Entscheidungsstichwort (Thema)

Stützung der Sprungrevision auf Verfahrensmängel. fehlende Urteilsbegründung. Ostversorgung. Teil- oder Vollversorgung

 

Orientierungssatz

1. Die Sprungrevision gegen das Urteil des Sozialgerichts kann nach § 161 Abs 4 SGG nicht auf Mängel des Verfahrens gestützt werden. Indessen ist durch Rechtsprechung und Schrifttum klargestellt, daß diese Vorschrift unter Verfahrensmängel nur Fehler im "eigentlichen" Prozedieren" des Sozialgerichts versteht. Deshalb kann die Sprungrevision sehr wohl auf Verfahrensverstöße gestützt werden, die allein prozessuale Konsequenz aus einer fehlerhaften materiell-rechtlichen Beurteilung des Erstgerichts sind oder die in jedem Stadium des Verfahrens von Amts wegen zu beachten sind. Das Fehlen von Entscheidungsgründen - Zusammenfassung der Erwägungen, auf denen die Entscheidung zu einem wesentlichen Streitpunkt in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht beruht, ist von der Revisionsinstanz von Amts wegen zu beachten, weil eine zuverlässige revisionsrichterliche Nachprüfung des angefochtenen Urteils sonst unmöglich wäre.

2. Der Kläger braucht sich nicht entgegenhalten zu lassen, er müsse sich mit einer fehlenden Urteilsbegründung deswegen abfinden, weil sonst "den besonderen Interessen der in den ost- und südeuropäischen Staaten lebenden versorgungsberechtigten Kriegsopfer und auch den Interessen der Bundesrepublik Deutschland zuwider" gehandelt werden könnte. Eine solche Einschränkung der prozessualen Rechte des Klägers bei der Verfolgung des von ihm behaupteten Anspruchs auf Leistungen nach § 64 Abs 1 BVG bis zur unrügbaren Hinnahme evidenter Revisionsgründe läßt sich mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art 20 Abs 3 GG) nicht vereinbaren.

3. Zur Frage der Feststellung und Darlegung der Tatbestände, die eine Kürzung der Vollversorgung auf Teilversorgung rechtfertigen.

 

Normenkette

SGG §§ 162, 164 Abs 2 S 3, § 136 Abs 1 Nr 6, § 161 Abs 4; BVG § 64 Abs 1, § 64e Abs 1 S 1, § 64e Abs 1 S 4 Buchst a, § 64e Abs 1 S 4 Buchst b; GG Art 20 Abs 3; BVG § 64 Abs 2 S 4

 

Verfahrensgang

SG Münster (Entscheidung vom 08.01.1986; Aktenzeichen S 10 V 100/84)

 

Tatbestand

Streitig ist ein Anspruch des als deutscher Volkszugehöriger in Polen lebenden Klägers auf Vollversorgung statt auf Teilversorgung.

Dem 1918 geborenen Kläger hatte das beklagte Land im Jahre 1964 eine Kann-Leistung nach § 64 Abs 2 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) von monatlich 45,-- DM bewilligt und dabei eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 30 vH im wesentlichen wegen einer Gebrauchsbehinderung der linken Hand nach Schußverletzung zugrunde gelegt (Bescheid vom 16. Juni 1964). Im Jahre 1977 versuchte das Versorgungsamt (VersorgA) dem Kläger die Leistung wegen wesentlicher Besserung der Verletzungsfolgen zu entziehen. Durch Urteil vom 5. Mai 1982 -9a/9 RV 29/81- hat das Bundessozialgericht (BSG) jedoch den Entziehungsbescheid vom 6. Januar 1977/Widerspruchsbescheid vom 24. April 1978 aufgehoben.

