Entscheidungsstichwort (Thema)

Behinderung. Grad der Behinderung. Feststellungsbescheid. Schwerbehindertengesetz. notwendiger Inhalt. Änderung der Verhältnisse. Heilungsbewährung. Krebserkrankung. Vertrauensschutz

 

Leitsatz (amtlich)

Der Schwerbehindertenstatus ist auch dann zu entziehen, wenn die im Bescheid genannte nicht erhebliche Behinderung unverändert besteht, aber eine nicht genannte erhebliche Behinderung – hier Schonungsbedürftigkeit nach Krebsoperation – weggefallen ist.

 

Normenkette

SGB X § 45 Abs. 1-2, § 48 Abs. 1 S. 1; SchwbG § 4 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LSG Hamburg (Urteil vom 05.03.1991; Aktenzeichen IV VSBf 15/89)

SG Hamburg (Urteil vom 15.08.1989; Aktenzeichen 29 VS 553/88)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 5. März 1991 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten im Revisionsverfahren sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Der Rechtsstreit wird um die Frage geführt, ob beim Wegfall einer Behinderung, die in einem bindend gewordenen Bescheid nicht aufgeführt worden ist, der Grad der Behinderung (GdB) herabgesetzt werden kann.

Dem Kläger wurde 1979 wegen einer Krebserkrankung die Schilddrüse entfernt. Im Bescheid vom 19. April 1980 wurde als Behinderung insoweit nur “Verlust der Schilddrüse” festgestellt. Ein Hinweis auf die Krebserkrankung wurde nicht in den Bescheid aufgenommen. Der GdB (damals Minderung der Erwerbsfähigkeit – MdE –) wurde unter Mitberücksichtigung einer geringfügigen Herzleistungsstörung auf 80 festgesetzt.

Nach Begutachtung und Anhörung des Klägers setzte der Beklagte acht Jahre später den GdB auf 30 herab (Bescheid vom 11. Januar 1988, Widerspruchsbescheid vom 17. August 1988). Eine Besserung im Sinne einer Stabilisierung des Gesundheitszustandes, des Wegfalls der Behandlungsbedürftigkeit und des Wegfalls der Rezidivgefahr sei eingetreten.

Die gegen diese Herabsetzung erhobene Anfechtungsklage ist in beiden Rechtszügen ohne Erfolg geblieben (Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 15. August 1989, Urteil des Landessozialgerichts ≪LSG≫ Hamburg vom 5. März 1991). Das LSG hat ausgeführt, daß der GdB für den Verlust der Schilddrüse zusammen mit der geringfügigen Herzleistungsstörung nur 30 betrage. Die anfangs berechtigte Höherbewertung wegen der damals noch bestehenden Ungewißheit des Behandlungserfolges sei gemäß den Anhaltspunkten nun nicht mehr zu rechtfertigen, da es zu einer “Heilungsbewährung” gekommen sei.

Der Kläger beanstandet mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision immer noch die seiner Ansicht nach zu geringe Einschätzung des Verlustes der Schilddrüse. Er meint zudem, wenn man schon von dieser geringen Schätzung ausgehen müsse, dann hätte man bereits bei Erlaß des Erstbescheides keine höhere MdE gewähren dürfen. Der Erstbescheid sei unter dieser Voraussetzung von Anfang an unrichtig iS des § 45 des Sozialgesetzbuchs – Verwaltungsverfahren – (SGB X) gewesen. Da die Krebserkrankung im Bescheid nicht erwähnt worden sei, könne auch diesbezüglich keine wesentliche Änderung iS des § 48 SGB X eingetreten sein.

Er beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen und den Herabsetzungsbescheid aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beigeladene schließt sich diesem Antrag an.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist nicht begründet.

Die Vorinstanzen haben zutreffend entschieden, daß der GdB von 80 auf 30 herabgestuft werden durfte, weil von der überstandenen Krebserkrankung der Schilddrüse keine Nachwirkungen mehr ausgehen, die als meßbare Behinderung beurteilt werden könnten.

