Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Urteil vom 11.05.2022; Aktenzeichen L 2 U 140/13)

SG Augsburg (Entscheidung vom 19.03.2013; Aktenzeichen S 5 U 281/12)

 

Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 11. Mai 2022 wird als unzulässig verworfen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Mit dem vorgenannten Urteil hat das LSG die Berufung des Klägers gegen die Entscheidung des SG (Gerichtsbescheid vom 19.3.2013) zurückgewiesen. Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat der Kläger beim BSG Beschwerde eingelegt.

In der Beschwerdebegründung macht er das Vorliegen eines Verfahrensmangels wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs geltend.

II

Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig. Die Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen, weil der geltend gemachte Zulassungsgrund des Vorliegens eines Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 Nr 3 SGG) wegen Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG; § 62 SGG) nicht ordnungsgemäß bezeichnet worden ist (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG).

1. Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 1 SGG), so müssen bei der Bezeichnung des Verfahrensmangels zunächst die diesen vermeintlich begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des LSG ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht auf dem Mangel beruhen kann, dass also die Möglichkeit einer Beeinflussung der Entscheidung besteht. Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel allerdings nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht. Sie rügt eine Verletzung rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG; § 62 SGG), weil das LSG zu Unrecht von der Zustellungsfiktion des § 37 Abs 2 Satz 1 SGB X ausgegangen sei und Vortrag des Klägers abgeschnitten habe. Ohne vorherigen Hinweis habe das LSG bereits die Klage als verspätet erhoben bewertet. Die Beschwerdebegründung bezeichnet mit ihrem weiterem Vortrag dazu nicht hinreichend eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG; § 62 SGG).

a) Soweit der Kläger seine Rüge darauf stützt, dass das LSG den Sachverhalt nicht richtig gewürdigt, den Angaben der Beklagten mehr Glauben geschenkt und zu Unrecht eine Erschütterung der Fiktion des § 37 Abs 2 Satz 1 SGB X verneint habe, wendet sie sich gegen die Beweiswürdigung nach § 128 Abs 1 Satz 1 SGG und gegen die inhaltliche Richtigkeit der Entscheidung. Auf diese Aspekte kann eine Nichtzulassungsbeschwerde indes nicht gestützt werden (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG; BSG Beschluss vom 9.6.2023 - B 2 U 7/23 B - juris RdNr 5, 14 mwN; BSG Beschluss vom 13.7.2023 - B 1 KR 25/22 B - juris RdNr 7 mwN; BSG Beschluss vom 25.7.2011 - B 12 KR 114/10 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 22 RdNr 4).

b) Auch mit dem Vorbringen, das LSG habe anwaltlichen Vortrag abgeschnitten, bezeichnet die Beschwerdebegründung eine Gehörsverletzung hier nicht schlüssig.

Die Garantie rechtlichen Gehörs verpflichtet die Gerichte, das Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in ihre Erwägungen einzubeziehen. Dabei gilt die tatsächliche Vermutung, dass ein Gericht das Vorbringen der Beteiligten und den Akteninhalt zur Kenntnis genommen und erwogen hat, zumal es nach Art 103 Abs 1 GG nicht verpflichtet ist, auf jeden Gesichtspunkt einzugehen, der im Laufe des Verfahrens von der einen oder anderen Seite zur Sprache gebracht worden ist. Der Anspruch auf rechtliches Gehör gewährleistet nur, dass Beteiligte mit ihrem Vortrag "gehört", nicht jedoch "erhört" werden. Die Gerichte werden durch Art 103 Abs 1 GG nicht dazu verpflichtet, der Rechtsansicht eines Beteiligten zu folgen (BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 30.9.2022 - 2 BvR 2222/21 - juris RdNr 27; BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 9.2.2022 - 2 BvR 613/21 - juris RdNr 4; BSG Beschluss vom 31.5.2022 - B 2 U 120/21 B - juris RdNr 16; BSG Beschluss vom 17.5.2022 - B 2 U 91/21 B - juris RdNr 14 mwN).

Deshalb muss die Beschwerdebegründung "besondere Umstände" des Einzelfalls aufzeigen, aus denen auf das Gegenteil geschlossen werden kann. Besondere Umstände liegen etwa vor, wenn das Gericht auf den wesentlichen Kern des Beteiligtenvortrags zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, nicht eingeht, obwohl das Vorbringen nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts erheblich und nicht offensichtlich unsubstantiiert war (BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 30.9.2022 - 2 BvR 2222/21 - juris RdNr 27 mwN; BSG Beschluss vom 14.12.2022 - B 2 U 1/22 B - juris RdNr 13; BSG Beschluss vom 21.4.2022 - B 5 R 306/21 B - juris RdNr 20 mwN). Die Beschwerdebegründung zeigt derartige besonderen Umstände nicht auf. Insoweit trägt sie selbst vor, dass das LSG auf die angebotene Vorlage des Widerspruchsbescheides im Original deswegen verzichtet habe, weil es die in den Akten vorhandene Kopie für ausreichend befunden habe. Mithin hat es den Klägervortrag diesbezüglich zu Kenntnis und dazu auch Stellung genommen.

