Entscheidungsstichwort (Thema)

Verwirkung des Klagerechts bei Kündigung nach Einigungsvertrag

 

Normenkette

BGB § 242; ArbGG § 67; ZPO § 528 Abs. 2-3, § 138 Abs. 3, § 288 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LAG Schleswig-Holstein (Urteil vom 12.06.1996; Aktenzeichen 2 Sa 70/96)

ArbG Neumünster (Urteil vom 19.12.1995; Aktenzeichen 4a Ca 1681/95)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Schleswig-Holstein vom 12. Juni 1996 – 2 Sa 70/96 – aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer auf Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Abs. 4 Ziff. 1 Einigungsvertrag (künftig: Abs. 4 Ziff. 1 EV) gestützten ordentlichen Kündigung.

Der im Jahre 1950 geborene Kläger war seit 1970 Angehöriger der Paßkontrolleinheiten (im folgenden: PKE) des Ministeriums für Staatssicherheit/Amtes für Nationale Sicherheit (im folgenden: MfS/AfNS) der ehemaligen DDR. Sein letzter Dienstgrad war Oberleutnant. Seit dem Wirksamwerden des Beitritts arbeitete der Kläger im Kontrolldienst des Bundesgrenzschutzes.

Ab November 1990 führte die Beklagte Personalüberprüfungen durch. Ende 1990 wurde der Kläger von einer Personalüberprüfungskommission angehört. Dabei wurde die frühere Zugehörigkeit des Klägers zu den PKE des MfS festgestellt. Die Kommission befürwortete die Fortführung des Arbeitsverhältnisses. Daraufhin erhielt der Kläger einen unbefristeten Arbeitsvertrag und wurde nach VergGr. VI b BAT-Ost eingruppiert.

Mit Schreiben vom 11. März 1992 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis des Klägers und die Arbeitsverhältnisse etwa 250 weiterer ehemaliger PKE-Angehöriger fristlos unter Hinweis auf die Zugehörigkeit zum MfS. Gegen diese außerordentliche Kündigung erhob der Kläger wie auch die übrigen gekündigten Kollegen fristgerecht Kündigungsschutzklage.

Mit Schreiben vom 26. Januar 1993 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis des Klägers vorsorglich ordentlich zum 31. März 1993. Auch eine Vielzahl seiner Kollegen erhielt eine vorsorgliche ordentliche Kündigung. Von ihnen erhoben fast alle auch gegen die ordentliche Kündigung fristgerecht Kündigungsschutzklage. Der Kläger widersprach mit Schreiben an das Grenzschutzpräsidium vom 4. Februar 1993 der ordentlichen Kündigung und kündigte an, er werde beim zuständigen Arbeitsgericht Klage einreichen. Entgegen dieser Ankündigung erhob der Kläger gegen die ordentliche Kündigung zunächst keine Klage.

In dem gegen die außerordentliche Kündigung gerichteten Kündigungsschutzprozeß der Parteien erklärte die Beklagte mit Schriftsatz vom 22. September 1994 die Rücknahme der außerordentlichen Kündigung. Auch in den übrigen etwa 250 Fällen nahm die Beklagte die fristlose Kündigung zurück. Dies geschah im Hinblick auf eine Entscheidung des Senats vom 26. Mai 1994 – 8 AZR 395/93 –, nach der die außerordentliche Kündigung eines der ehemaligen PKE-Angehörigen wegen nicht ausreichender Beteiligung des Personalrats unwirksam war.

Anfang November 1994 fand zwischen der Klägervertreterin und Vertretern der Beklagten ein Gespräch statt, in dem das weitere Vorgehen in den zahlreichen Kündigungsschutzverfahren von ehemaligen PKE-Angehörigen besprochen werden sollte. Gesprächsinhalt war auch der Umstand, daß der Kläger und einige andere Arbeitnehmer keine Klage gegen die vorsorglich ausgesprochene ordentliche Kündigung eingereicht hatten. Die Vertreter der Beklagten teilten der Klägervertreterin mit, daß sie so gestellt würde, als hätte sie zum Zeitpunkt des Gesprächs bereits Klage erhoben.

