Entscheidungsstichwort (Thema)

Uneingeschränkte Zulassung der Revision. Auslandsversorgung aufgrund eines Rechtsanspruchs

 

Orientierungssatz

1. Die uneingeschränkte Eröffnung der Revisionsinstanz erlaubt auch Angriffe gegen Entscheidungsteile, die mit dem Zulassungsgrund nicht zusammenhängen, sowie deren revisionsgerichtliche Kontrolle (vgl BSG 1956-07-26 2 RU 35/55 = BSGE 3, 180).

2. Hat das LSG durch Grundurteil einen Rechtsanspruch auf Versorgung gemäß § 64 Abs 1 BVG bejaht, so bleibt es der Verwaltung erlaubt, bei der Urteilsausführung die auf einem Rechtsanspruch beruhende Leistung gemäß der in § 64e Abs 1 BVG vorbehaltenen Abwicklungsmöglichkeit des § 64e Abs 1 S 1 BVG zu kürzen. Die Rechtskraft des Berufungsurteils (§ 141 Abs 1 SGG) läßt eine solche Ermessensentscheidung des Beklagten unberührt. Die Ermächtigung der Verwaltung verändert umgekehrt die Rechtsnatur des grundsätzlich gewährten Rechtsanspruches auf Versorgung nicht etwa in der Weise, daß der Klägerin allein eine Ermessensleistung iS des § 39 SGB 1 und des § 54 Abs 2 S 2 SGG zukäme (vgl BVerfG 1981-01-08 2 BvL 3/77 = BVerfGE 56, 1, 12ff). Vielmehr ist die Verwaltung lediglich unter bestimmten Voraussetzungen befugt, den Rechtsanspruch nicht voll zu erfüllen.

 

Normenkette

SGG § 160 Abs 1 S 1 Fassung: 1974-07-30, § 130 Fassung: 1953-09-03, § 141 Abs 1 Fassung: 1953-09-03, § 54 Abs 2 S 2 Fassung: 1953-09-03; BVG § 64 Abs 1, § 64e Abs 1 S 1; SGB 1 § 39

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 11.02.1981; Aktenzeichen L 11 V 154/77)

SG Münster (Entscheidung vom 14.06.1977; Aktenzeichen S 14 (4) V 52/75)

 

Tatbestand

Die Klägerin, die in Polen lebt, beantragte im Dezember 1973 Witwenversorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) mit der Angabe: Von ihrem 1909 geborenen Ehemann, der 1942 zur deutschen Wehrmacht einberufen worden sei, habe sie die letzte Post Anfang 1945 aus F O erhalten. Der Ehemann ist 1948 in Polen mit der Feststellung des Todeszeitpunkts auf den 9. Mai 1946 für tot erklärt worden. Der Beklagte lehnte eine Versorgung ab (Bescheid vom 6. November 1974, Widerspruchsbescheid vom 30. Januar 1975). Das Sozialgericht (SG) wies die Klage ab (Urteil vom 14. Juni 1977). Das Landessozialgericht (LSG) hat den Beklagten verurteilt, der Klägerin Witwenversorgung nach dem BVG zu gewähren (Urteil vom 11. Februar 1981). Aufgrund der Beweisaufnahme hat es die tatsächlichen Voraussetzungen für einen Versorgungsanspruch nach § 64 Abs 1 iVm § 38 Abs 1 Satz 1 und § 1 Abs 1 und 5 BVG als gegeben angesehen. Gemäß dem Todeserklärungsbeschluß sei vom Tod des Ehemannes auszugehen. Der Beschluß sei auch in der Bundesrepublik Deutschland wirksam. Außerdem sei der ursächliche Zusammenhang zwischen schädigenden Einwirkungen iS des BVG und dem Tod gegeben. Die Information der Deutschen Dienststelle über die Entlassung des Ehemannes aus der Wehrmacht am 2. Juni 1944 stehe dem nicht entgegen. Falls der Ehemann entgegen dieser Mitteilung nicht schon 1944 aus dem Wehrdienst entlassen worden sei, wäre er an einer Schädigung durch eine militärische Dienstverrichtung oder durch einen Unfall im Wehrdienst oder infolge diensteigentümlicher Verhältnisse oder in der Kriegsgefangenschaft verstorben. Falls die Meldung zutreffe, wäre er auf dem Heimweg einem schädigenden Vorgang iS des § 4 Abs 1 Buchstabe a iVm § 1 Abs 1 und 2 Buchstabe a und § 5 BVG zum Opfer gefallen, zB einem Unfall oder Überfall. Andere Möglichkeiten lägen zu weit entfernt, um berücksichtigt werden zu können. Der Ehemann sei weder nach seiner Entlassung im Jahre 1944 noch nachher zu seiner Frau und Tochter im heutigen Polen heimgekehrt. Die Möglichkeit, daß er nach einer Entlassung im Juni 1944 kraft eigenen Entschlusses nicht nach Hause gegangen sei, stehe mit den üblichen Lebensabläufen nicht im Einklang. Ihr hätte insbesondere die strenge Meldepflicht für Männer im wehrfähigen Alter entgegengestanden. Auch die Auskünfte verschiedener befragter Personen und der deutschen Landesversicherungsanstalten hätten keinen Anhalt für einen abweichenden Sachverhalt ergeben. Fall die Todeserklärung nicht beachtlich wäre, bestehe wegen der hohen Wahrscheinlichkeit des Ablebens aus schädigungsbedingten Gründen ein Anspruch auf Verschollenheitsrente nach § 52 BVG.