Welche Rechtsfehler dem LSG bei der Beurteilung allein des Verlustes der Schilddrüse iVm der Herzleistungsstörung unterlaufen sein könnten, hat der Kläger nicht vorgetragen. Soweit er rügt, daß das LSG sich auf die Anhaltspunkte gestützt und diese soweit wie eine untergesetzliche Norm behandelt habe, ist auf die Entscheidungen des Senats vom 29. August 1990 (SozR 3-3870 § 4 Nr 1) und vom 23. Juni 1993 (BSGE 72, 285 = SozR 3-3870 § 4 Nr 6) zu verweisen. Wie der Senat in der zuletzt zitierten Entscheidung nochmals ausgeführt hat, kommt den Anhaltspunkten als antizipierten Sachverständigengutachten zwar keine Normqualität zu. Sie wirken sich in der Praxis der Versorgungsverwaltung jedoch normähnlich aus. Als geschlossenes Beurteilungsgefüge gewährleisten sie die nach Art 3 Grundgesetz gebotene gleichmäßige Behandlung der Betroffenen. Sie entsprechen damit für die Praxis der Versorgungsverwaltung und der Rechtsprechung einem für die Rechtsanwendung unabweisbaren Bedürfnis. Zwar fehlt ihnen die für den vollen Normcharakter erforderliche Ermächtigungsnorm; bis zur Schaffung einer derartigen Ermächtigung und auf ihr beruhender Normen müssen sie jedoch im Interesse der Gleichbehandlung der Behinderten für die praktische Rechtsanwendung an die Stelle eines bisher fehlenden Normgefüges treten und unterliegen sie der richterlichen Überprüfung nur im gleichen Umfange wie echte Normen. Soweit der Kläger die Richtigkeit der Anhaltspunkte angreift, müßte er darlegen, daß und weswegen die hier einschlägigen Regelungen der Anhaltspunkte allgemeinen sozialmedizinischen Erfahrungen widersprechen. Derartige Gesichtspunkte hat der Kläger nicht dargelegt. Seine Ansicht, der Verlust der Schilddrüse müsse hinsichtlich der MdE bzw des GdB dem Verlust einer Gliedmaße gleichgestellt werden, zeigt keinen solchen Widerspruch auf. Wie die Vorinstanz zu Recht ausgeführt hat, kann der Verlust eines Organs wie der Schilddrüse einem Gliedmaßenverlust schon deswegen nicht gleichgestellt werden, weil die durch den Verlust der Schilddrüse entstehenden Folgen für den Hormonhaushalt des Körpers durch entsprechende Medikation in einem Ausmaße ausgeglichen werden können, das mit der orthopädischen Versorgung bei Gliedmaßenverlust nicht erreichbar ist.

Der Wegfall der mit der überstandenen Krebserkrankung verbundenen Behinderung, auf den der angefochtene Bescheid gestützt ist, ist entgegen der Meinung des Klägers eine wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse iS des § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X.

Dem steht nicht entgegen, daß diese Behinderung im Erstbescheid nicht genannt ist. Die Verhältnisse iS des § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X sind nicht die im Erstbescheid genannten, nicht einmal die für die Entscheidung der Verwaltung maßgeblich gewesenen Verhältnisse, sondern die Verhältnisse, die beim Erlaß des Erstbescheides vorlagen und die in ihm enthaltene Regelung rechtfertigten (vgl Urteil des Senats, SozR 3870 § 4 Nr 3; BSGE 65, 301, 302 = SozR 1300 § 48 Nr 60). Das folgt aus dem Wortlaut des § 48 SGB X, der von den Verhältnissen spricht, die beim Erlaß des Verwaltungsakts “vorgelegen haben”. Bei der Prüfung, ob eine Änderung eingetreten ist, sind alle damals vorgelegenen Behinderungen zu berücksichtigen, die den GdB rechtfertigen. Sind diese Behinderungen geringer geworden, geht es dem Behinderten also heute besser als damals, ist der GdB herabzusetzen. Nicht herabzusetzen ist der GdB allerdings dann, wenn sich eine Behinderung gebessert hat, die auf den GdB keinen Einfluß haben durfte, weil der Behinderte selbst die Feststellung dieser Behinderung ausgeschlossen hatte (BSGE 60, 11, 17 = SozR 3870 § 3 Nr 21). Daß der mit der Krebserkrankung verbundene postoperative Zustand – eine unbestimmte Zahl von körperlichen und seelischen Störungen – 1980 vorgelegen hatte und 1988 nicht mehr vorlag, hat das LSG unangegriffen festgestellt. Die Auswirkung dieser Änderung auf den GdB hat es in Übereinstimmung mit den Anhaltspunkten zutreffend bewertet.

