Entscheidungsstichwort (Thema)

Entgeltfortzahlung. Zuschuß zum Krankengeld

 

Orientierungssatz

  • Beim Krankengeld handelt es sich um einen sozialversicherungsrechtlichen Begriff, dessen Merkmale sich aus dem SGB V ergeben. Der gesetzliche Krankengeldbegriff bezeichnet das volle, nicht um die Beiträge zur Renten-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung geminderte Krankengeld, also das “Bruttokrankengeld”. Wird dieser Begriff in einem Tarifvertrag verwendet, ist davon auszugehen, daß er ebenfalls diese Bedeutung haben soll, soweit sich nicht aus dem Tarifvertrag selbst etwas anderes ergibt (Bestätigung von Senat 13. Februar 2002 – 5 AZR 604/00 – AP TVG § 1 Tarifverträge: Einzelhandel Nr. 82 = EzA TVG § 4 Einzelhandel Nr. 52; 24. April 1996 – 5 AZR 798/94 – AP BGB § 616 Nr. 96 = EzA SGB V § 47 Nr. 1).
  • Nach Nr. 9.2.3 MTV sind die Arbeitnehmer des Mitteldeutschen Rundfunks durch den Krankengeldzuschuß so zu stellen, daß sie unter Anrechnung des von der gesetzlichen Krankenversicherung gezahlten Krankengelds ihre bisherige Nettovergütung behalten. Zur Berechnung des Krankengeldzuschusses ist von der bisherigen Nettovergütung das von der gesetzlichen Krankenversicherung gezahlte Krankengeld abzuziehen. In Höhe des Differenzbetrags hat der Arbeitgeber einen Zuschuß zu leisten. Die bisherige Nettovergütung ist die Bezugsgröße zur Berechnung des Krankengeldzuschusses und nicht die Summe aus “Nettokrankengeld” und Nettokrankengeldzuschuß.
  • Mangels Entscheidungserheblichkeit bleibt unentschieden, ob dem Dritten Senat in seiner Auffassung zu folgen ist, Firmentarifverträge seien nicht rein objektiv auszulegen, der Vollzugspraxis und dem subjektiven Willen des Arbeitgebers komme vielmehr eine weitergehende Bedeutung zu, weil die objektive Auslegung von Tarifverträgen vor allem dem Schutz der Normunterworfenen diene und der an der Normsetzung beteiligte Arbeitgeber keines solchen Schutzes bedürfe (BAG 30. Juli 2002 – 3 AZR 471/01 – zVv.).
 

Normenkette

SGB V § 47; Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer des Mitteldeutschen Rundfunks vom 10. Mai 1993 i.d.F. des Änderungstarifvertrags vom 28. Oktober 1994 (MTV) Nr. 9.2.3

 

Verfahrensgang

Sächsisches LAG (Urteil vom 24.04.2002; Aktenzeichen 7 Sa 636/01)

ArbG Leipzig (Urteil vom 30.05.2001; Aktenzeichen 2 Ca 11277/00)

 

Tenor

  • Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sächsischen Landesarbeitsgerichts vom 24. April 2002 – 7 Sa 636/01 – aufgehoben.
  • Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Leipzig vom 30. Mai 2001 – 2 Ca 11277/00 – abgeändert, soweit es der Klage stattgegeben hat. Die Klage wird insgesamt abgewiesen.
  • Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Höhe eines tariflich geregelten Zuschusses zum Krankengeld.

Die Klägerin ist seit 1996 bei der beklagten Rundfunkanstalt als Senior-Producer beschäftigt. Seit dem 28. Juni 1999 ist die Klägerin arbeitsunfähig krank. Die Beklagte leistete bis zum 8. August 1999 Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Ab dem 9. August 1999 bezog die Klägerin von ihrer Krankenkasse Krankengeld.

Auf das Arbeitsverhältnis findet kraft beiderseitiger Tarifbindung der Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer des Mitteldeutschen Rundfunks vom 10. Mai 1993 in der Fassung des Änderungstarifvertrags vom 28. Oktober 1994 (MTV) Anwendung. Dort ist unter Nr. 9.2.3 zur Zahlung von Krankenbezügen folgende Regelung getroffen:

“…

Der Arbeitnehmerin mit mehr als einjähriger Betriebszugehörigkeit wird im Falle einer durch Unfall oder Krankheit verursachten Arbeitsunfähigkeit und während einer durch einen Träger der Sozialversicherung oder einer Versorgungsbehörde verordneten oder von einem Amts- oder Betriebsarzt befürworteten Heilkur (einschließlich verordneter Nachkur) nach Ablauf der gesetzlichen Lohnfortzahlungsfrist ein Krankengeldzuschuß gewährt.

