Verfahrensgang

LSG Hamburg (Urteil vom 26.04.1991)

SG Hamburg (Urteil vom 16.02.1990; Aktenzeichen 5 KG 9/88)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten werden das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 26. April 1991 und das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 16. Februar 1990 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten auch im Revisionsverfahren über die Frage, ob der Klägerin ab Januar 1986 Kindergeld nach den Vorschriften des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) zustand. Das Sozialgericht Hamburg (≪SG≫ Urteil vom 16. Februar 1990) und das Landessozialgericht Hamburg (≪LSG≫ Urteil vom 26. April 1991) haben dies bejaht.

Die Klägerin unterrichtete von 1984 bis August 1990 im Auftrag des spanischen Erziehungsministeriums als beamtete Lehrerin spanische Schüler in der Bundesrepublik Deutschland. Ihr Gehalt sowie eine Familienhilfe erhielt sie vom spanischen Staat. Sie zahlte in Deutschland keine Einkommensteuer. Bei ihr wohnten drei in den Jahren 1971 bis 1978 geborene Kinder. Weitere Kinder hielten sich in Spanien auf. Für die minderjährigen Kinder wurde der Klägerin das Sorgerecht übertragen, nachdem ihre Ehe geschieden worden ist.

In dem vorliegenden Rechtsstreit wendet sie sich gegen den Bescheid der Beklagten vom 3. Dezember 1987, mit welchem ihr Antrag, erneut Kindergeld zu bewilligen, abgelehnt wurde. Der hiergegen erhobene Widerspruch blieb erfolglos (Bescheid vom 22. Januar 1988). In dem Widerspruchsbescheid heißt es ua, der Gewährung von Kindergeld stehe Art 13 der Verordnung Nr 1408/71 über die Anwendung der Systeme der Sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (EWGV Nr 1408/71) entgegen.

In dem zusprechenden Urteil des SG ist ausgeführt, daß die hier zu entscheidende Frage in Art 13 EWGV Nr 1408/71 nicht geregelt sei. Nach den Vorschriften des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) habe die Klägerin Anspruch auf die begehrte Leistung. Auch das LSG ist zu dem Ergebnis gekommen, daß Art 13 EWGV Nr 1408/71 keine Regelung hinsichtlich der Leistungsberechtigung der Klägerin treffe, sondern daß in dem Titel II der EWGV lediglich die Frage entschieden worden sei, welcher von mehreren Staaten der Gemeinschaft im Falle des Vorliegens von Versicherungspflicht des Bürgers eines Mitgliedstaates zuständig sei. Für Leistungsansprüche könne dies schon deshalb nicht gelten, weil in Art 76 EWGV Nr 1408/71 eine Regelung für den Fall getroffen sei, daß mehrere Staaten leistungsverpflichtet seien. Art 13 EWGV Nr 1408/71 hindere nicht die Kumulierung von Leistungsansprüchen gegenüber mehreren Staaten der Gemeinschaft; die Vorschrift lege fest, daß Beiträge nur von einem einzigen Staat erhoben werden dürften.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Mit der Revision macht die Beklagte geltend, im vorliegenden Rechtsstreit sei die EWGV Nr 1408/71 anzuwenden, weil Spanien mit Wirkung vom 1. Januar 1986 der Gemeinschaft beigetreten sei. Art 13 EWGV Nr 1408/71 beinhalte auch eine Zuordnung hinsichtlich der Leistungsberechtigung. Wenn in dieser Vorschrift nämlich die Zuständigkeit eines EG-Staates begründet werde, führe dies zwangsläufig dazu, daß sich die Leistungsberechtigung nach den Normen des zuständigen Staates richte. Dies gelte einheitlich für alle in der Verordnung angesprochenen Systeme der sozialen Sicherheit. Die angefochtene Entscheidung des LSG beruhe zum Teil auf Urteilen des Europäischen Gerichtshofes (EuGH), welche aufgrund einer früheren Fassung der EWGV Nr 1408/71 ergangen seien. Dagegen habe der Gerichtshof die Erheblichkeit des Art 13 EWGV Nr 1408/71 im Hinblick auch auf Familienbeihilfe bejaht. Die Kumulierungsvorschriften dieser Verordnung kämen nur in Betracht, wenn beispielsweise der Ehegatte in einem anderen Lande wohne und arbeite und dort ebenfalls ähnliche Leistungen erhalte.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 26. April 1991 und das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 16. Februar 1990 aufzuheben, die Klage abzuweisen sowie zu entscheiden, daß außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten sind.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie weist auf die Begründung des angefochtenen Urteils hin und regt außerdem an, wegen der Anwendung und der Auslegung der EWGV Nr 1408/71 den EuGH anzurufen.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Beklagten ist begründet. Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf die Gewährung von Kindergeld ab Januar 1986. Dieser Anspruch ist durch das europäische Gemeinschaftsrecht ausgeschlossen. Die vorinstanzlichen Urteile mußten daher aufgehoben und die Klage abgewiesen werden.

