Entscheidungsstichwort (Thema)

Nichtzulassungsbeschwerde. Sachverhaltsaufklärung. Beweisantrag. Entscheidungsgründe. Entscheidungserhebliche Streitpunkte. Mindestinhalt eines Urteils. Bezugnahme auf vorinstanzliche Entscheidungen. Verweisung

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die Ansicht, das Gericht hätte den Sachverhalt weiter aufklären müssen, kann mangels Beweisantrag nicht zur Zulassung der Revision führen.

2. Die Entscheidungsgründe müssen im Regelfall zu allen entscheidungserheblichen Streitpunkten die Erwägungen, die zum Urteilsausspruch des Gerichts geführt haben, enthalten.

3. Zum Mindestinhalt eines Urteils, der durch eine Bezugnahme auf vorinstanzliche Entscheidungen, Akten und anderen Unterlagen nicht ersetzt werden kann, gehört grundsätzlich die Angabe der angewandten Rechtsnormen und der für erfüllt oder nicht gegeben erachteten Tatbestandsmerkmale sowie der ausschlaggebenden tatsächlichen und rechtlichen Gründe.

4. Das Berufungsgericht kann rechtsfehlerfrei von der in § 153 Abs. 2 SGG vorgesehenen Verweisungsmöglichkeit Gebrauch machen, um sich „überflüssige Formulierungs- und Schreibarbeit” zu ersparen, wenn und soweit das LSG die Berufung aus den Gründen des angefochtenen SG-Urteils zurückweist, die die Beteiligten bereits kennen.

5. Das Berufungsgericht kann auf § 153 Abs. 2 SGG nach freien Ermessen stets dann zurückgreifen, wenn das Urteil des SG ausreichende Entscheidungsgründe i.S. des § 136 Abs. 1 Nr. 6 SGG enthält und es lediglich aus diesen Gründen die Berufung zurückweisen will.

6. Nur wenn ein Beteiligter im Berufungsverfahren neue rechtserhebliche Tatsachen oder substantiierte Einwendungen gegen die erstinstanzlichen Entscheidungsgründe vorgebracht oder entsprechende Beweisanträge gestellt hat oder im Berufungsverfahren eine Beweisaufnahme durchgeführt worden ist, muss sich das LSG in jedem Fall damit auseinandersetzen.

 

Normenkette

SGG §§ 62, 73a Abs. 1 S. 1, §§ 103, 109, 124 Abs. 2, § 128 Abs. 1 S. 1, § 136 Abs. 1 Nr. 6, § 153 Abs. 2, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 2 S. 3, Abs. 4 S. 1, § 169 Sätze 2-3; ZPO §§ 114, 121; GG Art. 103 Abs. 1

 

Verfahrensgang

SG Darmstadt (Entscheidung vom 19.11.2019; Aktenzeichen S 12 U 150/14)

Hessisches LSG (Urteil vom 25.05.2022; Aktenzeichen L 9 U 32/20)

 

Tenor

Der Antrag der Klägerin, ihr für das Verfahren der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 25. Mai 2022 Prozesskostenhilfe zu bewilligen und Rechtsanwalt N beizuordnen, wird abgelehnt.

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem vorbezeichneten Urteil wird als unzulässig verworfen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten in dem der Beschwerde zugrunde liegenden Rechtsstreit darüber, ob weitere Unfallfolgen anzuerkennen sind und ob die Klägerin Anspruch auf Gewährung von Verletztenrente hat.

Die im Anschluss an ein erfolgloses Verwaltungsverfahren erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen (Urteil vom 19.11.2019). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 25.5.2022).

Gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des LSG hat die Klägerin Beschwerde beim Bundessozialgericht (BSG) eingelegt und hierfür die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) unter Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten beantragt. Die Beschwerde begründet sie mit dem Vorliegen von Verfahrensmängeln.

