarktes nicht mehr gewachsen sei. Das LSG hätte sich gedrängt fühlen müssen, dazu ein berufskundliches Gutachten einzuholen, und habe daher seine Amtsermittlungspflicht verletzt. Es sei nicht ersichtlich, welche leichten Tätigkeiten es gebe, die unter den vielfältigen Einschränkungen, die das LSG festgestellt habe, noch ausgeübt werden könnten.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

die Urteile des Bayerischen LSG vom 22. Oktober 1992 und des SG Landshut vom 3. April 1992 sowie den Bescheid der Beklagten vom 23. August 1990 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Dezember 1990 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr unter Beachtung des Datums der Antragstellung vom 9. November 1988 Rente wegen EU, hilfsweise wegen BU, zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Ergänzend trägt sie vor: Bei einer Gesamtbetrachtung aller Beschwerden der Klägerin lägen keine ungewöhnlichen Leistungseinschränkungen vor, die die Benennung einer Verweisungstätigkeit erforderlich machen würden. Mehrere der festgestellten Beschwerden seien für die Erwerbsfähigkeit belanglos. Insbesondere sei das Streckdefizit der rechten Hand eine Einschränkung von derart geringem Ausmaß, daß es keine spezifische Beeinträchtigung darstelle.

Der erkennende Senat hat zu den Verhältnissen des allgemeinen Arbeitsmarktes – insbesondere soweit er für erheblich leistungsgeminderte Arbeiter in Betracht kommt – die Arbeitswissenschaftler Prof. Dr. F. … (Gesamthochschule Kassel – Universität –, Institut für Arbeitswissenschaft), Prof. Dr. L. … (Universität Hohenheim, Institut für Arbeitswissenschaft und Haushaltstechnologie), Dr. B. … sowie Dr. P. … (beide Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit ≪IAB≫) schriftlich und – in der Sitzung vom 22. November 1994 – mündlich als Sachverständige gehört. Sodann hat er nach § 41 Abs 4 SGG dem Großen Senat des Bundessozialgerichts (BSG) folgende Rechtsfragen zur Entscheidung vorgelegt:

  1. Ist für die Beurteilung, ob eine Versicherte der Gruppe mit dem Leitbild der angelernten Arbeiterin im unteren Bereich oder der Gruppe mit dem Leitbild der ungelernten Arbeiterin berufs- oder erwerbsunfähig ist, die konkrete Benennung von Verweisungstätigkeiten erforderlich, wenn sie ihren bisherigen Beruf nicht mehr ausüben und auch sonst nur noch körperlich leichte Arbeiten mit weiteren Einschränkungen verrichten kann ?
  2. Sind die Fallgruppen, bei denen das Bundessozialgericht bisher die erhebliche Gefahr einer Verschlossenheit des Arbeitsmarktes angenommen hat, als abschließend anzusehen ?

Der Große Senat hat die – von ihm teilweise anders gefaßten – Fragen durch Beschluß vom 19. Dezember 1996 – GS 2/95 – verneint.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (vgl § 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Klägerin ist zulässig und begründet. Sie führt zur Zurückverweisung der Sache an das LSG. Wegen fehlender Tatsachenfeststellungen kann noch nicht abschließend entschieden werden, ob das LSG zu Unrecht das Urteil des SG bestätigt hat, durch welches die auf Versichertenrente wegen EU, hilfsweise wegen BU, gerichtete Klage abgewiesen worden ist.

Der Anspruch der Klägerin auf Versichertenrente wegen EU oder BU richtet sich noch nach dem Vierten Buch der RVO, da der Rentenantrag bereits im Jahre 1988 – also bis zum 31. März 1992 – gestellt worden ist und er sich auch auf die Zeit vor dem 1. Januar 1992 bezieht (vgl § 300 Abs 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Rentenversicherung – ≪SGB VI≫; BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 29).

Rente wegen EU, welche die Klägerin in erster Linie begehrt, erhält gemäß § 1247 Abs 1 RVO ein Versicherter, der erwerbsunfähig ist und zuletzt vor Eintritt der EU eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt hat, wenn die Wartezeit erfüllt ist. Erwerbsunfähig ist der Versicherte, der infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder von Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben oder nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann (vgl § 1247 Abs 2 RVO).