In der Folge bewilligte das VersorgA dem Kläger mit "Ausführungsbescheid" vom 11. Oktober 1982 ab 1. März 1977 unter Vorbehalt des jederzeitigen Widerrufs "eine Versorgung als Kann-Leistung gemäß § 64e Abs 1 iVm § 64 Abs 2 Satz 2 BVG" im Betrag von zuletzt monatlich 50,-- DM. Den vom Kläger hiergegen erhobenen Widerspruch vom 15. November 1982 verpflichtete sich das VersorgA laut einem im Oktober 1983 abgeschlossenen außergerichtlichen Vergleich (vgl das Verfahren S 10 V 105/83 vor dem Sozialgericht -SG- Münster) "als Antrag des Klägers, ihm ab 1. März 1977 Vollversorgung zu gewähren" anzusehen und hierüber zu entscheiden.

Mit dem streitigen Bescheid des VersorgA vom 2. Dezember 1983 in der Gestalt des bestätigenden Widerspruchsbescheids vom 12. April 1984 lehnte der Beklagte diesen Antrag ab: Nach der Entscheidung des BSG vom 24. August 1982 -9a/9 RV 36/81- könne selbst die auf einen Rechtsanspruch beruhende Leistung gemäß § 64 Abs 1 BVG nach § 64e Abs 1 Satz 1 BVG "gekürzt" werden. Auf den Kläger träfen die in § 64e Abs 1 Satz 4 BVG normierten Gründe gegen eine Vollversorgung zu.

Im angefochtenen Urteil vom 8. Januar 1986 hat das SG die hiergegen erhobene Klage abgewiesen und ausgeführt, mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Volksrepublik Polen und der Bundesrepublik Deutschland am 14. September 1972 sei zwar gegenüber den Verhältnissen, die dem Bescheid vom 15. Februar 1965 zugrunde gelegen hätten, eine rechtliche Änderung eingetreten. Sie sei aber nicht wesentlich iS von § 48 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB 10). Der Anspruch des Klägers auf Versorgung beruhe nun nicht mehr auf § 64 Abs 2 BVG, sondern auf § 64 Abs 1 aaO. Danach erhielten Deutsche und deutsche Volkszugehörige, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Staaten hätten, mit denen die Bundesrepublik Deutschland diplomatische Beziehungen unterhalte, Versorgung wie Berechtigte im Geltungsbereich dieses Gesetzes, soweit die §§ 64a bis 64f BVG nichts Abweichendes bestimmten. Dies sei der Fall: Stünden einer Versorgung nach § 64 Abs 1 BVG besondere Gründe entgegen, könne mit Zustimmung des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung (BMA) Teilversorgung nach Maßgabe des § 64 Abs 2 Satz 2 bis 4 gewährt werden. Die im allgemeinen gegebenen besonderen Gründe in diesem Sinne seien ua in § 64e Abs 1 Satz 4 Buchst a) und b) enthalten. Die Voraussetzungen der Buchst a) und b) seien im Falle des in Polen lebenden Klägers erfüllt. Deshalb sei es der Verwaltung erlaubt, die auf einem Rechtsanspruch beruhende Leistung gemäß § 64 Abs 1 "nicht voll zu erfüllen". Dieses Leistungsverweigerungsrecht gestalte das Gewährte nicht rechtlich um. § 64e Abs 1 BVG sei auch mit dem Grundgesetz (GG) vereinbar (Hinweis auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts -BVerfG- in SozR 3100 § 64e Nr 3).

