Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht. GdB. Feststellung. Aufhebung. wesentliche Änderung. Änderung der Anhaltspunkte. Herzklappenersatz. Marcumarbehandlung. Behandlungsfolgen als Behinderung

 

Leitsatz (amtlich)

  • Der Grad der Behinderung, den bestimmte Krankheiten im allgemeinen bewirken, kann regelmäßig nicht durch Rechtsanwendung ermittelt und festgestellt, sondern muß durch Willensentscheidung festgelegt werden.
  • Änderungen der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem SchwbG wirken wie Änderungen der rechtlichen Verhältnisse iS des § 48 SGB X.
 

Normenkette

SchwbG § 3; SGB X § 44; Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz, 1983, S. 67

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Urteil vom 03.11.1992; Aktenzeichen L 15 Vs 32/91)

SG München (Urteil vom 15.02.1991; Aktenzeichen S 20 Vs 1822/86)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 3. November 1992 wird zurückgewiesen.

Kosten sind auch im Revisionsverfahren nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten um die Frage, ob die schädlichen Auswirkungen der dauernden Behandlung einer Gesundheitsstörung bei dem Grad der Behinderung (GdB) berücksichtigt werden müssen.

Nach einem Herzklappenersatz wurde dem Kläger durch Bescheid vom 31. Oktober 1983 ein GdB (damals Minderung der Erwerbsfähigkeit) von 60 zuerkannt. Darin war auch ein Wirbelsäulensyndrom mit einem GdB von 20 enthalten. 1986 beantragte der Kläger die Erhöhung des GdB auf 70, weil sich das Wirbelsäulensyndrom verschlimmert habe. Die Versorgungsverwaltung lehnte die Erhöhung mit der Begründung ab, das Wirbelsäulensyndrom habe sich zwar verschlimmert, die Herzleistungsstörung habe sich aber erheblich gebessert. Der Kläger hielt dem entgegen, durch die mehrjährige Behandlung mit dem Blutverdünnungsmittel Marcumar sei eine Blutgerinnungsstörung eingetreten, die auch einige Zeit nach Absetzen von Marcumar bestehen bleibe. Dieser in der Sache nicht bestrittene Hinweis führt nach Auffassung der Versorgungsverwaltung nicht zum Erfolg, weil die üblichen Folgen der Marcumarbehandlung bei der Festsetzung des GdB für den Herzklappenersatz bereits berücksichtigt worden und darüber hinausgehende Folgen hier jedenfalls noch nicht ersichtlich seien (Bescheid vom 22. April 1986, Widerspruchsbescheid vom 10. September 1986).

Das Sozialgericht (SG) ist den Gutachten zweier Ärzte gefolgt, die die Folgen der durch die Marcumarbehandlung herbeigeführten Blutgerinnungsstörung mit einem GdB von 30 bewerteten und eine Erhöhung des Gesamt-GdB auf 70 befürwortet hatten (Urteil des SG München vom 15. Februar 1991). Das Landessozialgericht (LSG) hat dieses Urteil mit der Maßgabe aufgehoben, daß die festgestellte Behinderung “Herzleistungsminderung nach Herzklappenersatz” den Zusatz “mit Dauermarcumarisierung” zu erhalten habe. Die sich aus der Marcumarbehandlung ergebende Erkrankung, die wie der Herzklappenersatz eine vorsichtige Lebensweise erfordere, müsse zwar im Bescheid aufgeführt werden, aus den Akten ergebe sich aber, daß sie in die Höhe des GdB bereits eingeflossen sei. Der 1983 für den Herzklappenersatz zugrunde gelegte GdB von 50 sei 1986 an sich nur noch in Höhe von 30 gerechtfertigt gewesen. Der Beklagte habe den GdB aber nur auf 40 herabgesetzt. Daraus ergebe sich, daß er die Folgen der Marcumarbehandlung bei der Neubewertung berücksichtigt habe. Zusammen mit dem wegen Verschlimmerung des Wirbelsäulensyndroms auf 30 erhöhten GdB ergebe sich kein höherer Gesamt-GdB als 60.

