Leitsatz (amtlich)

Zur Mitwirkungspflicht des Klägers bei der Erforschung des Sachverhalts. 2. Rechtsfolgen einer nicht formgerechten Zustellung in das Ausland.

 

Normenkette

SGG § 103 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 6. April 1971 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Der ... 1930 geborene Kläger ist italienischer Staatsangehöriger und wohnt in Italien. Er wendet sich gegen die Versagung einer Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung.

Nach den vorliegenden Versicherungskarten Nr. 1 bis 3 hat der Kläger vom 31. März 1959 bis zum 31. Mai 1967 mit Unterbrechungen in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) gearbeitet. Er war überwiegend in Bauunternehmungen tätig. Als Beschäftigungsart ist in der Versicherungskarte Nr. 1 Gleisbauarbeiter, in den Versicherungskarten Nr. 2 und 3 Maurer angegeben.

Den Rentenantrag des Klägers vom 25. Juli 1967 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 19. Februar 1968 ab. Dem Rentenantrag war ein kurzer ärztlicher Bericht des Vertrauensarztes des italienischen Versicherungsträgers beigefügt, wonach beim Kläger eine Coxarthrose links mit einer Funktionsbeeinträchtigung am linken Bein bestand, die eine Erwerbsminderung um weniger als 66 v.H. bedinge. Der Medizinalreferent der Beklagten kam aufgrund dieses Berichts zu der Ansicht, dem Kläger könnten leichte bis mittelschwere Arbeiten, vorwiegend im Sitzen, zugemutet werden. Aus den Akten der Beklagten ergibt sich, daß bei Ablehnung der Rente von dem Beruf eines Gleisbauarbeiters ausgegangen worden ist.

Im Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Augsburg legte der Kläger ein schlecht leserliches ärztliches Attest in italienischer Sprache vor, in dem es nach der Übersetzung u.a. heißt:

Allgemeinzustand: ziemlich gut

Symptome: Bewegungsschmerzen an ... Oberschenkel links. Hinkt.

Diagnose: Arthrose der ... links ... erheblichen Ausmaßes.

Das SG hat darauf ein Gutachten nach Aktenlage von einem Facharzt für Chirurgie eingeholt, der die Diagnose "Aufbrauchserscheinungen am linken Hüftgelenk mit Bewegungsbehinderung" stellte. Als Gleisbauarbeiter bestehe Berufsunfähigkeit, da diese Tätigkeit ständiges Stehen und schweres Heben erfordere. Als Arbeiter des allgemeinen Arbeitsmarktes sei der Kläger unter Berücksichtigung seiner Beschränkungen in der Lage, die gesetzliche Lohnhälfte zu verdienen. Berufsunfähigkeit bestehe nicht.

Mit Urteil vom 10. März 1970 hat das SG die Klage abgewiesen. Nachdem der Kläger während seines Versicherungslebens in der BRD nur ungelernte Tätigkeiten versicherungspflichtig ausgeübt habe und deshalb auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar sei, sei er nicht berufsunfähig.

Mit der gegen dieses Urteil beim Bayerischen Landessozialgericht (LSG) eingelegten Berufung hat der Kläger einen Befundbericht in italienischer Sprache eingereicht, in dem eine Ankylose der linken Hüfte in Beugehaltung, eine Verkürzung des linken unteren Gliedes und eine dorso-lumbale Skoliose und lumbale Hyperlordose bescheinigt wird. In Anbetracht der anatomisch-funktionellen Läsionen könne der Patient keine Arbeiten verrichten.