Unabhängig davon ist zur Begründung eines Verfahrensmangels wegen Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG; § 62 SGG) nicht nur der Verstoß gegen diesen Grundsatz selbst zu bezeichnen, sondern auch darzutun, an welchem Vorbringen der Beschwerdeführer gehindert worden ist und inwiefern die angefochtene Entscheidung darauf beruhen kann sowie, dass der Beschwerdeführer darlegt, seinerseits alles getan zu haben, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen (zB BSG Beschluss vom 12.4.2023 - B 2 U 61/22 B - juris RdNr 8 mwN; BSG Beschluss vom 28.11.2022 - B 2 U 84/22 B - juris RdNr 16; BSG Beschluss vom 30.8.2018 - B 2 U 230/17 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 38 RdNr 5; BSG Beschluss vom 20.1.1998 - B 13 RJ 207/97 B - SozR 3-1500 § 160 Nr 22 S 35 = juris RdNr 5; BSG Beschluss vom 18.2.1980 - 10 BV 109/79 - SozR 1500 § 160a Nr 36 S 53 = juris RdNr 2 f). Hierzu enthält die Beschwerdebegründung keinen schlüssigen Vortrag. So legt sie nicht hinreichend dar, dass der Kläger alles getan hat, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen. Hier wäre es aus Sicht des Klägers erforderlich gewesen, bereits dem LSG gegenüber den Rückstellungsauftrag bei der Post, wonach an Samstagen und Sonntagen keine Zustellungen erfolgen, vorzulegen und nicht nur die Vorlage des Widerspruchsbescheides im Original anzubieten. Dass der Kläger an der Vorlage des Rückstellungsauftrags im Berufungsverfahren gehindert gewesen ist, behauptet dagegen auch die Beschwerdebegründung nicht. In diesem Zusammenhang trägt sie auch ein Beruhen der Entscheidung des LSG nicht schlüssig vor. Es fehlt an einer Darlegung der konkreten Verfahrensgeschichte, etwa dazu, ob der gegenständliche Widerspruchsbescheid formlos bekanntgegeben (§ 85 Abs 3 Satz 1 SGG iVm § 37 SGB X) oder förmlich zugestellt wurde (§ 85 Abs 3 Satz 2 SGG iVm § 1 ff VwZG). Denn beide Wege sind bei der Bekanntgabe eines Widerspruchsbescheides eröffnet (dazu auch BSG Beschluss vom 15.6.2023 - B 9 V 37/22 B - juris RdNr 11). Inwieweit sich der Rückstellungsauftrag bei der Post im Fall einer formlosen Bekanntgabe ausgewirkt haben könnte, lässt die Beschwerdebegründung offen, ebenso wie den Aspekt einer möglichen Bekanntgabe oder Zustellung an einem Freitag. So führt die Beschwerdebegründung auch nichts dazu aus, auf welchen Tag der Bekanntgabe einer- und der Klageerhebung andererseits das LSG abgestellt hat. Die Beschwerdebegründung trägt ferner nichts dazu vor, dass und aus welchen Gründen die Entscheidung des LSG auf der fehlenden Vorlage des Widerspruchsbescheides im Original beruhen kann, also die Möglichkeit einer Beeinflussung der Entscheidung besteht. Für eine Bezeichnung des Beruhens hätte es zudem eines Vortrages dazu bedurft, dass die Berufung des Klägers in der Sache Aussicht auf Erfolg gehabt hätte. Denn die Entscheidung des LSG beinhaltet eine Zurückweisung der Berufung als unbegründet, die Unzulässigkeit der Klage ist hierfür insgesamt nur eines der möglichen Begründungselemente. Somit konnte das Urteil des LSG auch bei Zulässigkeit der Klage nur dann auf dem gerügten Verfahrensmangel beruhen, wenn nicht ausgeschlossen ist, dass das LSG ohne ihn zu einem für den Kläger günstigeren Ergebnis gekommen wäre. Insoweit enthält die Beschwerdebegründung indes bereits keinen Vortrag zum Streitgegenstand sowie zur Verfahrens- und Prozessgeschichte bzgl der geltend gemachten Ansprüche.

c) Schließlich zeigt der Kläger eine Verletzung des rechtlichen Gehörs nicht dadurch auf, dass er sinngemäß eine Überraschungsentscheidung rügt, weil das LSG bereits die Klage als verspätet erhoben bewertet und diese Bewertung nicht vorab zu erkennen gegeben habe. Stattdessen habe es den Kläger und seine Bevollmächtigten in den Glauben versetzt, dass der Nachweis des Zustellungsdatums geführt sei.