Der Kläger macht mit der durch das LSG zugelassenen Revision geltend, das LSG habe nicht feststellen dürfen, daß der GdB für den Herzklappenersatz nur 30 betrage. Die Äußerungen der Gutachter rechtfertigten diese Feststellung nicht. – Das LSG habe auch nicht feststellen dürfen, die von der Marcumarbehandlung ausgehende Behinderung sei im GdB von 40 schon enthalten. Der Vortrag des Beklagten im Widerspruchsverfahren spreche dagegen. – Wenn die Anhaltspunkte bei Herzklappenersatz nur die Anerkennung einer einzigen Behinderung vorsähen, so verstoße das gegen § 3 Abs 1 Satz 1 Schwerbehindertengesetz (SchwbG). Dafür spreche die Schwere der Behandlungsfolgen, denn sie seien möglicherweise der Bluterkrankheit gleichzuachten. Dafür spreche aber auch, daß eine Marcumarbehandlung nur bei einem Teil der Patienten mit einer Herzklappenprothese notwendig sei, nämlich nur bei denjenigen, denen wie bei ihm eine nichtorganische Herzklappe eingepflanzt worden sei.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 3. November 1992 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 15. Februar 1991 zurückzuweisen; hilfsweise, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Das beklagte Land und die beigeladene Bundesrepublik beantragen,

die Revision des Klägers zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Klägers ist nicht begründet. Das LSG hat die Klage zu Recht abgewiesen.

Der angefochtene Bescheid vom 22. April 1986 idF vom 10. September 1986 ist nicht zu beanstanden. Der Beklagte hat es zu Recht abgelehnt, den GdB des Klägers von 60 auf 70 zu erhöhen. Denn seit dem Bescheid vom 31. Oktober 1983, mit dem der GdB nach der Herzoperation auf 60 festgesetzt wurde (Erstbescheid) ist im Ergebnis keine wesentliche Änderung iS des § 48 des Sozialgesetzbuchs – Verwaltungsverfahren – (SGB X) eingetreten, die die begehrte Erhöhung rechtfertigen könnte. Das Wirbelsäulensyndrom hat sich zwar verschlimmert und könnte für sich betrachtet eine Erhöhung des GdB um 10 rechtfertigen. Diese Änderung zugunsten des Klägers ist aber durch eine Änderung zu seinen Ungunsten ausgeglichen, die sich hinsichtlich der Folgen des Herzklappenersatzes ergeben hat. Die Verwaltung ist nach § 48 SGB X berechtigt, eine Änderung zugunsten und eine Änderung zuungunsten des Behinderten in einem Bescheid festzustellen und im Ergebnis eine Änderung zu versagen, wenn sich beide Änderungen gegenseitig aufheben. Das hat der Senat für eine Vorgängervorschrift des § 48 SGB X, nämlich § 62 Abs 1 Satz 1 des Bundesversorgungsgesetzes ≪BVG≫ (idF vom 22. Juni 1976, BGBl I 1633) bereits entschieden (Urteil vom 8. Mai 1981, SozR 3100 § 62 Nr 21). Für § 48 SGB X gilt nichts anderes.