Im Juni/Juli 1995 erklärte die Beklagte in den meisten der 250 Fälle auch die Rücknahme der ausgesprochenen ordentlichen Kündigungen. Diese Mitarbeiter hatten die ordentliche Kündigung mit Kündigungsschutzklagen angegriffen. Sie wurden weiterbeschäftigt. Demgegenüber erklärte die Beklagte dem Kläger mit Schreiben vom 8. September 1995, daß seine Weiterbeschäftigung nicht in Betracht käme und begründete dies mit der Verwirkung seines Klagerechts.

Mit seiner am 19. Oktober 1995 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage hat der Kläger die Auffassung vertreten, die von der Beklagten vorsorglich ausgesprochene Kündigung sei unwirksam, weil der Personalrat nicht vor Ausspruch der Kündigung ordnungsgemäß angehört worden sei. Diese Unwirksamkeit der Kündigung könne noch geltend gemacht werden. Er habe sein Klagerecht nicht verwirkt.

Der Kläger hat beantragt

festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 26. Januar 1993 nicht aufgelöst worden sei.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat die Auffassung vertreten, der Kläger habe sein Klagerecht verwirkt. Infolge des langen Zeitablaufs habe sie darauf vertrauen können, daß mit einer Klage des Klägers gegen die ordentliche Kündigung nicht mehr zu rechnen sei.

Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben, weil die ordentliche Kündigung wegen fehlerhafter Personalratsanhörung unwirksam sei. Mit der Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Landesarbeitsgericht (§ 565 Abs. 1 ZPO).

I. Das Landesarbeitsgericht hat im wesentlichen ausgeführt:

Es könne nicht davon ausgegangen werden, daß der Kläger seine Klagebefugnis verwirkt habe. Allerdings liege das Zeitmoment vor. Entscheidend sei der Zeitraum von Januar 1993 bis November 1994 (22 Monate). Jedoch sei der Vertrauenstatbestand für die Beklagte nicht gegeben. Der Vortrag der Beklagten in ihrer Berufungsbegründungsschrift, daß die Stelle des Klägers in der Grenzschutzstelle S. nachbesetzt worden sei, könne nicht berücksichtigt werden. Die Beklagte habe sich nicht gegen die gegenteiligen Feststellungen im erstinstanzlichen Urteil gewandt. Im übrigen sei dieser Vortrag verspätet, weil die Beklagte bereits in der ersten Instanz unter Fristsetzung aufgefordert worden sei darzulegen, „vor welchem tatsächlichen und rechtlichen Hintergrund von einer Verwirkung des Klagerechts ausgegangen werden soll”. Die streitbefangene ordentliche Kündigung sei wegen fehlerhafter Anhörung des Personalrats unwirksam.

II. Diese Ausführungen halten einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Aufgrund der bisher vom Landesarbeitsgericht getroffenen Feststellungen kann nicht entschieden werden, ob der Kläger sein Klagerecht verwirkt hat.

1. Das Berufungsgericht ist im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts davon ausgegangen, daß auch das Recht, außerhalb des Geltungsbereichs von § 4 KSchG gegen eine Kündigung Klage zu erheben, verwirkt werden kann (vgl. BAG Urteil vom 20. Mai 1988 – 2 AZR 711/87 – AP Nr. 5 zu § 242 BGB Prozeßverwirkung, zu II 1 der Gründe, m.w.N.). Das Klagebegehren ist danach verwirkt, wenn der Kläger die Klage erst nach Ablauf eines längeren Zeitraums erhebt (Zeitmoment) und dadurch ein Vertrauenstatbestand beim Beklagten geschaffen wurde, er werde nicht mehr gerichtlich belangt werden (Umstandsmoment). Hierbei muß das Erfordernis des Vertrauensschutzes das Interesse des Berechtigten an einer sachlichen Prüfung des von ihm behaupteten Anspruchs derart überwiegen, daß dem Gegner die Einlassung auf die nicht mehr innerhalb angemessener Frist erhobene Klage nicht mehr zuzumuten ist (BAG, aaO, m.w.N.).