Mit der vom SG zugelassenen Sprungrevision verfolgt der Kläger seinen Anspruch auf Vollversorgung weiter. Er rügt die Verletzung der Vorschriften des § 64 Abs 1 BVG und des § 64e Abs 1 aaO. Er, Kläger, gehöre zu dem Personenkreis, der nach der erstgenannten Vorschrift einen Rechtsanspruch auf Versorgung wie ein Berechtigter im Geltungsbereich des BVG habe, soweit nichts Abweichendes bestimmt sei. Zur Feststellung besonderer Gründe iS des § 64e Abs 1 BVG, die eine Einschränkung seines Rechtsanspruchs auf Vollversorgung zuließen, genüge nicht der im angefochtenen Urteil ohne jede nähere Darlegung erwähnte Hinweis, daß bei ihm die Voraussetzungen des § 64e Abs 1 Satz 4 Buchst a) und b) BVG erfüllt seien. Der Hinweis auf gesetzlich normierte Tatbestände und auf Verwaltungsvorschriften reiche zur Begründung nicht aus. Vielmehr müßten Tatsachen dargelegt und festgestellt werden, die zumindest einen der gesetzlich normierten einschränkenden Tatbestände erfüllten. Das sei um so mehr erforderlich, als die Verhältnisse im Aufenthaltsstaat sich jederzeit ändern könnten und die sogenannten Richtlinien Ost 1980 nicht veröffentlicht seien. Es sei nicht seine, des Klägers Sache, darzulegen, daß keine besonderen Gründe iS des § 64e Abs 1 BVG vorlägen, die eine Kürzung der Vollversorgung rechtfertigten. "Besondere Gründe" habe das SG Münster nicht festgestellt.

Der Kläger beantragt, 1. das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 8.Januar 1986 sowie den Bescheid des VersorgA Münster vom 2. Dezember 1983 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids des Landesversorgungsamts Nordrhein-Westfalen vom 12. April 1984 aufzuheben, 2. das beklagte Land zu verurteilen, ihm für die Zeit ab 1. März 1977 Beschädigtenvollversorgung mit Rechtsanspruch gemäß § 64 Abs 1 Bundesversorgungsgesetz zu gewähren, 3. dem beklagten Land die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen und anzuordnen, daß es ihm auch die Kosten des Widerspruchsverfahrens zu erstatten hat.

Der Beklagte beantragt, die Revision des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 8. Januar 1986 zurückzuweisen.

Er führt aus, der Gewährung einer Vollversorgung stünden im Falle des Klägers die in § 64e Abs 1 Satz 4 Buchst a) und b) BVG genannten Gründe entgegen. Die Leistungen des polnischen Staates für Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene unterschritten die Leistungen nach dem BVG bei Inkrafttreten des Dritten Anpassungsgesetzes-KOV (3. AnpG-KOV) am 1. Januar 1972 nicht unerheblich. Im einzelnen werde hierzu auf die Ausführungen des BMA im Schriftsatz der Beigeladenen vom 16. Juni 1986 Bezug genommen. Er teile die Auffassung des BMA, daß nicht allein die Versorgung von Kriegsbeschädigten mit einer MdE von 30 vH nach dem BVG mit derjenigen nach den polnischen gesetzlichen Bestimmungen verglichen werden könne. Vielmehr müßten die Gesamtleistungen für Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene nach polnischem Recht und nach dem BVG miteinander verglichen werden. Bei einem solchen Vergleich aber ergebe sich, daß am 1. Januar 1972 die Leistungen des polnischen Staates die Leistungen nach dem BVG nicht unerheblich unterschritten hätten. Ferner rechne der polnische Staat Renten nach dem BVG teilweise auf eigene Renten an. Hierzu werde auf bestimmte polnische Verordnungen hingewiesen. Alle diese besonderen Gründe rechtfertigten nach § 64e Abs 1 Satz 1 BVG nur Gewährung einer Teilversorgung im angemessenen Umfang, der in den sogenannten Richtlinien Ost 1980 festgelegt sei. Diese Richtlinien seien als Beilage zum Bundesversorgungsblatt 7 bis 9/1982 (BVBl) auch veröffentlicht worden. Eine "mehr pauschale Regelung" der Teilversorgung sei notwendig gewesen. Das Vorliegen von Tatbestandsmerkmalen brauche nur soweit dargelegt und beurteilt zu werden, daß das Revisionsgericht die Entscheidung des Tatsachengerichts nachprüfen könne. Dafür genüge der vom SG in seinem Urteil "gegebene Hinweis". Sowohl dem Revisionsgericht als auch den in Polen lebenden Versorgungsberechtigten sei allgemein bekannt, daß die Voraussetzungen des Satzes 4 Buchst a) und b) aaO vorlägen. Das gleiche ergebe sich aus den Richtlinien Ost. Eine ausdrückliche Feststellung der Tatsachen und Gründe, die der Annahme "besonderer Gründe" iS des § 64e Abs 1 Satz 1 iVm Satz 4 Buchst a) und b) zugrunde lägen, könne den besonderen Interessen der in den ost- und südeuropäischen Staaten lebenden Kriegsopfern zuwiderlaufen. Selbst wenn ein Verfahrensverstoß des SG vorliegen sollte, würde das angefochtene Urteil nicht darauf beruhen können, da nach der Rechtslage in der Sache selbst keine andere Entscheidung hätte getroffen werden können.

