Entscheidungsstichwort (Thema)

Sachverhaltsaufklärung. Mitwirkungspflicht der Beteiligten

 

Leitsatz (amtlich)

Das Tatsachengericht darf eine Beweiserhebung nicht mit der Begründung ablehnen, der Kläger habe keine die behauptete Verschlimmerung seiner Gesundheitsstörungen bestätigenden Befundunterlagen vorgelegt.

 

Orientierungssatz

Bei der Erfassung des Sachverhalts besteht die Mitwirkungspflicht der Beteiligten immer dann, wenn das Gericht den Sachverhalt ohne Mitwirkung des Klägers nicht oder nicht selbständig erforschen kann. Es darf aber nicht Ermittlungen, die es selbst anstellen kann, dem Kläger aufbürden (vgl BSG vom 11.7.1972 5 RJ 287/71 = SozR Nr 56 zu § 103 SGG). Zuvor muß das Gericht aber den Beteiligten hinreichend über seine Mitwirkungspflicht und über die Auswirkungen einer unbegründeten Weigerung belehren (vgl BSG vom 13.8.1986 9a RV 44/85 = SozR 1500 § 103 Nr 23 mwN).

 

Normenkette

SGG § 103 S 1 Halbs 2

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 15.11.1985; Aktenzeichen L 6 J 131/85)

SG Speyer (Entscheidung vom 26.03.1985; Aktenzeichen S 6 J 63/84)

 

Tatbestand

Der Kläger beansprucht Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit.

Einen Beruf hat der im Jahre 1936 geborene Kläger nicht erlernt. Er war im wesentlichen als Bauhilfsarbeiter sowie mit Hilfsarbeiten ua als Gerber, Drescher und Schlosser beschäftigt. Seinen Rentenantrag vom 24. November 1981 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 13. Mai 1982 ab. Der Widerspruch des Klägers war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 2. Januar 1984).

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen und das Landessozialgericht (LSG) die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteile vom 26. März und 15. November 1985). Bei der Prüfung des Anspruchs aus § 1246 der Reichsversicherungsordnung (RVO) ist das LSG von einem bisherigen Beruf des Klägers als ungelernter Arbeiter ausgegangen. Da er noch in vollen Schichten zumindest leichte Arbeiten, die kein beidäugiges Sehen erfordern, im Wechsel zwischen Sitzen, Gehen und Stehen sowie ohne ständiges Heben und Tragen von Lasten verrichten könne, sei er weder erwerbsunfähig noch berufsunfähig iS des Rechts der gesetzlichen Rentenversicherung.

Der Kläger hat dieses Urteil mit der vom Senat zugelassenen Revision angefochten. Er rügt eine Verletzung der §§ 1247, 1246 RVO sowie des § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

Der Kläger beantragt,

die Urteile der

Vorinstanzen und den Bescheid

der Beklagten vom 13. Mai 1982 in der Gestalt

des Widerspruchsbescheides vom 2. Januar 1984

aufzuheben sowie die Beklagte

zu verurteilen,

dem Kläger Rente wegen Erwerbsunfähigkeit,

zumindest wegen

Berufsunfähigkeit, ab

1. Dezember 1981 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision des Klägers zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Klägers ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen werden muß. Die festgestellten Tatsachen lassen eine abschließende Entscheidung des Rechtsstreits nicht zu.

Zutreffend hat der Kläger eine Verletzung des § 103 Satz 1 SGG gerügt. Bereits in dem von der Beklagten eingeholten innerfachärztlichen Gutachten vom 19. April 1982 sind degenerative Veränderungen der Wirbelsäule iS einer ausgeprägten Spondylosis deformans mit schmerzhaften Bewegungseinschränkungen im Lendenwirbelsäulenbereich ohne neurologische Ausfälle und Sensibilitätsstörungen beschrieben worden. Der vom SG gehörte Facharzt für innere Krankheiten hat bei seiner Untersuchung des Klägers im September 1984 eine Verschlimmerung dieser Gesundheitsstörungen mit manifestem Bandscheibenschaden im Bereich der Halswirbelsäule und beginnendem Bandscheibenschaden an der Lendenwirbelsäule festgestellt. Im Berufungsverfahren hat der Kläger daraufhin vorgetragen, seine Wirbelsäulenbeschwerden hätten sich weiter wesentlich verschlimmert. Seinem Antrag, ein orthopädisches Fachgutachten einzuholen, hat das LSG nicht stattgegeben. Dazu hat es im angefochtenen Urteil ausgeführt, es sei nicht dargetan, daß eine wesentliche weitere Verschlimmerung eingetreten sei. Entsprechende ärztliche Befundunterlagen habe der Kläger nicht vorgelegt. Daher bestehe kein Anlaß, eine weitere medizinische Sachaufklärung vorzunehmen.