Durch den Krankengeldzuschuß ist die Arbeitnehmerin so zu stellen, daß sie unter Anrechnung des von der gesetzlichen Krankenversicherung gezahlten Krankengeldes – oder, wenn dort keine Versicherung besteht, unter Anrechnung des höchsten Krankengeldes, das die örtliche AOK an ihre freiwilligen Mitglieder zahlt – ihre bisherige Nettovergütung behält; Leistungen aus der gesetzlichen Unfall- und Rentenversicherung werden insoweit angerechnet, als sie dem Krankengeld entsprechen.

Der Krankengeldzuschuß wird für bis zu 46 Wochen gezahlt, jedoch nicht über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses hinaus. Arbeitgeberanteile und -zuschüsse zur freiwilligen Krankenversicherung und zur befreienden Lebensversicherung werden während des Bezugs des Krankengeldzuschusses weiter gewährt, freiwillige Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung zu 50 Prozent – höchstens jedoch in Höhe des Arbeitgeberanteils, der ohne Erkrankung zu zahlen gewesen wäre – erstattet.”

Die Beklagte gewährte der Klägerin nach Ablauf der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall einen Zuschuß zum Krankengeld in Höhe des Unterschiedsbetrags zwischen dem letzten Nettoentgelt und dem Krankengeld.

Die Klägerin hat geltend gemacht, die von der Beklagten vorgenommene Berechnung des Krankengeldzuschusses sei fehlerhaft. Der tarifliche Zuschuß zum Krankengeld ergebe sich aus der Differenz zwischen dem letzten Nettoentgelt und dem “Nettokrankengeld”. So habe die Beklagte auch in der Vergangenheit den Krankengeldzuschuß berechnet.

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 4.734,98 DM netto nebst 5 % Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz gem. § 1 Diskontsatz-Überleitungs-Gesetz hierauf seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, der tarifliche Krankengeldzuschuß ergebe sich aus der Differenz zwischen dem Nettoarbeitsverdienst und dem “Bruttokrankengeld”. Dem MTV liege der gesetzliche Begriff des Krankengelds zugrunde, wie er sich aus dem SGB V ergebe. Daß die Sachbearbeitung bis Anfang 1997 den Zuschuß zum Krankengeld auf der Grundlage des Nettokrankengelds errechnet habe, sei unerheblich, weil es sich hierbei um eine fehlerhafte Anwendung des Tarifvertrags gehandelt habe.

Die Vorinstanzen haben der Klage in dem noch anhängigen Umfang stattgegeben. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter. Die Klägerin beantragt Zurückweisung der Revision.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zahlung eines weiteren Zuschusses zum Krankengeld nach Nr. 9.2.3 MTV.

  • Die tarifliche Zuschußregelung geht von einer Anrechnung des “Bruttokrankengelds” aus, das die Beklagte auch ihrer Berechnung des Zuschusses zugrunde gelegt hat.

    1. Nach dem Wortlaut des MTV hat die Beklagte die Klägerin durch den Krankengeldzuschuß so zu stellen, daß sie unter Anrechnung des von der gesetzlichen Krankenversicherung gezahlten Krankengelds ihre bisherige Nettovergütung behält. Beim Krankengeld handelt es sich um einen sozialversicherungsrechtlichen Begriff, dessen Merkmale sich aus dem SGB V ergeben. Wird ein solcher Begriff in einem Tarifvertrag verwendet, ist davon auszugehen, daß er ebenfalls diese Bedeutung haben soll, soweit sich nicht aus dem Tarifvertrag selbst etwas anderes ergibt (Senat 13. Februar 2002 – 5 AZR 604/00 – AP TVG § 1 Tarifverträge: Einzelhandel Nr. 82 = EzA TVG § 4 Einzelhandel Nr. 52; 24. April 1996 – 5 AZR 798/94 – AP BGB § 616 Nr. 96 = EzA SGB V § 47 Nr. 1).