Es besteht indes keine allgemeine Verpflichtung der Tatsacheninstanzen, die Beteiligten vor Erlass der Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit ihnen zu erörtern. Denn die tatsächliche und rechtliche Würdigung ergibt sich regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Beratung. Eine unzulässige Überraschungsentscheidung kann nur angenommen werden, wenn das Gericht zur Grundlage seiner Entscheidung einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Verfahrensverlauf nicht zu rechnen brauchte (zB BSG Beschluss vom 12.4.2023 - B 2 U 50/22 B - juris RdNr 20 mwN; BSG Beschluss vom 15.8.2022 - B 2 U 141/21 B - juris RdNr 19 mwN; BSG Beschluss vom 17.4.2023 - B 5 R 3/23 B - juris RdNr 7 mwN). Die Beschwerdebegründung lässt nicht erkennen, aus welchen Umständen die Prozessbevollmächtigten davon ausgehen durften, dass das LSG deren Annahme über das relevante Bekanntgabedatum folgen werde und die Bewertung der Klage als verspätet daher überraschend war. Hierzu trägt die Beschwerdebegründung nur vor, dass eine Kommunikation mit dem Gericht stattgefunden hat, wonach allein auf die Vorlage des Originalbescheides verzichtet wurde, weil bereits eine Kopie in den Akten vorhanden war. Der Gesichtspunkt der möglichen Unzulässigkeit der Klage ist daher erörtert worden. Dass der Kläger dennoch davon ausgehen durfte, dass die Klage als rechtzeitig erhoben bewertet werde, ergibt sich aus dem Vorbringen nicht. Unabhängig davon zeigt die Beschwerdebegründung erneut nicht auf, ihrerseits etwa durch Vorlage des Rückstellungsauftrags alles Erforderliche getan zu haben, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen, sowie dass die Zurückweisung der Berufung auf dem gerügten Mangel beruhen könnte.

2. Soweit dem Vorbringen des Klägers sinngemäß die Rüge entnommen werden kann, dass das LSG fehlerhaft durch Prozess- statt durch Sachurteil entschieden hat, wird auch damit ein Verfahrensfehler nicht hinreichend aufgezeigt. Zwar kann auch bei erstinstanzlicher Sachentscheidung zweitinstanzlich bei Zurückweisung der Berufung als unbegründet dann ein Prozessurteil liegen, wenn sich aus den Entscheidungsgründen ergibt, dass die Klage als unzulässig bewertet wird. Darin kann ein Verfahrensmangel liegen, weil Prozess- und Sachurteil eine jeweils qualitativ andere Entscheidung darstellen und damit sowohl ein Entscheidungs- als auch ein Verfahrensmangel gegeben sein kann (stRspr; vgl nur BSG Beschluss vom 12.4.2023 - B 2 U 30/22 B - juris RdNr 5 mwN; BSG Beschluss vom 15.12.2020 - B 2 U 142/20 B - juris RdNr 6 mwN; BSG Urteil vom 9.12.1969 - 9 RV 358/69 - SozR Nr 191 zu § 162 SGG = juris RdNr 26 f). Das LSG hat in diesem Sinn auch durch Prozessurteil entschieden, weil es mit der Bewertung der Klageerhebung als verspätet nicht zur Sache entschieden hat. Die Beschwerdebegründung geht indes hier über die Behauptung einer unzutreffenden Rechtsanwendung des LSG in Bezug auf die Bewertung der Zugangsfiktion des § 37 Abs 2 Satz 1 SGB X nicht hinaus. Jedenfalls fehlen erneut Ausführungen dazu, dass die Entscheidung des LSG auf dem Verfahrensmangel beruhen kann (vgl BSG Beschluss vom 12.4.2023 - B 2 U 30/22 B - juris RdNr 8; BSG Beschluss vom 17.12.2019 - B 8 SO 8/19 B - juris RdNr 7; BSG Beschluss vom 18.2.1988 - 9/9a BV 203/87 - juris RdNr 3).

3. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).

4. Die Beschwerde ist somit ohne Zuziehung ehrenamtlichen Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2, § 169 Satz 2 und 3 SGG).

5. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung der §§ 183, 193 SGG.

Roos

Karmanski

Karl

 

Fundstellen

Dokument-Index HI16129488

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