§ 103 Satz 1 SGG verpflichtet das Gericht, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen. Ob das in ausreichendem Maße geschehen ist, muß vom sachlich-rechtlichen Standpunkt des LSG aus beurteilt werden. Der Anspruch des Klägers auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit oder Berufsunfähigkeit hängt davon ab, ob und in welchem Maße die Erwerbsfähigkeit des Klägers infolge von Krankheit herabgesunken ist. Davon geht auch das LSG aus. Es durfte nicht mit der von ihm angeführten Begründung den Beweisantrag des Klägers ablehnen.

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) bestimmt das Gericht im Rahmen seines Ermessens die Ermittlungen und Maßnahmen, die nach seiner materiell-rechtlichen Auffassung zur Aufklärung des Sachverhalts notwendig sind. Dieses Ermessen ist dabei durch die Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts in dem für die Entscheidung erforderlichen Umfang begrenzt (so BSG in SozR Nr 7 zu § 103 SGG). Das LSG verkennt die Amtsermittlungspflicht, wenn es meint, weil der Kläger keine die behauptete Verschlimmerung bestätigenden ärztlichen Befundunterlagen vorgelegt habe, bestehe kein Anlaß zu einer weiteren Sachaufklärung. Von den Beteiligten des sozialgerichtlichen Verfahrens verlangen § 92 Satz 2 SGG für die Klage und § 151 Abs 3 SGG für die Berufung nur, daß die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel angegeben werden sollen. Eine Beweisführungspflicht wird dadurch nicht begründet. Das BSG (aaO Nr 51; vgl auch SozR 1500 § 103 Nr 16) hat selbst eine "Darlegungspflicht" der Beteiligten verneint, die es dem Gericht gestatten würde, von den Beteiligten nicht vorgebrachte Tatsachen auch nicht zu berücksichtigen und nicht in die Ermittlungen sowie Feststellungen einzubeziehen. Erwartet das Gesetz von den Beteiligten mehr als die Angabe von Tatsachen und Beweismitteln, sollen die Tatsachen zB auch glaubhaft gemacht werden, so enthält das Gesetz regelmäßig einen entsprechenden Hinweis. Das zeigen zB die §§ 60 Abs 1 SGG iVm 44 Abs 2 Satz 1 der Zivilprozeßordnung (ZPO), 67 Abs 2 Satz 2 SGG und 76 Abs 3 SGG iVm 487 ZPO. Für das Tatsachenvorbringen in der Berufungsinstanz fehlen vergleichbare Erwartungen an die Beteiligten. Sie sind nicht einmal in Form einer Sollbestimmung normiert. Gemäß § 128 Abs 1 Satz 1 SGG hat das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung zu entscheiden. Hier hat das LSG die Behauptung des Klägers, sein Wirbelsäulenleiden habe sich weiter verschlimmert, nicht auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft. Es hat folglich nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens berücksichtigt.

Nun sind allerdings die Beteiligten zur Mitwirkung bei der Erforschung des Sachverhalts verpflichtet (§ 103 Satz 1, 2. Halbsatz SGG). Die Mitwirkungspflicht besteht immer dann, wenn das Gericht den Sachverhalt ohne Mitwirkung des Klägers nicht oder nicht selbständig erforschen kann. Es darf aber nicht Ermittlungen, die es selbst anstellen kann, dem Kläger aufbürden (so BSG in SozR Nr 56 zu § 103 SGG). Das hat das LSG hier getan. Das BSG hatte im Urteil vom 24. April 1980 (SozR 1500 § 128 Nr 18) einen Rechtsstreit zu entscheiden, in dem ein Träger der gesetzlichen Rentenversicherung die Vorlage von Übersetzungen der in den Verwaltungsakten enthaltenen fremdsprachigen Schriftstücke abgelehnt hat. Dazu hat das BSG ausgeführt, anders als im zivilgerichtlichen Verfahren könne die Nichtbeibringung der Übersetzung nicht dazu führen, daß die Urkunde unberücksichtigt bleibe. Vielmehr sei in diesem Fall gemäß § 103 SGG das Gericht gehalten, von sich aus die Übersetzung zu veranlassen. In gleicher Weise konnte das LSG hier nicht ohne weiteres davon ausgehen, der Kläger müsse die behauptete Verschlimmerung seines Wirbelsäulenleidens von sich aus belegen.