Die beigeladene Bundesrepublik beantragt ebenfalls, die Revision des Klägers zurückzuweisen.

Sie legt umfangreiche Unterlagen - einschließlich der Übersetzung polnischer Texte - vor und führt aus, die Voraussetzungen des § 64e Abs 1 Satz 4 Buchst a) BVG seien erfüllt. Unter Berücksichtigung aller Rentenleistungen nach BVG für die der III. Kategorie nach polnischem Recht vergleichbaren Beschädigten und unter Einbeziehung der übrigen Beschädigten und der Witwen stehe unzweifelhaft fest, daß die Leistungen des polnischen Staats für Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene die Leistungen nach dem BVG am 1. Januar 1972 unterschritten hätten.

 

Entscheidungsgründe

Die Sprungrevision des Klägers ist iS der Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz begründet.

Deutsche und deutsche Volkszugehörige, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Staaten haben, mit denen die Bundesrepublik diplomatische Beziehungen unterhält, erhalten nach § 64 Abs 1 BVG Versorgung wie Berechtigte im Geltungsbereich dieses Gesetzes, "soweit die §§ 64a bis 64f nichts Abweichendes bestimmen". Letzteres behauptet der Beklagte. Er beruft sich auf § 64e Abs 1 Satz 1 und 4. Diese Bestimmungen lauten: (Satz 1) Stehen einer Versorgung in dem in § 64 Abs 1 bezeichneten Umfang besondere Gründe entgegen, kann mit Zustimmung des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung Teilversorgung nach Maßgabe des § 64 Abs 2 Satz 2 bis 4 gewährt werden. (Satz 4) Besondere Gründe iS des Satzes 1 sind im allgemeinen gegeben wenn a) die Leistungen des fremden Staates für Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene oder entsprechende Sozialleistungen die Leistungen nach diesem Gesetz oder das Durchschnittseinkommen der gewerblichen Arbeitnehmer des Aufenthaltsstaats das Durchschnittseinkommen der gewerblichen Arbeitnehmer im Geltungsbereich dieses Gesetzes bei Inkrafttreten des Dritten Anpassungsgesetzes-KOV nicht unerheblich unterschreiten oder b) der fremde Staat Renten nach diesem Gesetz ganz oder teilweise auf eigene Renten anrechnet ... .

Der Kläger gehört als in Polen lebender deutscher Volkszugehöriger zu dem von der Vorschrift erfaßten Personenkreis (vgl das unter den Beteiligten ergangene Urteil des BSG vom 5. Mai 1982 -9a/9 RV 29/81). Die Zustimmung des BMA nach Satz 1 aaO ist für die vorliegende Fallgruppe allgemein erteilt (Nr 15 der Regelung für die Versorgung von Kriegsopfern in Ost- und Südeuropa - Richtlinien Ost 1980, BVBl 7 bis 9/1982 - und Änderungsrichtlinien 1980 hierzu Nr 22).