Das LSG hat von dem beim Institut für Soziale Betreuung, Zweigstelle Udine, tätigen Prozeßbevollmächtigten des Klägers einen eingehenden fachärztlichen Befundbericht in zweifacher Ausfertigung angefordert, aus dem die beim Kläger nunmehr vorliegenden pathologischen Befunde und die hierdurch gegebenenfalls bewirkten Funktionseinschränkungen im einzelnen ersichtlich seien. Ferner wurde um Mitteilung gebeten, ob der Kläger - insbesondere als Maurer - eine Lehrzeit zurückgelegt habe. Als hierauf keine Antwort einging, hat das LSG mit Urteil vom 6. April 1971 die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Das LSG weist darauf hin, das SG sei in seinem Urteil möglicherweise zu Unrecht davon ausgegangen, daß der Kläger während seines Versicherungslebens in der BRD nur ungelernte Tätigkeiten versicherungspflichtig ausgeübt habe. Aus den Akten sei nicht ersichtlich, ob er - insbesondere als Maurer - eine Lehrzeit zurückgelegt habe. Im Zweifel sei aber anzunehmen, daß das nicht der Fall sei. Nach den allgemeinen Erfahrungen sei es auch unwahrscheinlich, daß er in Deutschland als Maurer eine qualifizierte Tätigkeit ausgeübt habe. Jedenfalls wäre es Sache seines Bevollmächtigten gewesen, die einschlägigen Anfragen des Senats zu beantworten. Daher gehe der Senat davon aus, daß der Kläger, soweit er als Maurer tätig gewesen sei, lediglich ein angelernter Maurer gewesen sei. Unter diesen Umständen könne er aber auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verwiesen werden, soweit sie nicht nur einfachster Art seien. Hierbei gebe es eine ganze Reihe von Tätigkeiten, die im wesentlichen im Sitzen verrichtet werden könnten. Der Kläger sei deshalb weder berufs- noch erwerbsunfähig. Die Revision gegen dieses Urteil hat das LSG nicht zugelassen. Das Urteil ist mit Rückschein an den Kläger abgesandt und diesem am 5. Mai 1971 ausgehändigt worden.

Der Kläger hat am 2. August 1971 gegen das Urteil mit einem von ihm selbst unterschriebenen Schriftsatz Revision eingelegt. Nach einer Belehrung über das Armenrecht durch das Revisionsgericht ging am 30. Dezember 1971 eine Bescheinigung der Gemeinde Lignano Sabbiadoro, Provinz Udine, ein, aus der sich ergibt, daß der Kläger in bedürftigen Verhältnissen lebt. Mit Beschluß vom 31. Januar 1972 hat der erkennende Senat dem Kläger für das Verfahren vor dem Bundessozialgericht (BSG) das Armenrecht bewilligt und einen Rechtsanwalt zur vorläufig unentgeltlichen Wahrnehmung seiner Rechte beigeordnet. Dieser Beschluß wurde am 4. Februar 1972 dem neuen Prozeßbevollmächtigten zugestellt, der am 1. März 1972 Revision gegen das Urteil des LSG einlegte und wegen Nichteinhaltung der Revisionsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragte. Zur Begründung der Revision wird in der am 29. März 1972 eingegangenen Revisionsbegründungsschrift ausgeführt, das LSG habe dem Kläger aufgegeben, die Aufklärung durch Einreichung eines Gutachtens vorzunehmen. Das müsse in verfahrensrechtlicher Hinsicht gerügt werden, denn diese Aufklärung hätte durch das Gericht erfolgen müssen. Auch sei eine nähere Aufklärung des beruflichen Werdegangs des Klägers unterblieben. Selbst wenn der Kläger keine Lehrzeit als Maurer absolviert hätte, hätte er sich durch seine langjährige Tätigkeit in diesem Beruf zumindest solche Kenntnisse und Fertigkeiten angeeignet, die denen eines gelernten Maurers praktisch gleichstehen. Auch insoweit sei eine Aufklärung durch das LSG unterblieben. Es könne nicht angenommen werden, daß der Kläger in der BRD nur ungelernte Tätigkeiten versicherungspflichtig ausgeübt habe.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 6. April 1971 aufzuheben und dem Kläger eine Rente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

Sie ist der Ansicht, daß durch die Pflicht des Gerichts zur Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen der Kläger von seiner Pflicht, bei der Beschaffung von Unterlagen und bei der Aufklärung des Streitstoffes mitzuwirken, nicht entbunden sei. Wenn daher die vom Kläger benötigten ärztlichen Unterlagen nicht übersandt worden seien, dann habe das LSG das Recht und die Möglichkeit gehabt, zu entscheiden.

