Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Urteil vom 29.01.1997; Aktenzeichen L 12 Ka 104/95)

 

Tenor

Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 29. Januar 1997 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat den Klägerinnen deren Kosten für das Beschwerdeverfahren zu erstatten. Im übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Klägerinnen, Ärztinnen für Laboratoriumsdiagnostik, hatten Honorarbescheide für die Quartale II/91 bis I/94 im Primär- und Ersatzkassenbereich angefochten. Die dabei zugrunde gelegten Regelungen des Honorarverteilungsmaßstabs (HVM) und des Ersatzkassen-Honorarvertrages (ErsK-HonV) wurden aufgrund des Urteils des Senats vom 29. September 1993 (BSGE 73, 131 = SozR 3-2500 § 85 Nr 4 – Labortopf –) nachträglich geändert. Es wurden für Laborleistungen Honorartöpfe gebildet. Die gegen die Widerspruchsbescheide erhobenen Klagen hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen (Urteil vom 29. August 1995). Im Berufungsverfahren haben die Beteiligten den Rechtsstreit betr die Honorarbescheide im Ersatzkassen-Bereich übereinstimmend für erledigt erklärt.

Bezüglich der Primärkassen-Quartale hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 29. Januar 1997 das klageabweisende Urteil des SG sowie die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, die Honorare der Klägerinnen neu festzusetzen: Die Regelungen des HVM über die Vergütungen für Laborleistungen trügen den Vorgaben des Senats (BSGE 73, 131 = SozR 3-2500 § 85 Nr 4) zur Differenzierung zwischen den verschiedenen Leistungen nicht Rechnung und seien daher nichtig. Eine bloße Unvereinbar-Erklärung gebe es bei untergesetzlichen Normen wie dem HVM grundsätzlich nicht; sie sei auf bestimmte, hier nicht vorliegende Ausnahmefälle beschränkt.

Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision wendet sich die Beklagte gegen die Auffassung des LSG, daß die beanstandeten HVM-Regelungen nichtig seien. Sie macht die grundsätzliche Bedeutung der Sache geltend; zudem erhebt sie eine sog Divergenzrüge.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG hat keinen Erfolg.

Wer die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache im Sinne des § 160 Abs 2 Nr 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) begehrt, muß die zur Überprüfung gestellte Rechtsfrage, wie aus § 160a Abs 2 Satz 3 SGG zu entnehmen ist, in eigener Formulierung klar bezeichnen sowie darlegen, inwiefern diese Rechtsfrage klärungsbedürftig und im anhängigen Rechtsstreit klärungsfähig (entscheidungserheblich) sowie über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist.

Soweit die Beschwerde auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache gestützt wird, ist sie zwar zulässig, weil den Darlegungserfordernissen genügt ist. Sie ist aber nicht begründet. Die aufgeworfene Rechtsfrage, ob bzw in welchen Fällen der Rechtswidrigkeit einer Rechtsnorm auf den Ausspruch der Nichtigkeitsfolge verzichtet werden kann, ist nicht klärungsbedürftig; denn die Antwort auf sie steht außer Zweifel (vgl BSGE 40, 40 = SozR 1500 § 160a Nr 4; BSG SozR 1500 § 151 Nr 10; Senatsbeschluß vom 20. Juni 1989 – 6 BKa 6/89 – S 2, BSG SozR 3-1500 § 146 Nr 2 S 6; § 160 Nr 8 S 17 f; § 160a Nr 21 S 38). Die Frage, ob ein Absehen von der Nichtig-Erklärung in Betracht kommen kann, ist anhand der vorliegenden höchstrichterlichen Rechtsprechung zu verneinen, ohne daß es einer Revisionsentscheidung hierzu bedarf (zur entsprechenden Konstellation ebenso BVerwG, Beschluß vom 26. Januar 1995, DÖV 1995, 469).