    Der tarifvertraglich geregelte Krankengeldzuschuß ergänzt das gesetzliche Krankengeld. Dieses beträgt gem. § 47 Abs. 1 SGB V 70 % des erzielten regelmäßigen Arbeitsentgelts und Arbeitseinkommens, soweit es der Beitragsberechnung unterliegt (Regelentgelt). Das aus dem Arbeitsentgelt berechnete Krankengeld darf 90 % des Nettoarbeitsentgelts sowie das sich aus dem Regelentgelt nach § 47 Abs. 2 SGB V ergebende kalendertägliche Nettoarbeitsentgelt nicht übersteigen. Das Krankengeld unterliegt seit 1. Januar 1984 der Beitragspflicht zur Renten- und Krankenversicherung. Der gesetzliche Krankengeldbegriff bezeichnet damit das volle, nicht um die Beiträge zur Renten-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung geminderte Krankengeld, also das “Bruttokrankengeld”. An keiner Stelle bezeichnet das SGB V nur den dem Arbeitnehmer zufließenden Auszahlungsbetrag als Krankengeld (Senat 24. April 1996 – 5 AZR 798/94 – aaO; 21. August 1997 – 5 AZR 517/96 – AP BGB § 616 Nr. 98). Nachdem der anspruchsbegründende MTV am 10. Mai 1993 abgeschlossen wurde, ist davon auszugehen, daß dem Tarifvertrag dieser seit dem 1. Januar 1984 geltende Krankengeldbegriff zugrunde liegt. Mangels abweichender Begriffsbestimmung im MTV gilt entsprechendes hinsichtlich der zum 1. Januar 1995 durch § 57 Abs. 2, § 59 Abs. 2 SGB XI eingeführten Beitragspflicht zur Pflegeversicherung (Art. 68 Abs. 1 des Gesetzes zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit – PflegeVG – vom 26. Mai 1994, BGBl. I S 1014).

    2. Dem MTV ist nicht zu entnehmen, daß die Beklagte die nach dem Krankenversicherungsrecht von der Klägerin zu tragenden Beitragsanteile zur Renten-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung zu erstatten hat. Indem die Klägerin nur auf das Behalten der bisherigen Nettovergütung abstellt, verkürzt sie den Tarifwortlaut. Der Tarifvertrag sichert den Arbeitnehmern ihr bisheriges Nettoeinkommen nur unter Anrechnung des Bruttokrankengelds.

    Nach Nr. 9.2.3 MTV ist die Klägerin durch den Krankengeldzuschuß so zu stellen, daß sie unter Anrechnung des von der gesetzlichen Krankenversicherung gezahlten Krankengelds ihre bisherige Nettovergütung behält. Zur Berechnung des Krankengeldzuschusses ist von der bisherigen Nettovergütung das von der gesetzlichen Krankenversicherung gezahlte Krankengeld abzuziehen. In Höhe des Differenzbetrags hat die Beklagte einen Zuschuß zu leisten. Zu einer höheren Leistung ist die Beklagte nicht deshalb verpflichtet, weil nach dem Tarifwortlaut die Arbeitnehmer so zu stellen sind, daß sie ihre bisherige Nettovergütung “behalten”. Die bisherige Nettovergütung ist die Bezugsgröße zur Berechnung des Krankengeldzuschusses und nicht die Summe aus “Nettokrankengeld” und Nettokrankengeldzuschuß. Der Wortlaut des Tarifvertrags spricht damit hinreichend deutlich gegen den geltend gemachten weiteren Zuschuß zum Krankengeld. Auch dem tariflichen Gesamtzusammenhang sind keine Anhaltspunkte zu entnehmen, die den erhobenen Anspruch begründen könnten.

    3. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts kann aus der abweichenden Anwendung der Tarifregelung durch die Beklagte in der Vergangenheit kein anderes Auslegungsergebnis erzielt werden. Die Anwendung des Tarifvertrags durch den Arbeitgeber ist für die Tarifauslegung nur dann von Bedeutung, wenn Wortlaut und tariflicher Gesamtzusammenhang zu keinem eindeutigen Auslegungsergebnis führen (BAG 12. September 1984 – 4 AZR 336/82 – BAGE 46, 308; Senat 24. April 1996 – 5 AZR 798/94 – AP BGB § 616 Nr. 96 = EzA SGB V § 47 Nr. 1; BAG 29. August 2001 – 4 AZR 337/00 – BAGE 99, 24). Die Tarifauslegung erfolgt nach den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln, dh. nach objektiven Maßstäben und nicht nach den für die Auslegung von Willenserklärungen geltenden Grundsätzen (vgl. Senat 24. April 1996 – 5 AZR 798/94 – aaO; BAG 29. August 2001 – 4 AZR 337/00 – aaO). Aus der Anwendung des Tarifvertrags kann grundsätzlich nur auf subjektive Vorstellungen einer Tarifvertragspartei geschlossen werden.