Der Kläger beanstandet das angefochtene Urteil in erster Linie damit, daß es zur Feststellung von seinem Rechtsanspruch nach § 64 Abs 1 BVG auf Vollversorgung entgegenstehenden "besonderen Gründen" nicht genügen könne, daß sich das SG "ohne jede nähere Darlegung" auf den "Hinweis" beschränkt habe, in seinem Falle seien die Voraussetzungen des § 64e Abs 1 Satz 4 Buchst a) und b) BVG erfüllt (Hinweis auf Blatt 5 der Gründe des angefochtenen Urteils). Im gerichtlichen Verfahren reiche ein solcher Hinweis auf gesetzlich normierte Tatbestände sowie Verwaltungsvorschriften "zur Begründung nicht aus". Vielmehr müßten die Tatsachen dargelegt und festgestellt werden, nach denen zumindest einer der seinem Anspruch entgegenstehenden gesetzlich normierten Tatbestände erfüllten. Dies sei um so mehr erforderlich, als sich die Verhältnisse im Aufenthaltsstaat ständig ändern könnten und die sogenannten Richtlinien Ost nicht veröffentlicht seien. Es sei nicht seine, des Klägers, Sache, darzulegen und unter Beweis zu stellen, daß keine besonderen Gründe iS des § 64e Abs 1 BVG vorlägen, die eine Kürzung der Vollversorgung auf Teilversorgung rechtfertigten. Schon der Beklagte habe solche besonderen Gründe in tatsächlicher Hinsicht nicht vorgetragen; auch das SG habe sie nicht feststellen können.

Mit dieser Revisionsbegründung hat der Kläger hinreichend deutlich gemäß §§ 162, 164 Abs 2 Satz 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Verfahrensmangel das Fehlen von Entscheidungsgründen im angefochtenen Urteil iS von § 136 Abs 1 Nr 6 SGG gerügt. Diese Rüge ist zulässig und begründet. Zwar kann die Sprungrevision gegen das Urteil des SG nach § 161 Abs 4 SGG nicht auf Mängel des Verfahrens gestützt werden. Indessen ist durch Rechtsprechung und Schrifttum klargestellt, daß diese Vorschrift unter Verfahrensmängel nur Fehler im "eigentlichen Prozedieren" des SG versteht. Deshalb kann die Sprungrevision sehr wohl auf Verfahrensverstöße gestützt werden, die allein prozessuale Konsequenz aus einer fehlerhaften materiell-rechtlichen Beurteilung des Erstgerichts sind oder die in jedem Stadium des Verfahrens von Amts wegen zu beachten sind (vgl BSG SozR 1500 § 161 Nr 26; Meyer-Ladewig, SGG, 2. Aufl, § 161 RdNr 10; Kopp, VwGO, 7. Aufl, § 134 RdNr 10; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 44. Aufl, § 566a Anm 2). Das Fehlen von Entscheidungsgründen - Zusammenfassung der Erwägungen, auf denen die Entscheidung zu einem wesentlichen Streitpunkt (vgl Stein/Jonas, ZPO, 20. Aufl, § 551 RdNr 25) in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht beruht (§ 202 SGG iVm § 313 Abs 3 der Zivilprozeßordnung - ZPO) - ist von der Revisionsinstanz von Amts wegen zu beachten, weil eine zuverlässige revisionsrichterliche Nachprüfung des angefochtenen Urteils sonst unmöglich wäre.

Mit der hiernach zulässigen Rüge dringt der Kläger auch durch: Das SG hat auf Blatt 5 seines Urteils den Text der Buchst a) und b) des § 64e Abs 1 Satz 4 BVG wiedergegeben und hieran den Satz angefügt:

"Diese Voraussetzungen der Buchst a) und b) sind im Falle des in Polen lebenden Klägers erfüllt".

Weitere Ausführungen, warum - was den Streitpunkt bildet - die genannten Vorschriften im konkreten Fall zu Lasten des Klägers für erfüllt angenommen werden, enthält das angefochtene Urteil nicht (vgl dazu BSG SozR 2200 § 1246 Nr 5). Das bedeutet, daß das Urteil zwar behauptet, daß zu Lasten des Klägers die seinen Anspruch einschränkenden Tatbestände des § 64e Abs 1 Satz 4 Buchst a) und b) aaO erfüllt seien. Tatsächlich fehlt eine Begründung hierfür.