II

Die Revision ist am 1. März 1972 durch den nach § 166 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zugelassenen Prozeßbevollmächtigten des Klägers fristgerecht eingelegt worden. Das Urteil des LSG ist dem Kläger zwar schon am 5. Mai 1971 zugegangen, jedoch unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften. Nach § 63 Abs. 2 SGG wird von Amts wegen nach §§ 2 bis 15 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) zugestellt. Eine Zustellung in das Ausland durch Übersendung mit Rückschein kennt das VwZG nicht. Allerdings gilt dann, wenn sich die formgerechte Zustellung eines Schriftstückes nicht nachweisen läßt oder wenn das Schriftstück unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen ist, das Schriftstück als in dem Zeitpunkt zugestellt, in dem es der Empfangsberechtigte nachweislich erhalten hat (§ 9 Abs. 1 VwZG). Wenn nach § 9 Abs. 2 VwZG diese Regelung auch nicht anzuwenden ist, falls mit der Zustellung eine Frist für die Erhebung der Klage, eine Berufungs-, Revisions- oder Rechtsmittelbegründungsfrist beginnt, so kann dies nach dem Sinn und Zweck doch nur insoweit Bedeutung haben, als der Lauf dieser Fristen in Frage steht. Im übrigen gilt aber auch in diesen Fällen das Urteil als ordnungsgemäß zugestellt. § 9 Abs. 2 VwZG hindert nur den Ablauf der Rechtsmittel- und Rechtsmittelbegründungsfrist, beläßt es aber im übrigen bei dem sich aus Abs. 1 dieser Vorschrift ergebenden Grundsatz. Auch ein nicht formgerecht zugestelltes Urteil gilt demnach in dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem es der Empfangsberechtigte nachweislich erhalten hat (BSG, Urteil vom 29. Juni 1972 - 2 RU 62/70 -). Es könnte allerdings daran gedacht werden, daß die Befugnis, Klage zu erheben oder Rechtsmittel einzulegen, verwirkt werden könnte. Das kann hier jedoch dahingestellt bleiben, weil die Voraussetzungen hierfür schon rein zeitlich gesehen nicht vorliegen.

Das LSG hat zwar in dem angefochtenen Urteil die Revision nicht zugelassen (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG); indessen findet sie gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG auch statt, wenn der Revisionskläger einen wesentlichen Mangel in dem Verfahren der Vorinstanz rügt. Das ist hier der Fall, denn mindestens einer der vom Kläger gerügten Verstöße gegen die Amtsermittlungspflicht (Verstoß gegen § 103 SGG) liegt vor.