II

1. Der Antrag auf Bewilligung von PKH für das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde unter Beiordnung von Rechtsanwalt N wird abgelehnt.

Beteiligte, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen können, können auf Antrag PKH erhalten, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 114 Abs 1 Satz 1 ZPO).

Daran fehlt es. Die durch den beim BSG zugelassenen Prozessbevollmächtigten der Klägerin eingelegte und begründete Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig und hat daher keine hinreichende Aussicht auf Erfolg (dazu 2.).

Mit der Ablehnung des Antrags auf Bewilligung von PKH entfällt auch die Möglichkeit der Beiordnung eines Rechtsanwalts im Rahmen der PKH (§ 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 121 Abs 1 ZPO).

2. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist unzulässig. Die Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen, weil der geltend gemachte Zulassungsgrund des Vorliegens von Verfahrensmängeln (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) nicht formgerecht bezeichnet worden ist (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Die Klägerin macht geltend, dass das LSG ihr Vorbringen unberücksichtigt gelassen und die gebotene weitere Sachaufklärung unterlassen habe.

Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 1 SGG), so müssen die diesen vermeintlich begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des LSG, ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht, auf dem Mangel beruhen kann. Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel allerdings nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

a) Um den Verfahrensmangel der Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) ordnungsgemäß zu rügen, muss die Beschwerdebegründung (1.) einen für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbaren, bis zuletzt aufrechterhaltenen oder im Urteil wiedergegebenen Beweisantrag bezeichnen, dem das LSG nicht gefolgt ist, (2.) die Rechtsauffassung des LSG wiedergeben, auf deren Grundlage bestimmte Tatfragen klärungsbedürftig hätten erscheinen müssen, (3.) die von dem Beweisantrag betroffenen tatsächlichen Umstände aufzeigen, die zur weiteren Sachaufklärung Anlass gegeben hätten, (4.) das voraussichtliche Ergebnis der unterbliebenen Beweisaufnahme angeben und (5.) erläutern, weshalb die Entscheidung des LSG auf der unterlassenen Beweiserhebung beruhen kann (stRspr; zB BSG Beschluss vom 27.9.2022 - B 2 U 42/22 B - juris RdNr 7 mwN; BSG Beschluss vom 11.3.2021 - B 9 SB 51/20 B - juris RdNr 9; BSG Beschluss vom 12.12.2003 - B 13 RJ 179/03 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 5 mwN).

Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht. Die vor dem LSG anwaltlich vertretene Klägerin bezeichnet bereits keinen prozessordnungsgemäßen Beweisantrag, den sie im Berufungsverfahren bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung aufrechterhalten hat. Wird ein Rechtsstreit - wie hier - nach § 124 Abs 2 SGG mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden, tritt an die Stelle des Schlusses der mündlichen Verhandlung der Zeitpunkt der Zustimmung zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (stRspr; zB BSG Beschluss vom 11.6.2022 - B 9 V 5/22 B - juris RdNr 4 mwN). Der förmliche Beweisantrag hat Warnfunktion und soll der Tatsacheninstanz unmittelbar vor der Entscheidung signalisieren, dass ein Beteiligter die gerichtliche Aufklärungspflicht noch für defizitär hält (stRspr; zB BSG Beschluss vom 16.3.2022 - B 2 U 164/21 B - juris RdNr 17; BSG Beschluss vom 14.7.2021 - B 6 KA 42/20 B - juris RdNr 7 mwN; BSG Beschluss vom 29.3.2007 - B 9a VJ 5/06 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 13 RdNr 11 mwN). Die Klägerin trägt indes nicht einmal vor, einen prozessrechtlich relevanten Beweisantrag gestellt zu haben (vgl allg zur Abgrenzung eines Beweisantrags von einer unbeachtlichen Beweisanregung BSG Beschluss vom 24.5.1993 - 9 BV 26/93 - SozR 3-1500 § 160 Nr 9 S 20, juris RdNr 4). Die Ansicht, das Gericht hätte den Sachverhalt weiter aufklären müssen, kann dagegen mangels Beweisantrag nicht zur Zulassung der Revision führen.

b) Die Beschwerdebegründung zeigt auch weder ausdrücklich noch sinngemäß einen Verstoß gegen § 136 Abs 1 Nr 6 SGG iVm § 153 Abs 2 SGG und damit eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG; § 62 SGG) hinreichend auf.

Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG zu § 136 Abs 1 Nr 6 SGG müssen die Entscheidungsgründe im Regelfall zu allen entscheidungserheblichen Streitpunkten die Erwägungen, die zum Urteilsausspruch des Gerichts geführt haben, enthalten. Zum Mindestinhalt eines Urteils, der durch eine Bezugnahme auf vorinstanzliche Entscheidungen, Akten und anderen Unterlagen nicht ersetzt werden kann, gehört danach grundsätzlich die Angabe der angewandten Rechtsnormen und der für erfüllt oder nicht gegeben erachteten Tatbestandsmerkmale sowie der ausschlaggebenden tatsächlichen und rechtlichen Gründe. In diesem Zusammenhang kann das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei von der in § 153 Abs 2 SGG vorgesehenen Verweisungsmöglichkeit Gebrauch machen, um sich "überflüssige Formulierungs- und Schreibarbeit" zu ersparen, wenn und soweit das LSG die Berufung aus den Gründen des angefochtenen SG-Urteils zurückweist, die die Beteiligten bereits kennen. Es steht im freien Ermessen des LSG, ob es gemäß § 153 Abs 2 SGG verfährt. Das Berufungsgericht kann auf diese Vorschrift stets dann zurückgreifen, wenn das Urteil des SG ausreichende Entscheidungsgründe iS des § 136 Abs 1 Nr 6 SGG enthält und es lediglich aus diesen Gründen die Berufung zurückweisen will. Dann vermeidet es, dem Normzweck der Vorschrift entsprechend, die Argumente der Vorinstanz schlicht zu wiederholen (zB BSG Beschluss vom 11.7.2022 - B 9 V 3/22 B - juris RdNr 6 ff; BSG Beschluss vom 21.8.2017 - B 10 EG 1/17 B - juris RdNr 10 ff; BSG Beschluss vom 15.3.2018 - B 9 V 91/16 B - SozR 4-1500 § 136 Nr 3 RdNr 11).

Nur wenn ein Beteiligter im Berufungsverfahren neue rechtserhebliche Tatsachen oder substantiierte Einwendungen gegen die erstinstanzlichen Entscheidungsgründe vorgebracht oder entsprechende Beweisanträge gestellt hat oder im Berufungsverfahren eine Beweisaufnahme durchgeführt worden ist, muss sich das LSG in jedem Fall damit auseinandersetzen, da insoweit die Bezugnahme nach § 153 Abs 2 SGG auf das erstinstanzliche Urteil die Würdigung vom Berufungsgericht selbst erhobener Beweise nicht ersetzen kann. In solchen Fällen genügt eine bloße Bezugnahme nach § 153 Abs 2 SGG nicht. Sie würde neues rechtserhebliches Vorbringen übergehen und damit das rechtliche Gehör des betreffenden Beteiligten verletzen (stRspr; zB BSG Beschluss vom 11.7.2022 - B 9 V 3/22 B - juris RdNr 6 ff; BSG Beschluss vom 15.3.2018 - B 9 V 91/16 B - SozR 4-1500 § 136 Nr 3 RdNr 11; BSG Urteil vom 14.11.1996 - 2 RU 15/96 - SozR 3-1500 § 153 Nr 3 S 9 = juris RdNr 22, jeweils mwN).