Der Beklagte rügt mit der Revision, die das Bundessozialgericht (BSG) wegen grundsätzlicher Bedeutung der Frage nach der Rechtsnatur dieser Versorgung zugelassen hat, eine Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sowie der §§ 1, 38, 64 Abs 1 und § 64e Abs 1 Satz 1 BVG. Zwar sei der Todeserklärungsbeschluß zu beachten, und es stehe fest, daß der Ehemann der Klägerin nach dem Krieg nicht heimgekehrt sei. Aber die Überzeugung von einer schädigungsbedingten Todesursache hätte das LSG nicht aus der Lebenserfahrung gewinnen können. Für eine Unrichtigkeit des Entlassungsvermerkes gebe es keinen Anhalt. Dann müßte die Klägerin den letzten Brief 1943 erhalten haben. Es gebe aber keinen Erfahrungssatz, daß ein 1944 entlassener Soldat, der nicht zu seiner Familie zurückkehrte, auf dem Heimweg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einem schädigenden Vorgang iS der §§ 1 und 5 BVG zum Opfer gefallen sei. Allenfalls bestehe dafür eine gewisse Wahrscheinlichkeit. Doch müsse das schädigende Ereignis nachgewiesen sein. Es bestünden noch andere Möglichkeiten der Todesursache, zB eine schädigungsunabhängige Erkrankung oder einen Überfall oder Verkehrsunfall im Zivilleben. Das gelte auch nach einem über Juni 1944 hinausreichenden Wehrdienst. Bei fehlerfreier Beweiswürdigung hätte das LSG zu dem Ergebnis gelangen müssen, daß ein schädigungsbedingter Tod des Ehemannes nicht nachgewiesen sei. Im übrigen hätte das LSG den Beklagten nicht verurteilen dürfen, Witwenversorgung als Rechtsanspruch zu gewähren. Die Klägerin könnte, ungeachtet eines Anspruches aus § 64 Abs 1 BVG, der nicht realisierbar sei, nur eine Teil-Versorgung als Ermessensleistung nach § 64 Abs 1 iVm §§ 64a bis 64f BVG erhalten. Für eine solche Ausnahme beständen besondere Gründe iS des § 64e Abs 1 Satz 1 und 4 BVG bei Personen, die in Polen leben, wegen der vom Bundesgebiet abweichenden Rechts- und Lebensverhältnisse, wegen politischer, finanzieller und devisenrechtlicher Gründe, wegen Anrechnungsbestimmungen des Heimatlandes und aus vertraulich zu behandelnden Gesichtspunkten.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des LSG zu ändern und die Berufung der

Klägerin gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision des Beklagten zurückzuweisen.

