Entscheidungsstichwort (Thema)

Tarifabschluß in der ehemaligen DDR vor dem 1. Juli 1990

 

Leitsatz (amtlich)

Ein Tarifvertrag, der am 31. Mai 1990 im Gebiet der ehemaligen DDR abgeschlossen wurde, dessen Inkrafttreten aber erst zum 1. Juli 1990 vereinbart war, ist wirksam, auch wenn er nicht nach § 14 Abs. 2 AGB-DDR 1977 durch das zuständige zentrale Staatsorgan registriert wurde.

 

Normenkette

TVG § 1 Tarifverträge: DDR; EV Anl. I Kap. VIII Sachgeb. A Abschn. III Nr. 14; AGB-DDR 1977 § 14 Abs. 2; Gesetz über die Rechte der Gewerkschaften in der DDR vom 6. März 1990 (GBl. I S. 110) § 3; Gesetz zur Änderung und Ergänzung der Verfassung der DDR (Verfassungsgrundsätze) vom 17. Juni 1990 Art. 4; ZPO § 561

 

Verfahrensgang

LAG Brandenburg (Urteil vom 28.04.1993; Aktenzeichen 2 Sa 108/92)

ArbG Senftenberg (Urteil vom 11.12.1991; Aktenzeichen 4 (1) Ca 2372/91)

 

Tenor

  • Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Brandenburg vom 28. April 1993 – 2 Sa 108/92 – wird zurückgewiesen.
  • Die Klägerin hat die Kosten der Revision zu tragen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt von der Beklagten eine restliche Halbjahresprämie für Lehrkräfte in der praktischen Berufsausbildung (“Lehrmeisterprämie”). Rechtsgrundlage für diese Prämie war eine Vereinbarung zwischen dem Staatssekretariat für Berufsbildung der DDR und dem FDGB vom 5. August 1986. Die Prämie war “entsprechend der Leistung differenziert festzulegen”. Sie wurde Ende des Monats Februar und am 31. August jeden Jahres fällig.

Für die Zeit vom 1. März bis zum 31. August 1990 legte die Beklagte die Prämie der Klägerin auf 1.400,-- DM fest. Den auf die Monate März bis Juni entfallenden Teil stellte sie wegen der am 1. Juli 1990 in Kraft getretenen Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion mit der Bundesrepublik im Verhältnis 2:1 um, den Teil für die Monate Juli und August im Verhältnis 1:1. Dadurch ergab sich ein auszuzahlender Betrag von (466,67 + 466,66 =) 933,33 DM.

Die Klägerin ist mit der Umstellung nicht einverstanden. Sie hat die Auffassung vertreten, die Halbjahresprämie sei insgesamt, also auch hinsichtlich des auf die Zeit vom 1. März bis zum 30. Juni 1990 entfallenden Teils im Verhältnis 1:1 umzustellen, da es sich um Lohn handele.

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an sie einen Betrag von 466,67 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 11. Dezember 1991 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat vorgetragen, seit dem 1. Juli 1990 bestehe kein Anspruch mehr auf die Halbjahresprämie. Die Vereinbarung vom 5. August 1986 sei kein nach dem 1. Juli 1990 fortgeltender Rahmenkollektivvertrag gewesen, sondern am 30. Juni 1990 erloschen. Die Prämie sei als freiwillige Leistung gezahlt und deshalb zu Recht im Verhältnis 2:1 umgestellt worden. Im übrigen sei die Vereinbarung durch den Manteltarifvertrag der Industriegewerkschaft Bergbau-Energie-Wasserwirtschaft mit der Verhandlungskommission der Braunkohlen- und Gasindustrie vom 31. Mai 1990 (MTV/BG) abgelöst worden. Dieser Manteltarifvertrag, der am 1. Juli 1990 in Kraft getreten sei, habe für die Arbeitsentgelte eine abschließende Regelung getroffen. Die Halbjahresprämie sei entfallen. Die näheren Einzelheiten für eine Gewährung und Zahlung einer Jahresprämie oder eines 13. Monatsgehalts sei der Regelung durch Betriebsvereinbarungen vorbehalten worden (§ 14 Abs. 2 MTV/BG). Außerdem sei der Anspruch der Klägerin verfallen, weil er nicht innerhalb von sechs Monaten nach Fälligkeit geltend gemacht worden sei (§ 19 Abs. 1 MTV/BG).