Gegen die Anwendung des § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X wendet der Kläger selbst nicht ein, er habe nicht gewußt, daß eine krebsbedingte Behinderung vorgelegen habe. Ein solcher Einwand wäre auch ohne Bedeutung. Denn die Änderung eines Verwaltungsakts für die Zukunft bei Änderung der Verhältnisse hat die Verwaltung ohne Rücksicht darauf durchzuführen, ob dem Begünstigten die ursprünglichen Verhältnisse oder ihre Änderung bekannt waren oder bekannt sein mußten. Nur Verwaltungsakte, die von Anfang an rechtswidrig waren, können nach § 45 SGB X aus bestimmten Gründen des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit aufrechterhalten bleiben, nicht aber Verwaltungsakte, die später rechtswidrig geworden sind.

Der Erstbescheid war nicht von Anfang an rechtswidrig, so daß er nicht mehr später hätte rechtswidrig werden können. Rechtswidrig in diesem Sinne wäre er nur dann gewesen, wenn die sachlich-rechtlichen Voraussetzungen nicht vorgelegen hätten, der Kläger also keinen Anspruch darauf gehabt hätte, daß ihm ein GdB von 80 zuerkannt wurde. Daß der Kläger diesen Anspruch hatte, ergibt sich aus den unangegriffenen Feststellungen des LSG.

Rechtswidrig in diesem Sinne war der Erstbescheid nicht deswegen, weil er keinen Hinweis auf die krebsbedingte Behinderung enthielt, die nach den Feststellungen des LSG vorhanden war. Das gilt selbst dann, wenn es sich bei dem Fehlen des Hinweises nicht nur um einen Mangel in der Begründung, sondern auch um einen Mangel in dem nach § 4 Abs 1 des Schwerbehindertengesetzes erforderlichen Inhalt gehandelt haben sollte. Denn dann wäre der Bescheid nur unvollständig, und der Kläger hätte damals einen Anspruch auf Ergänzung gehabt. Möglicherweise hätte der Erstbescheid sogar von Amts wegen ergänzt werden müssen. Der selbständige Verfügungssatz, mit dem ein “GdB von 80” festgestellt wurde, ist aber weder wegen mangelnder Begründung noch wegen unvollständigen Inhalts rechtswidrig. Dieser Ausspruch hätte bis zur Minderung oder zum Wegfall des GdB wegen der Folgen der Krebserkrankung jederzeit unverändert wiederholt werden müssen.

Fehlt ein wesentlicher Teil des Bescheids oder seiner Begründung, so wird es allerdings der Verwaltung im allgemeinen schwerfallen, nach Jahren nachzuweisen, daß der nunmehr relativ gute Gesundheitszustand auf einer tatsächlichen Veränderung beruht und nicht von Anfang an so bestanden hat. Das gilt vor allem dann, wenn es auf die Auswirkungen einer Krankheit im Einzelfall ankommt, die nicht den früher festgestellten GdB rechtfertigen. Überzeugende Aussagen darüber, wie die Auswirkungen vor Jahren zu bewerten waren, sind oft nicht mehr möglich. Man wird dann im Zweifel davon ausgehen müssen, daß eine Behinderung, die nicht genannt ist, auch nicht vorlag. Anders ist es, wenn eine Behinderung ihrer Art und ihrem Umfang nach aufgeführt war, insbesondere, wenn sich die Verwaltung nicht mit der bloßen ärztlichen Diagnose begnügte, die häufig keine klaren Rückschlüsse auf die Behinderung zuläßt. Ist die Behinderung aus dem Bescheid erkennbar, wird man von dem Erfahrungssatz ausgehen dürfen, daß sie zutreffend beschrieben und bewertet worden ist (Urteil des Senats vom 10. Februar 1993 in SozR 3-1300 § 48 Nr 25). Im vorliegenden Fall sind aber im Erstbescheid keine Ausführungen darüber erforderlich gewesen, wie sich die krebsbedingte Entfernung der Schilddrüse im einzelnen ausgewirkt hat. Die Verwaltung hat sich hier zu Recht an die sozialmedizinische Erfahrung gehalten, die in den Anhaltspunkten 1977 S 92 f und in den Anhaltspunkten 1983 S 26, 37, 92, 93 zum Ausdruck gebracht wird. Ermittlungen im Einzelfall, also etwa darüber, wie sich die Rückfallgefahr psychisch auswirkt, sollen gerade vermieden werden; sie wären oft ihrerseits belastend.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Haufe-Index 921746

BB 1996, 272

Breith. 1995, 712

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