2. Zu Recht hat das Landesarbeitsgericht angenommen, daß das Zeitmoment im Streitfall erfüllt ist.

Seit dem Zugang der ordentlichen Kündigung im Januar 1993 sind bis zur Erhebung der vorliegenden Klage 33 Monate vergangen. Maßgeblich für das Zeitmoment ist allerdings lediglich die Zeit bis zu dem Gespräch im November 1994, also 22 Monate. Denn die Erklärung der Beklagten in diesem Gespräch, die Klägervertreterin solle so gestellt werden, als hätte sie zu diesem Zeitpunkt bereits Klage erhoben, schließt nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) eine Berücksichtigung der Folgezeit für die Prüfung der Verwirkung unter dem Gesichtspunkt der illoyal verspäteten Geltendmachung des Klagerechts aus.

Dieser Zeitraum von 22 Monaten ist bei einer Kündigungsschutzklage ausreichend, das Zeitmoment der Verwirkung auszufüllen. Liegt das für eine Klageerhebung maßgebende Ereignis mehr als ein Jahr zurück, so wird der Anspruchsverpflichtete in der Regel nicht mehr damit rechnen, von dem Anspruchsberechtigten belangt zu werden. Dies gilt insbesondere bei Kündigungsprozessen. Der Arbeitgeber kann erwarten, daß der Arbeitnehmer sich in angemessener Zeit gegen die für ihn persönlich und wirtschaftlich meist sehr bedeutsame Kündigung seines Arbeitsverhältnisses zur Wehr setzt, wenn er sie nicht hinnehmen will. Der Kläger hat nicht vorgetragen, weshalb er erst nach 22 Monaten personalvertretungsrechtliche Gründe gegen die ordentliche Kündigung geltend machte. Die Prüfung der Unwirksamkeit der Kündigung wegen nicht ordnungsgemäßer Beteiligung des Personalrats (§ 79 Abs. 4 BPersVG) ist in der Regel nicht so zeitaufwendig.

3. Den Ausführungen des Landesarbeitsgerichts zum Umstandsmoment folgt der Senat nicht.

a) Während des Zeitraums von 22 Monaten hat der Kläger – von der folgenlos gebliebenen Klageankündigung vom 4. Februar 1993 abgesehen – gegenüber der Beklagten weder die Unwirksamkeit der ordentlichen Kündigung geltend gemacht, noch ausdrücklich einen Wunsch auf Weiterbeschäftigung geäußert. Ein solcher Wunsch ist ohne weiteren Sachvortrag auch nicht in der Erhebung der Klage gegen die außerordentliche Kündigung zu sehen. Der Arbeitnehmer kann seine Kündigungsschutzklage darauf beschränken, die Wirksamkeit einer einzelnen außerordentlichen Kündigung überprüfen zu lassen. Tut er dies, ist für den Arbeitgeber ohne weitere Anhaltspunkte nicht ersichtlich, daß der Arbeitnehmer damit gleichzeitig die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erreichen will, weil er gleichermaßen nur bestrebt sein kann, das Arbeitsverhältnis lediglich bis zum Ablauf der einzuhaltenden Kündigungsfrist fortzusetzen oder den Makel der außerordentlichen Kündigung aus der Welt zu schaffen (vgl. KR-Friedrich, 4. Aufl. 1996, § 4 KSchG Rz 227). Es ist nicht vorgetragen, daß der Kläger in diesem vorangegangenen Verfahren gegenüber der Beklagten zum Ausdruck gebracht hat, er wolle unter allen Umständen auch nach dem Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist auf seinen alten Arbeitsplatz zurückkehren. Damit durfte sich die Beklagte darauf einrichten, der Kläger werde gegen die ordentliche Kündigung nicht mehr gerichtlich vorgehen.

b) Hierzu hat die Beklagte vorgetragen, sie habe mit dem Bezirkspersonalrat am 24. Mai 1995 eine Vereinbarung getroffen, wonach hinsichtlich der 250 noch anhängigen Verfahren über die ordentliche Kündigung nicht die konkreten Stellen, sondern lediglich eine entsprechende Anzahl von Stellen freizuhalten seien. Die Stelle des Klägers sei jedoch endgültig nachbesetzt worden, weil der Kläger die ordentliche Kündigung nicht angegriffen habe.