Zwar ist die Klägerin im Rahmen der Prüfung von EU ohne subjektive Zumutbarkeitsbeschränkung (iS eines Berufsschutzes) auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar. Der vorliegende Fall gibt jedoch Anlaß, der Frage nachzugehen, ob sie mit ihren Leistungseinschränkungen – gemessen an den tatsächlichen Anforderungen der Arbeitswelt – noch in erforderlichem Umfang erwerbstätig sein kann (vgl dazu BSG SozR 3-2200 § 1247 Nr 8). Dies vermag der erkennende Senat auf der Grundlage der berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen nicht sicher zu beurteilen, zumal das LSG keine für die Klägerin geeigneten Tätigkeitsfelder aufgezeigt hat.

Nach der jetzt vom Großen Senat des BSG (vgl den Beschluß vom 19. Dezember 1996 – GS 2/95 – Umdr S 10 ff mwN) bestätigten Rechtsprechung des BSG ist einem Versicherten, der aus gesundheitlichen Gründen seine bisherige Erwerbstätigkeit nicht mehr verrichten kann, bei Verweisung auf das übrige Arbeitsfeld grundsätzlich zumindest eine Tätigkeit konkret zu benennen, die er noch auszuüben vermag. Eine derartige Bezeichnung einer Verweisungstätigkeit ist hingegen nicht erforderlich, wenn der Versicherte – wie die Klägerin – zwar nicht mehr zu körperlich schweren, aber doch vollschichtig zu mittelschweren oder leichten Arbeiten in der Lage ist und auf den allgemeinen Arbeitsmarkt ungelernter Tätigkeiten verweisbar ist.

Eine Ausnahme von diesem Grundsatz ist allerdings dann zu machen, wenn bei dem Versicherten eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorliegt. In diesem Falle kann nämlich nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, daß auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt für die an sich noch mögliche Vollzeittätigkeit eine ausreichende Anzahl von Arbeitsplätzen vorhanden ist. Es kommen vielmehr ernste Zweifel daran auf, ob der Versicherte mit dem ihm verbliebenen Leistungsvermögen in einem Betrieb einsetzbar ist.

Im Hinblick darauf, daß der Große Senat des BSG die vom erkennenden Senat angestrebte Fortentwicklung der Rechtsprechung zur Benennung von ungelernten Verweisungstätigkeiten für erheblich leistungsgeminderte, aber noch vollschichtig einsetzbare Versicherte (vgl den Vorlagebeschluß vom 23. November 1994) auch mit Rücksicht auf zwischenzeitliche gesetzgeberische Maßnahmen (vgl §§ 43, 44 in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch) abgelehnt hat, kommt den Merkmalen „Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen” und „schwere spezifische Leistungsbehinderung” eine besondere Bedeutung zu.

Der dargestellten Systematik entsprechend liegt eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung nur dann vor, wenn die Fähigkeit der Versicherten, zumindest körperlich leichte Arbeiten vollschichtig zu verrichten, zusätzlich in erheblichem Umfang eingeschränkt ist. Dazu hat nach Auffassung des erkennenden Senats der Große Senat des BSG in seinen Beschlüssen vom 19. Dezember 1996 hinreichend deutlich gemacht, daß die Frage, ob im konkreten Fall eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung anzunehmen ist, nur unter Berücksichtigung der tatsächlichen Verhältnisse der Arbeitswelt, insbesondere auch der dort an Arbeitnehmer gestellten Anforderungen, zutreffend beantwortet werden kann (vgl bereits BSG SozR 2200 § 1246 Nr 81).