Aus dem Rechtssystem höherrangiger und niederrangiger Rechtsquellen folgt, daß eine niederrangige Norm, die mit einer höherrangigen in Widerspruch steht, grundsätzlich keine Geltung beanspruchen kann, dh unwirksam ist (hierzu jüngst zusammenfassend C. Hartmann, DVBl 1997, 1264, 1266; so auch die ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ≪BSG≫, zB BSGE 78, 91, 92 f = SozR 3-5540 § 25 Nr 2 S 4: „mit höherrangigem Recht nicht vereinbar und deshalb unwirksam”; ebenso BSG SozR 3-2200 § 368f Nr 3 S 6; MedR 1994, 376, 378; MedR 1995, 284, 285; BSGE 75, 37, 39/40 = SozR 3-2500 Nr 7 S 40; vgl ferner BSGE 71, 42, 50 = SozR 3-2500 § 87 Nr 4 S 18 und BSGE 29, 111, 114 = SozR Nr 12 zu § 368f RVO). Eine Abweichung von dem Geltungsvorrang der höherrangigen Norm, dh eine Weitergeltung der niederrangigen widersprechenden Rechtsnorm, kann es grundsätzlich nur insoweit geben, als dies in der Rechtsordnung so geregelt ist. Hierzu bedarf es entsprechender Vorschriften in der Verfassung (so C. Hartmann aaO, S 1266 Fußn 43 mwN) oder jedenfalls in den Prozeßgesetzen (so BVerwG aaO, DÖV 1995, 469 f). Während für Verwaltungsakte die Sonderregelung besteht, daß sie im Falle der Gesetzeswidrigkeit grundsätzlich nur aufhebbar und nur in bestimmten Fällen nichtig sind (vgl die entsprechenden Vorschriften in der Verwaltungs-, der Finanzgerichtsordnung, dem SGG sowie in den Verwaltungsverfahrensgesetzen), sind Rechtsnormen, die mit höherrangigem Recht unvereinbar sind, grundsätzlich nichtig. Die Möglichkeit, von der Nichtig-Erklärung abzusehen, ist nur im Gesetz über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) vorgesehen (§§ 31 Abs 2, 79 Abs 1 BVerfGG). Die vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) insoweit angewandte Rechtsfigur der bloßen Unvereinbar-Erklärung verfassungswidriger Rechtsnormen beruht auf dieser speziell nur dem BVerfG eingeräumten Kompetenz. In den anderen Prozeßgesetzen und Prozeßordnungen des Bundes hat der Gesetzgeber keine entsprechenden Regelungen geschaffen (vgl BVerwG aaO, betr Verwaltungsgerichtsordnung). Eine Rechtsfortbildung durch den Richter läßt sich grundsätzlich nicht rechtfertigen bzw kann allenfalls in besonderen Ausnahmefällen in Betracht kommen (so auch BVerwG aaO, 469 und 470).

Ein solcher Ausnahmefall liegt hier nicht vor. Im Regelfall können drohende gravierende Folgen der Nichtig-Erklärung aufgefangen werden, indem der Normgeber zB nach der Nichtig-Erklärung eine neue Rechtsnorm erläßt und ihr Rückwirkung beimißt und so ein rechtliches Vakuum vermeidet bzw behebt (Nachweise der Rechtsprechung im BVerwG-Beschluß aaO, DÖV 1995, 469, 470). Wenn überhaupt ein Absehen von der Nichtig-Erklärung zu erwägen wäre, so kann sich dies jedenfalls nur auf notstandsähnliche Situationen beziehen. Anhaltspunkte dafür, um welche Art von Fällen es sich dabei handeln könnte, ergeben sich aus der Rechtsprechung des BVerfG. Es sieht – abgesehen von den hier nicht in Betracht kommenden Fällen von Gleichheitsverstößen – dann von der Nichtig-Erklärung ab, wenn diese zu einem Rechtsvakuum und damit zu einem Zustand führen würde, der der verfassungsmäßigen Ordnung noch ferner stünde als die verfassungswidrige Regelung (so zB bei beamtenrechtlichen Besoldungsvorschriften, bei Wahlrechts- und Staatsangehörigkeitsregelungen sowie beim Jugendschutzrecht). Ein weiterer – noch nicht abschließend geklärter – Bereich des Absehens von der Nichtig-Erklärung sind die Fälle, in denen sie aus sonstigen Gründen schwer erträgliche Folgen hätte; dies hat das BVerfG insbesondere bei Regelungen mit supranationalen Bezügen angenommen (zB Regelungen der Besatzungsmächte, Transformationsgesetze zu zwischenstaatlichen Verträgen; zu den vom BVerfG praktizierten Fallkonstellationen siehe zB BVerfGE 37, 217, 261; 61, 319, 356; 83, 130, 154; 84, 1, 20; 87, 153, 177 f; 89, 381, 394; 92, 53, 73; 95, 192, 218 f; BVerfG, Urteil vom 17. Februar 1998 – 1 BvF 1/91 – Abschnitt C VIII; vgl außerdem zB Stuth in: Umbach/Clemens ≪Hrsg≫, BVerfGG, 1992, § 78 RdNrn 14 ff; Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, 4. Aufl 1997, RdNrn 366 ff).