Sie vertritt die Auffassung, die Revision sei nur wegen der zu klärenden Rechtsfrage zugelassen und könne daher nicht auf deren Voraussetzung ausgedehnt werden. Jedenfalls liege aber der gerügte Verfahrensmangel nicht vor. Der Angriff gegen die sorgfältige Beweiswürdigung des LSG sei unzulässig. § 128 Abs 1 Satz 1 SGG sei nicht schon dann verletzt, wenn ein anderer als der festgestellte Geschehensablauf denkbar sei. Auch die Vorschriften über die Auslandsversorgung seien nicht verletzt. § 64 Abs 1 BVG verschaffe den dort bezeichneten Personen einen Rechtsanspruch, wie das Bundesverfassungsgericht bestätigt habe. Die Teilversorgung sei keine Ermessensleistung; sie lasse den Rechtsanspruch unberührt. Dieser werde nur aus besonderen Gründen mit einem Erfüllungsvorbehalt versehen. Ob die Versorgungsberechtigten im Ausland lediglich einen Teil der ihnen zustehenden Versorgung erhielten, sei nicht in das Ermessen der Verwaltung, das nicht nachgeprüft werden könne, gestellt.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Beklagten hat keinen Erfolg.

Entgegen der Ansicht der Klägerin hat der Senat die Revision in vollem Umfang zugelassen. Weder der Tenor noch die Gründe des Zulassungsbeschlusses enthalten eine Einschränkung (vgl dazu BVerwGE 41, 52, 53; BSGE 3, 135, 137f). Auf den Zulassungsgrund, die Frage, ob den in Ostblockstaaten lebenden Versorgungsberechtigten nach § 64 Abs 1 BVG ein Rechtsanspruch zusteht oder stets bloß eine Kann-Leistung zukommt, hätte die Zulassung gar nicht beschränkt werden dürfen; denn über diese einzelne Voraussetzung der umstrittenen Leistung hat das LSG nicht entschieden und dürfte das Revisionsgericht nicht ausschließlich befinden. Die uneingeschränkte Eröffnung der Revisionsinstanz erlaubt auch Angriffe gegen Entscheidungsteile, die mit dem Zulassungsgrund nicht zusammenhängen, sowie deren revisionsgerichtliche Kontrolle (BGHZ 9, 357, 358 f; BSGE 3, 180, 183, 185 f).

Das Urteil des LSG ist rechtlich nicht zu beanstanden. Die tatsächlichen Voraussetzungen für den vom Berufungsgericht zuerkannten Versorgungsanspruch sind für das BSG nach § 163 SGG verbindlich festgestellt. Die einzige vom Beklagten erhobene Verfahrensrüge greift nicht durch.

Der Beklagte beanstandet als eine Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG die tatsächliche Feststellung, daß der Ehemann der Klägerin zur Überzeugung des LSG irgendeiner von mehreren in Betracht kommenden Schädigungen iS der §§ 1, 4 oder 5 BVG im militärischen Dienst oder in der Kriegsgefangenschaft oder auf dem Heimweg ausgesetzt war. Diese Rüge ist unzulässig, sonst jedenfalls unbegründet.