c) Dieser Vortrag ist geeignet, das Umstandsmoment zu begründen. Das Landesarbeitsgericht durfte den in der Berufungsbegründung enthaltenen Vortrag zur Nachbesetzung der Stelle des Klägers nicht zurückweisen. Dies rügt die Revision zu Recht.

aa) Der Vortrag der Nachbesetzung der Stelle des Klägers durfte nicht deshalb zurückgewiesen werden, weil das Erstgericht festgestellt hatte, die Stelle des Klägers sei unstreitig nicht neu besetzt worden. Eine Partei, die den Sachvortrag des Gegners zunächst nicht bestreitet, ist nicht gehindert, die behauptete Tatsache im späteren Verlauf des Prozesses doch noch zu bestreiten. Ein zunächst vorliegendes Stillschweigen auf gegnerische Behauptungen genügt nicht, um von einem bindenden Geständnis nach § 288 Abs. 1 ZPO auszugehen. Die Tatsache gilt dann lediglich (zunächst) gem. § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden (vgl. BGH Urteil vom 12. März 1991 – XI ZR 85/90 – NJW 1991, 1683).

bb) Den Vortrag der Beklagten in der Berufungsbegründung zur Nachbesetzung der Stelle des Klägers durfte das Landesarbeitsgericht auch nicht als verspätet zurückweisen. Die Zurückweisung neuen Vorbringens in der Berufungsinstanz setzt voraus, daß durch das neue Vorbringen der Rechtsstreit verzögert wird (§ 67 Abs. 1 ArbGG, § 528 Abs. 2 ZPO). Die Zurückweisung scheidet aus, wenn die drohende Verzögerung durch zumutbare Maßnahmen des Gerichts zur Terminsvorbereitung abgewendet werden kann (vgl. BGH Urteil vom 22. November 1995 – VIII ZR 195/94 – NJW 1996, 528, m.w.N.). Das Landesarbeitsgericht hätte die in der Berufungsbegründung vom 22. April 1996 vorgetragenen Tatsachen berücksichtigen und im Kammertermin vom 12. Juni 1996 Beweis über die streitigen Fragen erheben können.

cc) Das Landesarbeitsgericht durfte seine Zurückweisung auch nicht darauf stützen, daß die Beklagte erstinstanzlich trotz Fristsetzung es versäumt habe, zur Verwirkung vorzutragen. Die Folgen verspäteten erstinstanzlichen Vorbringens regelt allein § 67 Abs. 1 Satz 3 ArbGG i.V.m. § 528 Abs. 3 ZPO. Danach bleibt Vorbringen, das zu Recht erstinstanzlich als verspätet zurückgewiesen worden ist, auch in zweiter Instanz ausgeschlossen. Nur in diesem Fall prüft das Berufungsgericht, ob das Vorbringen erstinstanzlich verspätet war. Hat das erstinstanzliche Gericht jedoch, wie im Streitfall, das Vorbringen nicht als verspätet zurückgewiesen, darf das Berufungsgericht keine eigene Prüfung vornehmen, ob die Voraussetzungen der Präklusion vorgelegen haben. Es muß vielmehr in diesem Fall den Vortrag verwerten (vgl. Zöller/Gummer, ZPO, 20. Aufl. 1997, § 528 Rz 32, m.w.N.).

d) Das Landesarbeitsgericht wird daher noch einmal der Frage nachzugehen haben, ob die Beklagte darauf vertraut hat, der Kläger werde die Unwirksamkeit der ordentlichen Kündigung nicht mehr gerichtlich geltend machen. Dabei wird das Landesarbeitsgericht auch die von der Beklagten vorgetragenen Beweisangebote zur endgültigen Nachbesetzung der Stelle des Klägers zu berücksichtigen haben.

 

Unterschriften

Ascheid, Dr. Wittek, Mikosch, Noack, Hannig

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1126929

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