Mit den Gerichten der Vorinstanzen und den Verfahrensbeteiligten ist bei der Beantwortung der hier zu entscheidenden Frage von der EWGV Nr 1408/71 auszugehen. Einmal unterliegen nach Art 2 Abs 3 EWGV Nr 1408/71 grundsätzlich auch Beamte diesen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts. Zudem sind gemäß Art 4 Abs 1 Buchst h EWGV Nr 1408/71 Familienleistungen in die Regelung der Verordnung einbezogen. Zu diesen Familienleistungen gehört, was inzwischen keiner ausführlichen Darstellung mehr bedarf, auch das nach den Vorschriften des BKGG zu leistende Kindergeld.

Im Titel II der EWGV Nr 1408/71, auf welchen die Vorinstanzen mit Recht abgestellt haben, ist festgelegt, wessen Rechtsvorschriften anzuwenden sind. Dabei geht der Verordnungsgeber in Art 13 Abs 1 von dem Grundsatz aus, daß die der Verordnung unterliegenden Personen den Regeln nur eines einzigen Mitgliedstaates unterliegen. Die folgenden Vorschriften des Art 13 Abs 2 bis Art 17a enthalten – ausgenommen Art 14c – Vorschriften, in denen im einzelnen festgelegt ist, welcher Mitgliedstaat zuständig ist (EuGH SozR 6050 Art 13 Nr 8 = EuGHE 1986, 1821). Diese Vorschriften bilden nach Auffassung des EuGH ein geschlossenes System von Kollisionsnormen, welches die gleichzeitige Anwendung der Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten und die damit verbundenen Schwierigkeiten verhindert (EuGH SozR 6050 Art 14 Nr 2 = EuGHE 1982, 3027; s auch SozR 6050 Art 13 Nr 9 = EuGHE 1986, 2365 und EuGHE I 1990, 1755).

Unter den geschilderten rechtlichen Bedingungen hat die Klägerin demgemäß ab 1986, der Wirksamkeit des Beitritts Spaniens zur Gemeinschaft, nach Art 13 Abs 2 Buchst d EWGV Nr 1408/71 keinen zusätzlichen Anspruch auf Sozialleistungen gegen deutsche Leistungsträger. Nach den Feststellungen im angefochtenen Urteil war die Klägerin im Sinne dieser Vorschrift in einer spanischen Behörde, nämlich dem zuständigen Ministerium Spaniens, beschäftigt. Insoweit ist nicht etwa darauf abzustellen, in welcher Weise die Klägerin in das deutsche Schulwesen integriert war, ob sie beispielsweise Weisungen einer deutschen Behörde unterworfen war. Denn Beschäftigungsbehörde eines entsandten Beamten iS des Art 13 Abs 2 Buchst d EWGV 1408/71 ist die des Entsendestaates, zu dem er in einem beamtenrechtlichen Sonderrechtsverhältnis steht. Anderenfalls wäre sein kollisionsrechtlicher Status von der zufälligen Ausgestaltung seiner konkreten Tätigkeit im Staat seiner Berufsausübung (Einbindung zB in eine staatliche oder private Schule?) abhängig. Die in Art 13 Abs 2 Buchst d EWGV Nr 1408/71 enthaltene Sonderregelung für Beamte weicht deutlich von der allgemeinen Grundregel des Art 13 Abs 2 Buchst a EWGV Nr 1408/71 ab. Danach sind die Regeln des Staates anzuwenden, in welchem ein Arbeitnehmer beschäftigt ist. Hiervon sind Beamte und gleichgestellte Personen ausgenommen, weil sie in der Regel auch weiterhin in einem Sonderrechtsverhältnis zu dem Beschäftigungsstaat stehen, von welchem sie zur Erfüllung ihnen übertragener Aufgaben in einen anderen Mitgliedstaat gesandt werden.