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat sie abgewiesen. Dagegen richtet sich die Revision der Klägerin.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen.

I. Als Anspruchsgrundlage für das Klagebegehren kommt nur die Vereinbarung vom 5. August 1986 in Betracht. Das Berufungsgericht hat offengelassen, ob auf der Grundlage dieser Vereinbarung eine am 31. August 1990 fällig gewordene Prämie verlangt werden kann, oder ob, wie die Beklagte vorträgt, diese Vereinbarung seit dem 1. Juli 1990 nicht mehr gilt. Das Berufungsgericht hat weiter offengelassen, ob sich der Anspruch der Klägerin aus einer Betriebsvereinbarung vom 21. Dezember 1990 herleiten läßt, die die Beklagte auf der Grundlage des § 14 MTV/BG abgeschlossen hat und die nur noch Jahresprämien vorsieht. Die Klägerin hat nach dieser Betriebsvereinbarung eine anteilige Jahresprämie erhalten.

II. Das Berufungsgericht hat die Klageabweisung damit begründet, daß der Anspruch der Klägerin nach § 19 Abs. 1 des Manteltarifvertrages BG verfallen sei. Der Tarifvertrag vom 31. Mai 1990 sei am 1. Juli 1990 wirksam geworden und finde auf das Arbeitsverhältnis der Parteien Anwendung. Diese Begründung des Berufungsgerichts ist rechtlich nicht zu beanstanden.

1. Der Manteltarifvertrag vom 31. Mai 1990 findet auf das Arbeitsverhältnis Anwendung. Beide Parteien, so hat das Berufungsgericht festgestellt, waren tarifgebunden. Die Klägerin war Mitglied der Gewerkschaft, die den Tarifvertrag vereinbart hat. Die Beklagte ist Rechtsnachfolgerin des Braunkohlenkombinats S…, das seinerzeit Mitglied der Vereinigung der Unternehmen der Braunkohlen- und Gasindustrie war, die den Tarifvertrag vom 31. Mai 1990 abgeschlossen hat. Als frühere Arbeitnehmerin des Braunkohlenkombinats S… wird die Klägerin auch persönlich vom Geltungsbereich des Tarifvertrags erfaßt (§ 1 MTV/BG).

2. Der Manteltarifvertrag vom 31. Mai 1990 ist wirksam abgeschlossen worden. Die Wirksamkeit scheitert nicht an der fehlenden Registrierung.

a) Nach § 14 Abs. 2 AGB-DDR 1977 mußten Rahmenkollektivverträge, um wirksam werden zu können, durch das zuständige zentrale Staatsorgan bestätigt und registriert werden. Das ist mit dem Manteltarifvertrag vom 31. Mai 1990 nicht geschehen. Dennoch war dieser Tarifvertrag nicht von Anfang an unwirksam.

Nach dem Willen der Tarifvertragsparteien sollte der Tarifvertrag vom 31. Mai 1990 erst am 1. Juli 1990 in Kraft treten. Erst von diesem Zeitpunkt an sollte er normative Wirkungen entfalten. Deswegen wurde eine Bestätigung und Registrierung durch das zuständige Staatsorgan der früheren DDR nicht beantragt. Die Tarifvertragsparteien strebten die Wirksamkeit ihres Tarifvertrags unter der Geltung des AGB-DDR nicht an. Er sollte erst zu einem Zeitpunkt in Kraft treten, in dem nicht mehr das AGB-DDR, sondern das Tarifvertragsgesetz zunächst als DDR-Gesetz und ab Oktober 1990 als Bundesrecht galt (zum Ganzen: Wank, RdA 1991, 1).

b) Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, ungeachtet der Inkraftsetzung zu einem späteren Zeitpunkt sei der Manteltarifvertrag vom 31. Mai 1990 unwirksam. Es komme nicht auf das Datum des Inkrafttretens, sondern des Tarifabschlusses an. Bei Tarifabschluß habe § 14 Abs. 2 AGB-DDR 1977 gegolten. Die in dieser Vorschrift genannten Wirksamkeitsvoraussetzungen, Bestätigung und Registrierung, seien zu beachten gewesen. Der Senat folgt dieser Auffassung nicht:

Die Klägerin kann ihre Rechtsansicht nicht auf die hierzu ergangene Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts stützen.

In seinen Urteilen vom 13. Februar 1992 (– 8 AZR 269/91 – AP Nr. 1 zu § 1 TVG Tarifverträge: DDR) und vom 21. Mai 1992 (– 8 AZR 436/91 – AP Nr. 2 zu § 1 TVG Tarifverträge: DDR, beide auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung des Gerichts vorgesehen) hatte der Achte Senat des Bundesarbeitsgerichts Tarifverträge zu beurteilen, die vor dem 1. Juli 1990 abgeschlossen waren und die vor dem 1. Juli 1990 in Kraft treten sollten (Tarifvertrag zur Regelung arbeitsrechtlicher Fragen der Beschäftigten in Unternehmen der Bauindustrie im Zusammenhang mit Strukturveränderungen und Rationalisierungsmaßnahmen vom 28./30. Mai 1990 sowie Tarifvertrag über den Schutz für Mitarbeiter im Gesundheits- und Sozialwesen bei Rationalisierungsmaßnahmen und Strukturveränderungen vom 12. Juni 1990). Der Achte Senat des Bundesarbeitsgerichts hat die Auffassung vertreten, das Wirksamwerden dieser Tarifverträge scheitere an den Erfordernissen des bis zum 30. Juni 1990 geltenden § 14 Abs. 2 AGB-DDR. § 3 des Gesetzes über die Rechte der Gewerkschaften in der Deutschen Demokratischen Republik vom 6. März 1990 (GBl. I S. 110) ändere daran nichts. Das Gesetz habe den Gewerkschaften in der DDR keine mit Art. 9 Abs. 3 GG vergleichbare Tarifautonomie gebracht. Erst Art. 4 des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung der Verfassung der DDR (Verfassungsgrundsätze) vom 17. Juni 1990 (GBl. I S. 299) habe jedermann das Recht eingeräumt, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden und ihnen beizutreten. Die Aufhebung des AGB-DDR und die Einführung des Tarifvertragsgesetzes zum 1. Juli 1990 sei als authentische Interpretation zu verstehen. § 14 AGB-DDR habe daher zunächst weiter gegolten.

Auch der Vierte Senat des Bundesarbeitsgerichts hat die Frage aufgeworfen, ob der – hier umstrittene – Manteltarifvertrag vom 31. Mai 1990 wegen Verstoßes gegen § 14 AGB-DDR unwirksam sei (Urteil vom 24. November 1993 – 4 AZR 402/92 – AP Nr. 2 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bergbau, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung des Gerichts vorgesehen, zu A I der Gründe). Der Vierte Senat hat die Frage offengelassen, aber gemeint, der Tarifvertrag könne unwirksam sein, weil die Tarifvertragsparteien zur Zeit des Abschlusses “noch nicht über die Normsetzungsmacht nach dem TVG verfügten”.