Soweit für den Kläger eine Verpflichtung bestand, bei der Sachaufklärung mitzuwirken, ist eine Verletzung dieser Pflicht allein bedeutsam für die Beweiswürdigung. Die Folge kann sein, daß die anspruchsbegründenden Tatsachen nicht als erwiesen anzusehen sind. Zuvor muß das Gericht aber den Beteiligten hinreichend über seine Mitwirkungspflicht und über die Auswirkungen einer unbegründeten Weigerung belehren (vgl BSG in SozR 1500 § 103 Nr 23 mwN). Die Hinweispflicht des Gerichts bei fehlender Mitwirkung ist aus dem Gebot der Sachaufklärung abgeleitet worden (vgl BSG in SozR 1500 § 160 Nr 34). Das LSG hat es im Falle des Klägers nicht für notwendig erachtet, diesen um eine weitere Mitwirkung zu ersuchen. In der Zeit zwischen dem von der Beklagten eingeholten Gutachten vom 19. April 1982 und dem im auftrage des SG im September 1984 erstatteten hat sich das Wirbelsäulenleiden des Klägers verschlimmert. Darauf hat der Kläger in der Berufungsbegründung hingewiesen. Die von ihm im Juni 1985 vorgebrachte weitere Verschlechterung kann nicht ohne jegliche Nachprüfung als abwegig angesehen werden. Das Gericht mußte sich daher gedrängt fühlen, diesem Vorbringen des Klägers nachzugehen. Das gilt um so mehr, als eine fachorthopädische Begutachtung weder im Verwaltungs- noch im Gerichtsverfahren durchgeführt worden ist. Zwar war das Gericht nicht gehalten, sogleich eine fachorthopädische Begutachtung anzuordnen. Im Rahmen der Aufklärungspflicht nach § 106 Abs 1 SGG hätte der Kläger zunächst aufgefordert werden können, seine Angaben tatsächlicher Art zu ergänzen. So hätte zB bei ihm angefragt werden können, ob sein behandelnder Arzt die Verschlimmerung festgestellt habe und ob er diesen von der ärztlichen Schweigepflicht befreie. Zumindest eine solche Sachaufklärung hätte sich aber dem LSG aufdrängen müssen. Erst dann hätte es nach seinem Ermessen entscheiden können, ob dem Antrag stattzugeben war, ein weiteres Gutachten einzuholen.

Auf der vom Kläger zutreffend gerügten Verletzung der Amtsermittlungspflicht kann die angefochtene Entscheidung des LSG beruhen. Es läßt sich nicht ausschließen, daß bei der gebotenen weiteren Sachaufklärung sich im Vergleich zu den getroffenen Feststellungen eine weitere Einschränkung der Erwerbsfähigkeit des Klägers ergeben hätte, durch die zumindest der Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit begründet worden wäre. Die erforderlichen Ermittlungen wird das LSG daher nachzuholen haben.

Bei seiner erneuten Entscheidung wird das LSG die Rechtsprechung des BSG zu berücksichtigen haben, wonach eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder schwere spezifische Leistungsbehinderungen dazu zwingen, eine konkrete Verweisungstätigkeit zu benennen (vgl BSG in SozR 2200 § 1246 Nr 136). Nach den bisherigen Feststellungen vermag der Kläger nur noch leichte Arbeiten im Wechsel zwischen Sitzen, Gehen und Stehen zu verrichten, die ständiges Heben und Tragen von Lasten sowie beidäugiges Sehen nicht erfordern.

Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1659277

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