Das LSG hat diese Feststellung mit einem so hohen Grad von Wahrscheinlichkeit getroffen, daß er nach dem Gesamtergebnis der Beweiserhebung gemäß der Lebenserfahrung praktisch der Gewißheit gleichkomme; andere Möglichkeiten seien nach "üblichen Lebensabläufen" allzu wenig wahrscheinlich (zB BSGE 45, 285, 287 = SozR 2200 § 548 Nr 38). Dieses Beweisergebnis greift der Beklagte damit an, daß auch andere Todesursachen möglich gewesen seien. Damit wird keine Gesetzesverletzung iS des § 162 schlüssig und substantiiert dargetan. Das LSG müßte nach der Revisionsbegründung die durch § 128 Abs 1 Satz 1 SGG seiner Überzeugungsbildung gesetzten Grenzen überschritten haben. Das wäre zB der Fall, wenn seine Feststellung deshalb unmöglich wäre, weil es sie allein auf einen Erfahrungssatz gestützt hätte, der nicht besteht, oder wenn sie mit einer gesicherten Erfahrung unvereinbar wäre (vgl zB BSGE 2, 127, 129; 2, 236, 237; 10, 46, 49f; SozR Nr 43 zu § 1246 RVO; SozR Nr 12 zu Art 2 § 14 ArVNG; SozR 1500 § 128 Nr 4; Eberhard Schmidt, Lehrkommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, Teil II, 1957, § 261, RdNr 25; Löwe/Rosenberg/Meyer, Strafprozeßordnung, 23. Aufl 1978, § 337, RdNrn 129 ff). Es dürfte sich nicht bloß um eine von mehreren vertretbaren Annahmen handeln. Das LSG hat aber seine Feststellung auf das "Gesamtergebnis des Verfahrens" gestützt. Wenn der Beklagte demgegenüber die Ansicht vertritt, jene Tatsachenvoraussetzung widerspreche schlechthin allgemeiner Lebenserfahrung, dann hätte er angesichts der Gewährung einer Vielzahl von Verschollenheitsrenten bei gleicher oder ähnlicher Sachlage genau darlegen müssen, welchen Inhalt ein solcher Erfahrungssatz, der einerseits mit dieser verbreiteten Verwaltungspraxis vereinbar ist, haben soll, und warum er andererseits die in diesem Verfahren beanstandete Feststellung unvertretbar erscheinen läßt. Daran fehlt es in der Revisionsbegründung. Selbst wenn aber die Verfahrensrüge als noch schlüssig beurteilt werden könnte, wäre sie im Hinblick auf die bezeichnete Entscheidungsübung der Verwaltung und der Gerichte bei Verschollenheitsrenten nicht begründet.

Die Revision greift nicht die weitere Entscheidung an, daß der Tod wahrscheinlich durch eine der wahlweise angenommenen versorgungsrechtlich geschützten Einwirkungen verursacht wurde. Damit sind die tatsächlichen Voraussetzungen für einen Versorgungsanspruch gegeben.

Aufgrund dieser Feststellungen durfte das LSG durch ein Grundurteil den Beklagten verpflichten, der Klägerin als in Polen lebender Deutscher oder deutscher Volkszugehöriger Witwenversorgung zu gewähren. Ihr Rechtsanspruch auf Versorgung beruht auf § 64 Abs 1 BVG (vgl dazu BVerfGE 56, 1 = SozR 3100 § 64e Nr 3; BSG SozR 3100 § 64 Nr 3 S 3 f; 3100 § 65 Nr 2 S 7, 8 f; BSG 5. Mai 1982 - 9a/9 RV 29/81 -). Durch das wiederholte Zitieren dieser Bestimmung im Berufungsurteil ist klargestellt, daß es der Verwaltung erlaubt bleibt, bei der Urteilsausführung die auf einem Rechtsanspruch beruhende Leistung gemäß der in § 64 Abs 1 vorbehaltenen Abweichungsmöglichkeit des § 64e Abs 1 Satz 1 BVG zu kürzen. Die Rechtskraft des Berufungsurteils (§ 141 Abs 1 SGG) läßt eine solche Ermessensentscheidung des Beklagten unberührt. Die Ermächtigung der Verwaltung verändert umgekehrt die Rechtsnatur des grundsätzlich gewährten Rechtsanspruches auf Versorgung nicht etwa in der Weise, daß der Klägerin allein eine Ermessensleistung iS des § 39 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil und des § 54 Abs 2 Satz 2 SGG zukäme (BVerfGE 56, 12, 13, 16 f, 18, 21). Vielmehr ist die Verwaltung lediglich unter bestimmten Voraussetzungen befugt, den Rechtsanspruch nicht voll zu erfüllen. Diese Art von Leistungsverweigerungsrecht gestaltet das Gewährte nicht rechtlich um, zumal auch für die Kürzung nach § 64e BVG nach den Richtlinien kein Spielraum besteht.

Mithin muß die Revision des Beklagten als unbegründet zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1653284

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