Das LSG ist davon ausgegangen, daß die ihm vorliegenden medizinischen Unterlagen nicht ausreichen, um die Einsatzfähigkeit des Klägers auf dem Arbeitsmarkt zu beurteilen. Es hatte deshalb den Kläger zur Einreichung eines eingehenden fachärztlichen Befundberichts aufgefordert, aus dem die vorliegenden pathologischen Befunde und die hierdurch gegebenenfalls bewirkten Funktionseinschränkungen im einzelnen ersichtlich sein sollten. Als der Kläger diesen Befundbericht nicht einreichte, hat es zu seinem Nachteil entschieden, ohne eine weitere medizinische Aufklärung durchzuführen. Unter bestimmten Voraussetzungen besteht zwar eine Mitwirkungspflicht des Klägers, und er kann dann, wenn er dieser nicht nachkommt, später nicht geltend machen, der Sachverhalt sei nicht ausreichend erforscht. Diese Mitwirkungspflicht ist in der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) und in der Finanzgerichtsordnung (FGO) ausdrücklich festgelegt. Nach § 86 Abs. 1 VwGO und § 76 Abs. 1 FGO hat das Gericht die Beteiligten bei der Erforschung des Sachverhalts von Amts wegen heranzuziehen. Das gleiche gilt aber, da es sich um einen allgemeinen Grundsatz handelt, auch für das Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit, wenn es auch in § 103 SGG nicht ausdrücklich gesagt ist. Die Mitwirkungspflicht besteht immer dann, wenn das Gericht den Sachverhalt ohne die Mitwirkung des Klägers nicht oder nicht vollständig erforschen kann. Es geht aber nicht an, daß das Gericht Ermittlungen, die es selbst ohne Mitwirkung des Klägers anstellen kann, diesem aufbürdet, zumal dann, wenn diesem dadurch, wie im vorliegenden Fall, Kosten entstehen. Solange und soweit das Gericht selbst die Möglichkeit zur Aufklärung des Sachverhalts hat, muß es hiervon Gebrauch machen; eine Verletzung der Mitwirkungspflicht kann in diesen Fällen nur in Betracht kommen, wenn der Kläger die Möglichkeit zur Aufklärung des Sachverhalts durch die Versagung seiner Mitwirkung besonders erschwert. Nachdem der Kläger im vorliegenden Fall den geforderten eingehenden fachärztlichen Befundbericht nicht eingereicht hat, war daher das LSG verpflichtet, von Amts wegen die für erforderlich gehaltene weitere medizinische Aufklärung vorzunehmen. Es durfte jedenfalls nicht ohne die Einholung der von ihm für erforderlich gehaltenen weiteren medizinischen Unterlagen entscheiden. Daher hat der Kläger zu Recht im Revisionsverfahren eine Verletzung des § 103 SGG geltend gemacht.

Die Revision ist auch begründet, weil das Urteil des LSG auf diesem Mangel beruhen kann. Es besteht die Möglichkeit, daß es anders entschieden hätte, wenn es im Rahmen seiner Pflicht zur Amtsermittlung die zur Entscheidung erforderlichen Tatsachen ermittelt hätte.

Die Sache muß zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden, weil das Revisionsgericht keine tatsächlichen Feststellungen treffen kann. Das LSG wird nunmehr unter Berücksichtigung der vom Kläger erst im Revisionsverfahren vorgelegten, von ihm als Gesellenbrief bezeichneten Urkunde in italienischer Sprache zu prüfen haben, ob er gelernter Maurer ist. Darüberhinaus wird es auch die Art der vom Kläger in der Bundesrepublik Deutschland geleisteten Arbeiten zu erforschen haben, zumal die Einordnung in die obere, die mittlere oder die untere Gruppe der der Versicherungspflicht in der Arbeiterrentenversicherung unterliegenden Tätigkeiten und damit der Kreis der einem Versicherten zumutbaren Tätigkeiten nicht ausschließlich und nicht allein nach der Ausbildung bestimmt werden darf. Es müssen vielmehr gemäß § 1246 Abs. 2 Satz 2, zweiter Halbsatz der Reichsversicherungsordnung auch die Bedeutung des Berufs für den Betrieb und die besonderen Anforderungen an den Beruf berücksichtigt werden. Diese Merkmale finden in der Regel in den tariflichen Eingruppierungen ihren Niederschlag. Eine erfolgreich abgeschlossene Lehre beweist allerdings im Normalfall, daß der Versicherte Arbeiten der oberen Gruppe vollwertig verrichten kann und ist im Zweifelsfalle auch ein Indiz dafür, daß er sie verrichtet hat. Wie der Senat bereits mehrfach entschieden hat, kann aber auch ein Versicherter ohne Ausbildung oder mit bloßer Anlernung in eine höhere der drei Gruppen der Arbeiterberufe eingeordnet werden, wenn er einen entsprechenden Lehrberuf oder einen anerkannten Anlernberuf längere Zeit hindurch vollwertig und mit voller Entlohnung verrichtet hat (BSG 31, 106; SozR Nr. 25 und 26 zu § 46 RKG).

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1668937

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