Ob es die ärztlichen Untersuchungen zulassen, die Feststellung zu treffen, der Zustand nach Herzklappenersatz habe sich bei dem Kläger meßbar wesentlich gebessert, so daß sich die tatsächlichen Verhältnisse rechtlich zu seinen Ungunsten wesentlich geändert hätten, braucht nicht geprüft zu werden. Es kann unterstellt werden, daß insoweit keine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen stattgefunden hat, so daß es auf die insoweit erhobenen Rügen des Klägers nicht ankommt. Denn auch dann ist eine wesentliche Änderung iS des § 48 SGB X eingetreten. Die Anhaltspunkte haben sich in der Zeit zwischen dem Erstbescheid und dem angefochtenen Bescheid bei den für Herzklappenersatz einschlägigen Hinweisen entscheidend geändert. Diese Änderung ist wie eine Änderung der rechtlichen Verhältnisse zu beurteilen. Das hat der Senat bereits in seinem Urteil vom 6. Dezember 1989 (SozR 3870 § 4 Nr 3 S 14) ausgeführt. Die rechtsnormähnliche Qualität, die den Anhaltspunkten trotz fehlender gesetzlicher Ermächtigung zuerkannt werden muß, hat der Senat inzwischen wiederholt, vor allem in seinem Urteil vom 23. Juni 1993 (BSGE 72, 285), bestätigt. Daß den Anhaltspunkten die gesetzliche Grundlage fehlt, ist allerdings nicht nur wegen des verfassungsrechtlichen Vorbehalts des Gesetzes, sondern im Sozialrecht auch wegen § 31 des Sozialgesetzbuchs – Allgemeiner Teil – (SGB I) zu beanstanden. Danach können Rechte und Pflichten im Sozialrecht nur begründet, festgestellt, geändert oder aufgehoben werden, soweit ein Gesetz es vorschreibt oder zuläßt. Welchen GdB bestimmte Krankheiten im allgemeinen bewirken, läßt sich regelmäßig nicht durch Anwendung des § 3 SchwbG feststellen, sondern nur durch Willensentscheidung festlegen. Das gilt vor allem für die Fallgruppen, in denen keine oder jedenfalls keine meßbaren Funktionsstörungen vorliegen, aber Ungewißheit darüber besteht, ob eine bestimmte Behandlung zur endgültigen Heilung geführt hat oder eine lebensbedrohende Krankheit sich unbemerkt weiterentwickelt (zur Heilungsbewährung vgl Rösner, MedSachv 1994, 39 und Jaeger, MedSachv 1994, 47). Der in der medizinischen Wissenschaft bestehende Streit darüber, ob, in welchem Umfang und wie lange der Schutz des SchwbG in solchen Fällen zur “Heilungsbewährung” angezeigt oder im Gegenteil schädlich ist (vgl dazu die Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage nach einer zeitlich unbegrenzten Heilungsbewährung bei Brustamputation ≪BT-Drucks 12/8214, S 16≫), ist weder allgemein noch im Einzelfall aufgrund ärztlicher Gutachten durch Rechtsanwendung zu entscheiden. Ähnliche, nicht durch Beweiserhebung und Rechtsanwendung zu klärende Fragen stellen sich auch in anderem Zusammenhang, etwa bei entstellenden Folgen von Operationen oder bei psychischen Regelabweichungen. Hier ist zu bedenken, daß schon die Schaffung der rechtlichen Möglichkeit, als Behinderter anerkannt zu werden, nützliche, aber auch schädliche Auswirkungen haben kann.

Trotz der grundlegenden Bedenken dagegen, daß für die im einzelnen durchaus einleuchtenden und abgewogenen Anhaltspunkte die gesetzliche Grundlage und somit die parlamentarische Verantwortung fehlt, können die Anhaltspunkte nicht ignoriert werden. Bei den Anhaltspunkten handelt es sich um ein geschlossenes Beurteilungsgefüge zum GdB, auf das auch die Gerichte angewiesen sind. Die Anhaltspunkte in der jeweiligen Fassung binden die Verwaltung, und die Gerichte können sie nur in beschränktem Umfang prüfen, nämlich wie untergesetzliche Normen. Es kann nur geprüft werden, ob sie dem Gesetz widersprechen, ob sie dem gegenwärtigen Kenntnisstand der sozialmedizinischen Wissenschaft nicht mehr entsprechen oder ob ein Sonderfall vorliegt (so auch der 14a Senat in seinem Urteil vom 16. Juni 1993, SozR 3-2500 § 106 Nr 18, zu den Richtlinien des Bundesausschusses der Zahnärzte und Krankenkassen).

Solche Einwände hat weder der Kläger noch einer der Sachverständigen vorgebracht.

Die Anhaltspunkte 1983, von denen im vorliegenden Verfahren vor allem die Rede ist, konnten für den Erstbescheid vom 31. Oktober 1983 noch nicht maßgebend gewesen sein. Sie sind erst im November 1983 veröffentlicht (vgl Vorwort dazu) und im Jahre 1984 von der Verwaltung angewandt worden (vgl Hinweis des versorgungsärztlichen Dienstes des Beklagten). Für den Erstbescheid waren vielmehr die Anhaltspunkte 1977 maßgebend: Der Mindest-GdB (damals MdE) betrug nach Seite 63 dieser Anhaltspunkte 50. Ferner war für alle Herzoperationen, auch für den Herzklappenersatz, eine Heilungsbewährung von drei Jahren, nach deren Ablauf aber immer noch der Mindest-GdB (50) vorgesehen.

Der Mindest-GdB nach Seite 67 der Anhaltspunkte 1983 beträgt hingegen nur noch 30. Eine dreijährige Heilungsbewährung ist nicht mehr vorgesehen.