Die Rechtsprechung des Achten Senats hat im Schrifttum Widerspruch gefunden. Wank (RdA 1991, 1 und EWiR 1992, 1145) hält es für zweifelhaft, ob die Auffassung des Achten Senats des Bundesarbeitsgerichts den Besonderheiten der Übergangszeit gerecht werde. DDR-Recht habe noch gegolten, es sei aber nicht mehr eingehalten worden. Das Ministerium für Arbeit und Soziales habe vor dem 1. Juli 1990 im Hinblick auf die Geltung des Tarifvertragsgesetzes keine Registrierungen mehr vorgenommen. Seit dem Staatsvertrag vom 18. Mai 1990 sei bekannt gewesen, daß ab dem 1. Juli 1990 das Tarifvertragsgesetz gelten werde. Dieses Gesetz sei teilweise schon im Vorgriff angewendet worden. Däubler (AiB 1990, 364 und EWiR 1992, 939) weist darauf hin, ab Mai 1990 seien Tarifverträge in der früheren DDR keine Instrumente der Planwirtschaft mehr gewesen. Deren Steuerungszentren seien aufgelöst oder funktionsunfähig gewesen. Deshalb werde es den tatsächlichen Verhältnissen nicht gerecht, den vor dem 1. Juli 1990 abgeschlossenen aber nicht registrierten Tarifverträgen die Wirksamkeit für die Zeit ab 1. Juli 1990 zu versagen.

Die Frage braucht im Streitfall nicht abschließend entschieden zu werden. Der im vorliegenden Rechtsstreit umstrittene Manteltarifvertrag vom 31. Mai 1990 sollte erst am 1. Juli 1990 in Kraft treten. Er beanspruchte keine Wirksamkeit unter der Geltung des § 14 Abs. 2 AGB-DDR. Diese Vorschrift kann nur dem Wirksamwerden eines Tarifvertrags entgegengestanden haben, der unter ihrer Geltung in Kraft treten sollte. Eine Rechtsnorm, die es den Tarifvertragsparteien verwehrt hätte, ihre Normsetzungsbefugnis zeitgleich mit dem Inkrafttreten des Tarifvertragsgesetzes zu beanspruchen, gab es nicht. Eine Normsetzungsbefugnis für einen früheren Zeitpunkt haben die Tarifvertragsparteien im Streitfall gerade nicht in Anspruch genommen.

Im übrigen wäre es Förmelei, einen vorher schon vollständig ausgehandelten und die Tarifvertragsparteien schuldrechtlich bindenden Tarifvertrag nach dem 30. Juni 1990 nochmals unterzeichnen zu lassen, um seine normative Wirkung herbeiführen zu können. Nach den tatsächlichen Verhältnissen in der Übergangszeit waren die Tarifvertragsparteien gehalten, sogleich mit Beginn der Geltung des neuen Rechts Regelungswerke für die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen in dem erfaßten Unternehmen vorzulegen.

3. Die Klägerin hat die Ausschlußfrist des § 19 Abs. 1 MTV/BG nicht gewahrt. Nach dieser Vorschrift sind Ansprüche, die in Verbindung mit dem Arbeitsverhältnis stehen, innerhalb von sechs Monaten nach Fälligkeit des Anspruchs geltend zu machen. Die Halbjahresprämie der Klägerin wurde am 31. August 1990 fällig. Die Klägerin hat behauptet, sie habe den Anspruch mit einer Prämienliste vom 15. Oktober 1990 geltend gemacht. Das Berufungsgericht hat jedoch festgestellt, daß die von der Klägerin vorgelegte Prämienliste nicht hinreichend sicher belegt, daß der Anspruch gegenüber der Beklagten geltend gemacht wurde. Diese Feststellung des Berufungsgerichts ist revisionsrechtlich bindend (§ 561 Abs. 2 ZPO). Mithin wurde der Anspruch erst durch die Klageerhebung geltend gemacht. Die Klage wurde am 25. Oktober 1991 zugestellt. Dies war verspätet.

 

Unterschriften

Dr. Heither, Griebeling, Dr. Mikosch, Martschin, Furchtbar

 

Fundstellen

Haufe-Index 856712

BAGE, 149

BB 1994, 2284

BB 1994, 2349

JR 1995, 176

NZA 1995, 432

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