    Nach Auffassung des Dritten Senats soll allerdings der Vollzugspraxis und dem subjektiven Willen des Arbeitgebers bei Firmentarifverträgen eine weitergehende Bedeutung zukommen, weil die objektive Auslegung von Tarifverträgen vor allem dem Schutz der Normunterworfenen diene (BAG 30. Juli 2002 – 3 AZR 471/01 – zur Veröffentlichung vorgesehen). Der an der Normsetzung beteiligte Arbeitgeber bedürfe indessen keines solchen Schutzes. Dies spreche dafür, den subjektiven Willen des normsetzenden Arbeitgebers, der ihn belaste und die Arbeitnehmer begünstige, auch dann zu berücksichtigen, wenn dieser Wille nur unzureichend zum Ausdruck gebracht worden sei. Ob dieser Abweichung von der objektiven Auslegung zu folgen ist, kann hier dahinstehen. Etwaige abweichende subjektive, der Beklagten als Tarifvertragspartei nach §§ 164 ff. BGB zurechenbare Vorstellungen ihrer Mitarbeiter haben im MTV keinen Niederschlag gefunden. Nach dem hinreichend deutlichen Wortlaut der Nr. 9.2.3 MTV ist die bisherige Nettovergütung nur Bezugsgröße zur Berechnung des Krankengeldzuschusses und nicht die Summe aus “Nettokrankengeld” und Nettokrankengeldzuschuß. Die falsche Anwendung des MTV durch die Beklagte ändert an dieser Regelung nichts.

    4. Aus der objektiv falschen Tarifauslegung und der Gewährung von Krankengeldzuschüssen, die der Tarifvertrag in dieser Höhe nicht vorsieht, ist keine betriebliche Übung entstanden. Hiergegen spricht bereits, daß die Beklagte als der Sparsamkeit verpflichtete und aus dem Rundfunkgebührenaufkommen finanzierte Anstalt des öffentlichen Rechts grundsätzlich nur tarifgemäße Leistungen erbringen will. Ohne besondere Anhaltspunkte darf der Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst deshalb auch bei langjähriger Gewährung von Vergünstigungen, die den Rahmen rechtlicher Verpflichtungen überschreiten, nicht darauf vertrauen, die Übung sei Vertragsinhalt geworden und werde unbefristet weitergewährt. Der Arbeitnehmer muß damit rechnen, daß eine fehlerhafte Rechtsanwendung korrigiert wird. Die Besonderheit der betrieblichen Übung im öffentlichen Dienst beruht gerade darauf, daß der öffentliche Arbeitgeber bei der Schaffung materieller Arbeitsbedingungen nicht autonom wie ein Unternehmer der privaten Wirtschaft handeln darf, sondern insoweit vor allem an die Vorgaben des Dienst- und Haushaltsrechts gebunden ist (Senat 14. September 1994 – 5 AZR 679/93 – AP BGB § 242 Betriebliche Übung Nr. 46 = EzA BGB § 242 Betriebliche Übung Nr. 32; 29. Mai 2002 – 5 AZR 370/01 – EzA BGB § 611 Mehrarbeit Nr. 10). Anhaltspunkte dafür, daß die Beklagte über die tariflich geregelten Krankengeldzuschüsse hinaus weitergehende Leistungen erbringen wollte, sind nicht ersichtlich. Die Beklagte durfte daher die fehlerhafte Berechnung des Krankengeldzuschusses ändern und der Klägerin die tarifgemäße Leistung gewähren.

  • Die Klägerin hat gemäß § 91 Abs. 1 ZPO die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
 

Unterschriften

Müller-Glöge, Mikosch, Linck, Dittrich, Dombrowsky

 

Fundstellen

Haufe-Index 945821

FA 2003, 315

ZTR 2003, 515

AP, 0

EzA-SD 2003, 16

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