Eine eingehende Begründung, wieweit die Voraussetzungen der genannten Vorschriften allein schon in tatsächlicher Hinsicht als gegeben erachtet werden, wäre im vorliegenden Falle besonders angezeigt gewesen. Das beklagte Land und die beigeladene Bundesrepublik haben dem Senat noch im Revisionsverfahren außerordentlich breite und differenzierte Darstellungen zu ihrer Behauptung abgegeben, daß die Leistungen der Volksrepublik Polen für Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene und die entsprechenden Sozialleistungen tatsächlich hinter den vergleichbaren Leistungen nach dem BVG erheblich zurückblieben; das gleiche gilt hinsichtlich der Behauptung, daß Polen Renten nach dem BVG ganz oder teilweise auf eigene Renten anrechne. Hierzu haben der Beklagte und die Beigeladene dem Senat ferner umfangreiches schriftliches Material übergeben, ua Übersetzungen von polnischen Verordnungen, Direktiven und Ministerialbekanntmachungen, nach Kategorien aufgegliederte tabellarische Gegenüberstellungen ua zur Höhe der Leistungen des polnischen Staates, der dort vorzufindenden Lebenshaltungskosten und deren Entwicklung, zur Umrechnung von Leistungen in polnischer Währung in Beträge nach deutscher Währung und anderes mehr. Dies belegt, daß der Feststellung der nach § 64e Abs 1 Satz 4 Buchst a) und b) BVG rechtsrelevanten Umstände im konkreten Fall erhebliche Schwierigkeiten entgegenstehen.

Die Annahme des Beklagten, das angefochtene Urteil beruhe nicht darauf, daß "es ohne nähere Angabe von Tatsachen" besondere Gründe iS von Buchst a) und b) aaO angenommen habe (§ 162 SGG), kann nicht beigetreten werden. Zumindest besteht die gute Möglichkeit, daß das angefochtene Urteil auf den fehlenden Entscheidungsgründen beruht. Es bedarf daher keiner Entscheidung, ob über § 202 SGG auch § 551 Nr 7 ZPO anwendbar, das Fehlen von Entscheidungsgründen also auch im sozialgerichtlichen Verfahren absoluter Revisionsgrund ist.

Entgegen der Auffassung des Beklagten braucht sich der Kläger nicht entgegenhalten zu lassen, er müsse sich mit einer fehlenden Urteilsbegründung deswegen abfinden, weil sonst "den besonderen Interessen der in den ost- und südeuropäischen Staaten lebenden versorgungsberechtigten Kriegsopfer und auch den Interessen der Bundesrepublik Deutschland zuwider" gehandelt werden könnte. Eine solche Einschränkung der prozessualen Rechte des Klägers bei der Verfolgung des von ihm behaupteten Anspruchs auf Leistungen nach § 64 Abs 1 BVG bis zur unrügbaren Hinnahme evidenter Revisionsgründe läßt sich auch bei Würdigung der Argumente des Beklagten mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art 20 Abs 3 GG) nicht vereinbaren.

Da das BSG nach § 163 SGG nicht berechtigt ist, die dem angefochtenen Urteil fehlenden tatsächlichen Feststellungen nachzuholen, war die Streitsache auf die in diesem Umfang begründete Revision des Klägers an die Vorinstanz zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen. Hinzu kommt, daß vor dem BSG Rechtsnormen der Volksrepublik Polen als nichtdeutsches Recht nicht revisibel sind (§ 162 SGG). Sie festzustellen und auszulegen ist Sache der Tatsacheninstanzen (§ 202 SGG iVm § 562 ZPO).

Der Ausspruch im Kostenpunkt bleibt der das Verfahren in der Sache abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1657086

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