Die Vorschrift des Art 13 Abs 2 Buchst d EWGV Nr 1408/71 gilt auch für Familienleistungen, zu denen naturgemäß auch das Kindergeld rechnet. Dies folgt allein schon aus der Tatsache, daß die Verordnung, wie dargelegt, die Familienleistungen in ihre Regelungen einbezieht und im Titel II der Verordnung für solche Leistungen Sonderregelungen nicht getroffen sind (vgl Urteile des EuGH vom 19. Februar 1981 – SozR 6050 Art 73 Nr 3 und vom 17. Mai 1984 – SozR 6050 Art 17 Nr 2 = EuGHE 1984, 2223).

Entgegen der vom LSG vertretenen Meinung sollen die Vorschriften des Titels II nicht lediglich eine Belastung der Arbeitnehmer mit doppelter Beitragspflicht verhindern; sie treffen auch eine Zuordnung hinsichtlich der Leistungsberechtigung. Das LSG bezieht sich insoweit mit Stimmen der Literatur, aber dennoch zu Unrecht auf das Urteil des EuGH vom 9. Juni 1964 (SozR Nr 1 zu Art 12 EWG-VO Nr 3). Hierin hatte der Gerichtshof zwar die Auffassung vertreten, der Wohnsitzstaat sei nicht gehindert, einen zusätzlichen sozialversicherungsrechtlichen Schutz zu gewähren, solange hierdurch keine Beitragspflicht entstehe. Diese Rechtsprechung ist jedoch überholt. Sie beruhte auf Art 12 der EWG-VO Nr 3/1958, während demgegenüber die Nachfolgevorschrift des Art 13 Nr 1 EWGV 1408/71 erkennbar enger gefaßt ist „… unterliegen Personen, für die diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats” statt: „… gelten für Arbeitnehmer (die) Rechtsvorschriften (des Beschäftigungsstaates) auch dann, wenn …”). Entsprechend ist auch der Gerichtshof in den Urteilen vom 12. Juni 1986 und 10. Juli 1986 (wie aus dem vollständigen Abdruck in EuGHE 1986, 1821 ≪1826≫; 1986, 2365 ≪2367≫ hervorgeht – insoweit in SozR 6050 Art 13 Nrn 8, 9 nicht abgedruckt), weitergehenden Anträgen des Generalanwalts nicht gefolgt; dieser hatte jeweils beantragt, festzustellen, daß nichts den Wohnsitzstaat hindere, über seine Zuständigkeit nach Art 13 EWGV 1408/71 hinaus „freiwillig Leistungen der sozialen Sicherheit zu gewähren”. So hat der Gerichtshof im Urteil vom 10. Juli 1986 auch bereits im Hinblick auf Familienleistungen betont, die Mitgliedstaaten könnten nicht auch bestimmen, inwieweit ihre eigenen Rechtsvorschriften anwendbar seien; sie seien vielmehr verpflichtet, die geltenden Vorschriften des Gemeinschaftsrechts – vor allem des Titels II der EWGV 1408/71 -zu beachten. Dieser Grundsatz stehe auch nicht im Widerspruch zur Rechtsprechung des Gerichtshofes (s namentlich das Urteil vom 21. Oktober 1975 in der Rechtssache 24/75, EuGHE 1975, 1149), wonach die Anwendung der EWGV 1408/71 nicht zum Verlust von Ansprüchen führen darf, die allein nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats erworben worden sind. Dieser Grundsatz betreffe nämlich nicht die Regeln für die Bestimmung der anwendbaren Rechtsvorschriften, sondern die Gemeinschaftsregeln über die Kumulierung von Leistungen aufgrund der Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten. Er könne daher nicht bewirken, daß der Betroffene entgegen Art 13 Abs 1 der EWGV 1408/71 für einen bestimmten Zeitraum nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten – unabhängig von Beitragspflichten und anderen sich für ihn daraus evtl ergebenden Verpflichtungen – versichert ist (EuGHE 1986, 2365 ≪2373≫ = SozR 6050 Art 13 Nr 9).