Die Verwaltung war nach § 48 Abs 1 SGB X schon wegen der Änderung der Anhaltspunkte befugt, den GdB für den Herzklappenersatz herabzusetzen. Es ist nicht vorgetragen worden, daß die Änderung der Anhaltspunkte etwa dem Gesetz widerspreche oder mit dem Stand der sozialärztlichen Wissenschaft nicht übereinstimme. Es gibt für solche denkbaren Beanstandungen auch keinen Ansatz. Die wesentlich geringere Bewertung des Herzklappenersatzes beruht nicht nur auf der ständig verbesserten Operationstechnik, sondern auch auf neueren medizinischen Erkenntnissen über die Auswirkungen einer Herzklappenoperation und auf den ständig verbesserten Behandlungserfolgen. Der weitere Fortschritt führt, wie in mehreren Stellungnahmen des Bundesarbeitsministeriums und des beklagten Landes dargestellt wird, in den jetzt in Bearbeitung befindlichen neuen Anhaltspunkten voraussichtlich zu einem noch geringeren Mindest-GdB. Der Fall des Klägers ist auch kein Sonderfall. Selbst der von ihm nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) benannte Arzt betont, daß der Kläger die Herzoperation besonders gut verkraftet habe.

Ob die Dauerbehandlung mit Marcumar eine besondere Behinderung hervorruft, ist nur dann erheblich, wenn man zugunsten des Klägers davon ausgeht, daß die Verwaltung zu Recht den GdB wegen des Herzklappenersatzes nur auf 40 und nicht, wie nach den Anhaltspunkten möglich, auf 30 herabgesetzt hat. Die Anhaltspunkte 1977 und 1983 sehen einen besonderen GdB wegen der Blutverdünnung nach Herzoperationen nicht vor. Auch insoweit ist der Fall des Klägers kein Sonderfall. Der Kläger selbst behauptet nicht, die Behandlung führe bei ihm persönlich zu besonders nachteiligen Auswirkungen in Arbeit, Beruf und Gesellschaft. Er meint, nachteilige Auswirkungen seien im allgemeinen festzustellen und deshalb auch bei den Anhaltspunkten zu berücksichtigen. Dieser Angriff könnte nur damit begründet werden, daß dies auch die herrschende Meinung der sozialmedizinischen Wissenschaft sei, so daß das Gericht die Anhaltspunkte im Sinne einer Lückenfüllung ergänzen müsse, wie das der Senat etwa in BSGE 72, 285, 288 nach Ermittlungen über den Stand der Wissenschaft getan hat. Eine solche Begründung gibt der Kläger nicht. Er kann sich nur auf die Sachverständigen Dr. K.… und Prof. Dr. von E.… berufen, die ihre Ansicht aber nur mit ihrem persönlichen Eindruck von den Einschränkungen, denen ein mit Marcumar Behandelter unterliegt, nicht mit Meinungsäußerungen in der sozialmedizinischen Wissenschaft begründen. Die Beigeladene hat vorgetragen, daß der Sachverständigenbeirat beim Bundesarbeitsministerium, der mit der Neufassung der Anhaltspunkte befaßt ist, meint, daß die normalen Auswirkungen der Dauerbehandlung mit Marcumar wie bisher nicht als besondere Behinderung bewertet werden sollten. Der Senat, der als Revisionsgericht auch allgemeine Tatsachen festzustellen hat, zweifelt an der Richtigkeit dieses Vortrags nicht. Er geht davon aus, daß diese Ansicht des Beirats die herrschende Ansicht der sozialmedizinischen Wissenschaft wiedergibt. Das gilt auch für die Ansicht, daß eine unterschiedliche Bewertung nicht deshalb geboten ist, weil organische und nichtorganische Herzklappen verwendet werden und nur bei Verwendung von nichtorganischen Herzklappen Blutverdünnung angezeigt ist. Bei Verwendung organischer Herzklappen sind andere nachteilige Auswirkungen, insbesondere bei der Haltbarkeit, zu beachten. Es besteht kein Anhalt dafür, daß das Meinungsbild in der sozialmedizinischen Wissenschaft in der maßgebenden Zeit des angefochtenen Bescheides (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 5), hier im Jahre 1986, anders war. Der Vortrag des Klägers und die Ausführungen der Sachverständigen Dr. K.… und Prof. Dr. von E.… veranlassen den Senat deshalb nicht, weitere Ermittlungen zum Meinungsstand in der sozialmedizinischen Wissenschaft anzustellen.

Da der Beklagte keine Revision, auch keine Anschlußrevision, eingelegt hat, muß unentschieden bleiben, ob das LSG den Beklagten verurteilen durfte, die festgestellte Behinderung unter dem Zusatz “mit Dauermarcumarisierung” zu versehen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 921745

BSGE, 176

Breith. 1995, 629

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