Daran fehlt es hier. Die Beschwerdebegründung zeigt bereits nicht die Tatsachen vollständig auf, aus denen sich der Verfahrensmangel ergeben soll. Insbesondere enthält sie nichts dazu, dass es sich bei dem Vorbringen der Klägerin im Berufungsverfahren um neue sowie rechtserhebliche Tatsachen gehandelt haben könnte. Des Weiteren lässt die Beschwerdebegründung die Verfahrensgeschichte und den Inhalt der Urteile des SG sowie des LSG offen. Daher kann der Senat bereits nicht prüfen, in welchem Umfang das LSG auf das erstinstanzliche Urteil Bezug genommen und/oder eine weitere Beweisaufnahme durchgeführt hat. Ein Verfahrensmangel ist indes nur dann iS des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG "bezeichnet", wenn er in den ihn begründenden Tatsachen substantiiert dargetan wird. Dies wird aber nur dann erkennbar, wenn zuvor diese Tatsachen im Zusammenhang mit dem Verfahrensgang aufgezeigt und einer rechtlichen Wertung unterzogen werden (zB BSG Beschluss vom 23.2.2022 - B 2 U 197/21 B - juris RdNr 10; BSG Beschluss vom 21.12.2021 - B 9 SB 55/21 B - juris RdNr 5 mwN).

Auch im Übrigen zeigt die Beschwerdebegründung nicht auf, dass das LSG gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs (vgl Art 103 Abs 1 GG; § 62 SGG) verstoßen haben könnte. Dem Gebot ist Genüge getan, wenn die Beteiligten die maßgeblichen Tatsachen erfahren und ausreichend Gelegenheit haben, sachgemäße Erklärungen innerhalb einer angemessenen Frist vorzubringen. Die Gerichte werden durch Art 103 Abs 1 GG nicht dazu verpflichtet, der Rechtsansicht eines Beteiligten zu folgen (zB BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 30.9.2022 - 2 BvR 2222/21 - juris RdNr 27; BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 9.2.2022 - 2 BvR 613/21 - juris RdNr 4; BSG Beschluss vom 17.5.2022 - B 2 U 91/21 B - juris RdNr 13; jeweils mwN). Dass die Klägerin am Vorbringen gehindert worden sei, behauptet auch die Beschwerdebegründung nicht.

Im Kern richtet sich das in das Gewand einer Gehörsrüge gekleidete Vorbringen der Klägerin gegen die Sachaufklärung des LSG. Hierdurch können jedoch die dargestellten Anforderungen an die Sachaufklärungsrüge (§ 103 SGG) nicht umgangen werden (stRspr; zB BSG Beschluss vom 27.9.2022 - B 2 U 42/22 B - juris RdNr 10 mwN; BSG Beschluss vom 30.8.2022 - B 9 SB 17/22 B - juris RdNr 10 mwN; BSG Beschluss vom 6.2.2007 - B 8 KN 16/05 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 12 RdNr 7).

Sofern sich die Klägerin mit ihrem Vorbringen gegen die Beweiswürdigung der Vorinstanz wendet, vermag dies die Zulassung der Revision nicht zu begründen (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG iVm § 128 Abs 1 Satz 1 SGG).

Dass die Klägerin die Entscheidung der Vorinstanz für falsch hält, geht schließlich über eine im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren unbeachtliche Rüge eines bloßen Rechtsanwendungsfehlers nicht hinaus (vgl BSG Beschluss vom 28.6.2022 - B 2 U 181/21 B - juris RdNr 11 mwN; BSG Beschluss vom 25.5.2020 - B 9 V 3/20 B - juris RdNr 6; BSG Beschluss vom 25.7.2011 - B 12 KR 114/10 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 22 RdNr 4).

3. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).

4. Die Beschwerde ist somit ohne Zuziehung ehrenamtlicher Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2, § 169 Satz 2 und 3 SGG).

5. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung der §§ 183, 193 SGG.

Roos                                     Karmanski                                        Karl

 

Fundstellen

Dokument-Index HI15515992

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