Unter dem Begriff „schwere spezifische Leistungsbehinderung” werden vom BSG diejenigen Fälle erfaßt, wo bereits eine schwerwiegende Behinderung ein weites Feld von Verweisungsmöglichkeiten versperrt. Hingegen trägt das Merkmal „Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen” dem Umstand Rechnung, daß auch eine Mehrzahl von Einschränkungen, die jeweils nur einzelne Verrichtungen oder Arbeitsbedingungen betreffen, zusammengenommen das noch mögliche Arbeitsfeld in erheblichem Umfang zusätzlich einengen können. Jede qualitative Leistungseinschränkung, zB der Ausschluß von Arbeiten auf Leitern und Gerüsten, versperrt der Versicherten eine bestimmte Gruppe von Arbeitsplätzen, dh alle Tätigkeiten, bei denen – und sei es auch nur gelegentlich – die nicht mehr mögliche Leistungserbringung gefordert wird. Jede weitere Leistungseinschränkung schließt ihrerseits einen anderen Bereich des Arbeitsmarktes aus, wobei sich diese Bereiche überschneiden, aber auch zu einer größeren Einengung des Arbeitsmarktes addieren können. Mit jeder zusätzlichen Einengung steigt die Unsicherheit, ob in dem verbliebenen Feld noch ohne weiteres Beschäftigungsmöglichkeiten unterstellt werden können. In diesem Sinne kann letztlich auch eine größere Summierung „gewöhnlicher” Leistungseinschränkungen zur Benennungspflicht führen.

„Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen” und „schwere spezifische Leistungsbehinderung” sind unbestimmte Rechtsbegriffe, die einer Konkretisierung nur schwer zugänglich sind. Denn zum einen sind die verschiedenen Leistungsanforderungen der auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in Betracht kommenden Arbeitsplätze kaum überschaubar und zudem ständigen Veränderungen unterworfen. Zum anderen können sich qualitative Leistungseinschränkungen je nach ihrer bei einem Versicherten vorliegenden Anzahl, Art und Schwere ganz unterschiedlich auf dessen betriebliche Einsetzbarkeit auswirken. Feste Grenzlinien lassen sich nicht festlegen, zumal auch der Begriff „leichte Arbeiten”, auf den sich die genannten Merkmale als Ausnahmen beziehen, Unschärfen enthält, die es erforderlich machen, die im Einzelfall vorliegenden Leistungseinschränkungen insgesamt in ihrer konkreten Bedeutung für die Einsetzbarkeit des Versicherten auf dem Arbeitsmarkt zu bewerten. Nur so erscheint eine „vernünftige Handhabung dieser weiten Begriffe” gewährleistet, wie sie der Große Senat des BSG in seinem Beschluß vom 19. Dezember 1996 (GS 2/95, Umdr S 19) vorausgesetzt hat.

Im Hinblick auf diese Gegebenheiten sind die bisherigen Entscheidungen des BSG zum Vorliegen einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung nur als Einzelfallentscheidungen zu werten, die den Besonderheiten der jeweiligen Sachlage Rechnung zu tragen suchen. Die vom BSG jeweils vorgenommenen Beurteilungen mögen zwar – auch wenn sie weder näher begründet noch berufskundlich oder arbeitswissenschaftlich belegt worden sind – im allgemeinen nachvollziehbar sein, ihnen lassen sich jedoch keine generellen Abgrenzungskriterien entnehmen; allenfalls können sie – soweit sie auf aktuellen Erkenntnissen zu den Verhältnissen der Arbeitswelt beruhen – Anhaltspunkte für weitere Entscheidungen liefern.

Da es für die Prüfung, ob eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorliegt, keinen konkreten Beurteilungsmaßstab gibt, können auch für die tatrichterliche Begründung und die dazu nötigen Tatsachenfeststellungen keine allgemeingültigen Anforderungen aufgestellt werden. Auch der jeweilige Begründungsaufwand richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere hängt er von der Anzahl, Art und Schwere der bestehenden qualitativen Leistungseinschränkungen ab. Je mehr diese geeignet erscheinen, gerade auch typische Arbeitsplätze für körperlich leichte Tätigkeiten zu versperren, um so eingehender und konkreter muß das Tatsachengericht seine Entscheidung zur Frage einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung begründen.