Der vorliegende Fall betrifft Regelungen über die Honorarverteilung im HVM. Ihre Nichtigkeit führt nicht zu schwer erträglichen Folgen im Sinne der BVerfG-Rechtsprechung, geschweige denn zu einer notstandsähnlichen Situation. Zwar kann die Nichtigkeit der hier zu beurteilenden Normen durchaus gravierende Folgen haben, weil uU beträchtliche Honorarnachzahlungen für frühere Quartale geleistet werden müßten und dies diejenigen Ärzte, die sich mit den Mindervergütungen abgefunden hatten, sowie auch neu zugelassene Ärzte mitbelasten würde. Allein eine solche Folge stellt sich nicht als schwer erträglich im genannten Sinne dar. Der gegebene Fall ist dadurch geprägt, daß bei der Schaffung der nunmehr vom LSG beanstandeten HVM-Regelung die Entscheidungen des erkennenden Senats zur Zulässigkeit von sog Honorartöpfen schon bekannt waren; es handelte sich um eine nachbessernde HVM-Regelung. Im Hinblick hierauf war das Risiko ihrer Rechtswidrigkeit gegeben, so daß sich die Nichtigkeitsfolge schon deshalb nicht als schwer erträglich darstellt. Gründe wie das Fehlen der Durchsetzbarkeit eines Rücklagenbeschlusses in der Vertreterversammlung – was die Beklagte geltend macht – liegen im Verantwortungsbereich der Beklagten selbst bzw ihrer Vertreterversammlung und führen nicht dazu, daß eine erneute Nachbesserung des HVM als schwer erträglich angesehen werden müßte.

Eine Fallkonstellation, die es rechtfertigen könnte, ohne entsprechende Vorgabe im SGG von der Nichtig-Erklärung abzusehen, liegt mithin nicht vor, ohne daß dies grundsätzlicher Vertiefung in einem Revisionsverfahren bedarf.

Ebensowenig Erfolg hat die von der Beklagten erhobene Divergenzrüge, nämlich daß das Berufungsurteil von dem Urteil des 5. Senats des BSG vom 29. November 1990 (BSGE 68, 31 = SozR 3-2200 § 1251a Nr 12) abweiche. Insoweit ist die Nichtzulassungsbeschwerde bereits unzulässig; die Begründung der Abweichungsrüge entspricht nicht dem Darlegungserfordernis des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG. Die Beklagte hat sich mit den Ausführungen des Berufungsurteils nicht ausreichend auseinandergesetzt. Ihre Ansicht, daß das LSG bei dem herangezogenen Vergleich nur das unterschiedliche rechtliche Können herausstelle und dabei die tatsächlichen Gegebenheiten außer Betracht lasse (und dadurch von der BSG-Rechtsprechung abweiche), trifft in dieser Undifferenziertheit nicht zu. Das LSG hat durchaus berücksichtigt, daß das unterschiedliche rechtliche Können auf die tatsächlichen Gegebenheiten der Leistungserbringung und des Abrechnungsverhaltens durchschlägt (LSG-Urteil S 19 unten). Ebenso wie hierzu fehlt die erforderliche Auseinandersetzung mit den gerichtlichen Ausführungen auch bei der Stellungnahme zu den angeblich abweichenden Ausführungen des Urteils des 5. Senats des BSG. Der in der Entscheidung (BSGE 68, 31 ≪37≫ = SozR aaO, ≪S 37≫) verwendete Begriff der „tatsächlichen Gleichheiten bzw Ungleichheiten” ist umfassend zu verstehen; es kommt außer auf die rechtlichen Umstände auch auf die tatsächlichen Umstände und Unterschiede an. Sowohl in diesem BSG-Urteil als auch in der darin angeführten Entscheidung des BVerfG (BVerfGE 60, 113) werden außer tatsächlichen auch rechtliche Gesichtspunkte einbezogen (siehe BSGE aaO, S 38 = SozR aaO, S 39 und BVerfGE aaO, S 119).

Nach alledem ist die Nichtzulassungsbeschwerde mit der Kostenfolge entsprechend § 193 Abs 1 und Abs 4 SGG zurückzuweisen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1175735

MedR 2000, 51

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