Damit bilden nach der Rechtsprechung des EuGH, der der erkennende Senat voll beipflichtet, die Vorschriften des Titels II auch für Familienleistungen ein geschlossenes System von Kollisionsnormen, das dem Gesetzgeber des einzelnen Mitgliedstaates die Befugnis nimmt, Geltungsbereich und Anwendungsvoraussetzungen seiner nationalen Rechtsvorschriften im Hinblick darauf zu bestimmen, welche Personen ihm unterliegen und in welchem Gebiet sie ihre Wirkung entfalten sollen (EuGH Urteil vom 19. Februar 1981 aaO).

Entgegen der offenbar vom LSG vertretenen Auffassung begründet auch Art 73 EWGV Nr 1408/71 nicht etwa eine selbständige Anspruchsgrundlage für Familienleistungen. Vielmehr orientiert diese Vorschrift sich an den allgemeinen in Art 13 EWGV Nr 1408/71 enthaltenen Zuständigkeitsregeln, und zwar auch dann, wenn die Familienangehörigen, für die Familienleistungen beansprucht werden, nicht in dem Mitgliedstaat wohnen, dessen Rechtsvorschriften anzuwenden sind. Sie trifft lediglich eine Klarstellung dahin, daß es auf das Wohnsitzerfordernis des jeweiligen Familienangehörigen nicht ankommt, selbst wenn kumulierende Leistungen mehrerer Mitgliedstaaten für Eheleute, die in verschiedenen Mitgliedstaaten beschäftigt sind, in Betracht kommen; vielmehr orientiert sich die Leistungsverpflichtung weiterhin an Art 13 EWGV Nr 1408/71. So erwirbt beispielsweise nach der Rechtsprechung des EuGH ein Grenzgänger, der mit seiner Frau und den Kindern in einem anderen Mitgliedstaat als dem Beschäftigungsstaat wohnt, in letzterem nach den Bestimmungen des Art 73 iVm Art 13 Abs 2 Buchst a EWGV Nr 1408/71 einen Anspruch auf Familienleistungen kraft Gemeinschaftsrechts (EuGH Urteil vom 19. Februar 1981 aaO). Art 13 Abs 1 EWGV Nr 1408/71 schließt dagegen die Anwendung von Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten bezüglich ein und derselben anspruchsberechtigten Person grundsätzlich aus.

Auf den der Entscheidung zugrunde liegenden Fall übertragen bedeutet dies, daß die Klägerin weiterhin nur den Rechtsvorschriften des Entsendestaates – hier: Spanien – unterliegt.

Die Urteile des LSG und des SG konnten keinen Bestand haben; sie waren aufzuheben. Die Klage war abzuweisen. Eine Veranlassung, den EuGH zu einer Vorabentscheidung über die hier aufgeworfene Frage anzurufen, bestand für den Senat nicht. Einerseits ergibt sich die vorliegende Entscheidung eindeutig aus Aufbau und Inhalt der EWGV Nr 1408/71. Zum anderen liegen hinsichtlich des hier zu entscheidenden Fragenkomplexes die zitierten Entscheidungen des EuGH vor, denen der Senat gefolgt ist.

Die Kostentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

NJW 1994, 1366

NVwZ 1993, 919

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