Wie sich der Richter die jeweils erforderliche Tatsachenkenntnis verschafft, liegt in seinem Ermittlungsermessen (vgl § 103 SGG). Angesichts des (noch) unzulänglichen Gesamtüberblicks über typische Anforderungen ungelernter Verrichtungen ist ihm dabei ein weiter Freiraum für Einschätzungen zuzugestehen. Gleichwohl muß aber aus rechtsstaatlichen Gründen ein Mindestmaß an Berechenbarkeit und Nachvollziehbarkeit der Entscheidung gesichert bleiben. Zwar wird der Richter in vielen Fällen anhand allgemeinkundiger Tatsachen, seiner Berufserfahrung oder durch Beiziehung von Beweisergebnissen aus anderen Verfahren über eine Beurteilungsgrundlage verfügen, die eine Beweisaufnahme im Einzelfall erübrigt. Wegen der großen Beurteilungs- und Abgrenzungsschwierigkeiten ist dann regelmäßig eine eingehende Erörterung der Einschätzungen mit den Beteiligten erforderlich. Dort, wo dies nicht ausreicht – was vor allem in Grenzfällen so sein wird –, ist jedoch eine Beweisaufnahme erforderlich, zB durch Anhörung eines Sachverständigen der Arbeitsverwaltung, um aufzuklären, ob noch ein ausreichendes Verweisungsfeld vorliegt oder, falls dies nicht der Fall ist, eine geeignete Tätigkeit konkret benannt werden kann.

Nach diesen Grundsätzen reichen die berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen nicht aus, um im vorliegenden Fall eine Pflicht zur Benennung einer Verweisungstätigkeit verneinen zu können. Den Feststellungen des LSG zufolge ist davon auszugehen, daß die Klägerin noch vollschichtig leichte Tätigkeiten verrichten kann. Ausgeschlossen sind allerdings Arbeiten mit Heben und Tragen von schweren Lasten, ständigem Bücken, mit besonderen Anforderungen an die Fingerfertigkeit, Streßbelastung, auf Leitern und Gerüsten sowie am Fließband. Anzustreben sind wechselnde Körperhaltungen. Ob angesichts dieses Restleistungsvermögens eine weitere Erwerbstätigkeit der Klägerin in ihrem bisherigen Beruf als Reinigungskraft ausscheidet, läßt sich dem Berufungsurteil nicht mit hinreichender Deutlichkeit entnehmen. Das LSG hat sich darauf beschränkt festzustellen, daß für die Klägerin auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zumutbare Arbeitsplätze in ausreichendem Umfange vorhanden seien.

Das LSG hat dazu lediglich ausgeführt, es liege bei der Klägerin weder eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen noch eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vor. Mit einer derart pauschalen Bewertung durfte sich die Vorinstanz nicht begnügen. Wie der erkennende Senat schon in einem Vorlagebeschluß vom 23. November 1994 dargelegt hat, liegt dieses Restleistungsvermögen in einem Grenzbereich, der mit den bisherigen Kriterien nicht klar zu beurteilen ist. Daraus folgen erweiterte Begründungserfordernisse. Im übrigen hatte die Klägerin im Berufungsverfahren bestritten, daß sie ihr verbleibendes Leistungsvermögen auf dem Arbeitsmarkt noch verwerten könne, und angeregt, dazu ggf ein berufskundliches Sachverständigengutachten einzuholen. Zwar bewegen sich die Leistungseinschränkungen der Klägerin weitgehend in dem Rahmen, der ohnehin regelmäßig von körperlich leichten Tätigkeiten eingehalten wird, jedoch weisen sie auch einige Besonderheiten auf, deren Auswirkungen auf dem allgemeinen Arbeitsfeld hätten näher geprüft werden müssen. Insbesondere wäre dabei zu untersuchen gewesen, inwiefern die hier angesichts des offensichtlichen Fehlens besonderer beruflich verwertbarer Kenntnisse und Fähigkeiten in Betracht kommenden fachlich einfachen und zugleich körperlich leichten Arbeiten häufig gerade einen Einsatz am Fließband bedingen und/oder erhöhte Fingerfertigkeit erfordern (vgl Schimanski, SozVers 1991, 169, 171).

Da der erkennende Senat die somit noch erforderlichen Ermittlungen im Revisionsverfahren nicht selbst nachholen kann (vgl § 163 SGG), ist das Berufungsurteil gemäß § 170 Abs 2 Satz 2 SGG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Kommt das LSG nach weiterer Sachaufklärung zu dem Ergebnis, daß eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorliegt, bleibt zu prüfen, ob für die dann zu benennende Verweisungstätigkeit der Arbeitsmarkt verschlossen ist (vgl dazu jetzt auch den Beschluß des Großen Senats des BSG vom 19. Dezember 1996 – GS 2/95 – Umdr S 14). Dabei ist insbesondere in Betracht zu ziehen, daß es sich um Schonarbeitsplätze handeln könnte.

Das LSG wird auch über die Kosten des Verfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173220

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