Entscheidungsstichwort (Thema)

Zulässigkeit der Differenzierung zwischen Arbeitern und Angestellten bei den Kündigungsfristen im Manteltarifvertrag für die Systemgastronomie vom 26. Februar 1993

 

Normenkette

GG Art. 3 Abs. 1; BMTV für die Systemgastronomie vom 26. Februar 1993 §§ 2, 6, 9, 15 Ziff. 2; ZPO § 554 Abs. 3 Nr. 3 a

 

Verfahrensgang

LAG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 07.12.1995; Aktenzeichen 9 Sa 711/95)

ArbG Kaiserslautern (Urteil vom 22.03.1995; Aktenzeichen 3 Ca 2041/94)

 

Tenor

1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Rheinland-Pfalz vom 7. Dezember 1995 – 5 Sa 711/95 – aufgehoben.

2. Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Klägerin war bei der Beklagten seit 10. April 1994 als Arbeiterin beschäftigt. Nach § 6 ihres Arbeitsvertrages findet der jeweilige Manteltarifvertrag für die Systemgastronomie (im folgenden: MTV) Anwendung. In §§ 2, 9 MTV ist u.a. folgendes geregelt:

㤠2 Einstellung

3. Probezeit, Probearbeitsverhältnis und Kündigung in der Probezeit

Die Probezeit bei gewerblichen Arbeitnehmern)/-innen beträgt in der Regel einen Monat; die Kündigungsfrist beträgt während der Probezeit drei Arbeitstage.

Bei Angestellten beträgt die Probezeit in der Regel sechs Monate; während dieser Zeit kann das Arbeitsverhältnis mit einer Frist von vier Wochen gekündigt werden.

§ 9 Beendigung des Arbeitsverhältnisses

2. Kündigungsfristen

Nach Ablauf der Probezeit betragen die Kündigungsfristen beiderseitig

2.1 für gewerbliche Arbeitnehmer/-innen bei einer Betriebszugehörigkeit

bis zu 1 Jahr

2 Wochen

bis zu 3 Jahren

3 Wochen

bis zu 5 Jahren

4 Wochen

nach 5 Jahren

1 Monat zum Monatsende,

nach 10 Jahren

3 Monate zum Monatsende,

nach 20 Jahren

3 Monate zum Quartalsschluß

Bei Berechnung der Betriebszugehörigkeit werden Beschäftigungsjahre, die vor Vollendung des 25. Lebensjahres liegen, nicht berücksichtigt.

2.2 Für Angestellte bei einer Betriebszugehörigkeit

bis zu 5 Jahren

6 Wochen zum Quartalsschluß

von mehr als 5 Jahren

3 Monate zum Quartalsschluß

von mehr als 8 Jahren

4 Monate zum Quartalsschluß

von mehr als 10 Jahren

5 Monate zum Quartalsschluß

von mehr als 12 Jahren

6 Monate zum Quartalsschluß

Bei Berechnung der Betriebszugehörigkeit werden Beschäftigungsjahre, die vor Vollendung des 25. Lebensjahres liegen, nicht berücksichtigt.”

§ 15 Ziffer 2 MTV lautet:

„Gültigkeit der tariflichen Kündigungsfristen

Bezüglich der Kündigungsfristen für gewerbliche Arbeitnehmer/-innen und Angestellte gehen die Tarifvertragsparteien weiterhin von der Gültigkeit der tariflichen Fristen gemäß § 2 Ziffer 3 und § 9 Ziffer 2.1 und 2.2 dieses Tarifvertrages aus. Die Tarifvertragsparteien werden unmittelbar nach Änderung der gesetzlichen Kündigungsfristen aufgrund des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Mai 1990 (Az.: 1 BvL 2/83 u.a.) die bestehenden tariflichen Kündigungsfristen überprüfen und gegebenenfalls ändern unter Beachtung der Besonderheiten in der Systemgastronomie.”

Am 28. April 1995 haben die Tarifvertragsparteien ferner folgende Erklärung unterzeichnet:

„Die Tarifvertragsparteien sind sich einig, daß die Kündigungsfristen nach §§ 2 Ziffer 3 und § 9 Ziffer 2 MTV West- und Ostdeutschland (konstitutiv) eigenständig und verfassungskonform sind.

Insoweit finden die gesetzlichen Kündigungsfristen nach dem Gesetz zur Vereinheitlichung der Kündigungsfristen von Arbeitern und Angestellten (KündFG) vom 7. Oktober 1993 keine Anwendung.”

Die Beklagte hat der Klägerin unter dem 16. September 1994 zum 30. September 1994 gekündigt.

Mit ihrer Klage hat die Klägerin Lohn für die Zeit vom 1. bis 15. Oktober 1994 in unstreitiger Höhe mit der Begründung geltend gemacht, die Kündigungsfrist sei falsch berechnet; die Differenzierung im MTV zwischen Arbeitern und Angestellten sei mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar.

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 660,– DM brutto nebst 4 % Zinsen aus dem Nettobetrag seit 20. Oktober 1994 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie hat die Auffassung vertreten, die Ungleichbehandlung von Arbeitern und Angestellten im MTV hinsichtlich der Kündigungsfristen sei sachlich gerechtfertigt, weil sie der notwendigen Flexibilität im produktiven Bereich Rechnung trage. Die hohe Fluktuationsrate, die bei Arbeitern durchschnittlich 50 % betrage, lasse eine kürzere Kündigungsfrist angebracht erscheinen. Bei den Arbeitern handele es sich um ungelernte Arbeitskräfte, die zum Teil einer Nebenbeschäftigung nachgingen bzw. lediglich für einen begrenzten Zeitraum eine Verdienstquelle suchten. Ihre durchschnittliche Beschäftigungsdauer betrage weniger als ein Jahr. Die Tarifvertragsparteien hätten deshalb mit der Regelung der Kündigungsfristen in Kenntnis der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Mai 1990 den branchenspezifischen Gegebenheiten Rechnung getragen.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben, das Landesarbeitsgericht hat die vom Arbeitsgericht zugelassene Berufung der Beklagten zurückgewiesen und die Revision zugelassen.

Mit ihrer Revision begehrt die Beklagte weiterhin Klageabweisung.

 

Entscheidungsgründe

I. Die Revision ist entgegen der Auffassung der Klägerin zulässig. Mit der Revisionsbegründung bringt die Beklagte hinreichend deutlich zum Ausdruck, daß und weshalb sie durch die angegriffene Entscheidung § 9 Ziffer 2.1 MTV in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG als verletzt ansieht. Wäre ihre Auffassung zutreffend, so würde es für den Lohnanspruch der Klägerin an einer Anspruchsgrundlage fehlen, die Klage hätte abgewiesen werden müssen. Für § 554 Abs. 3 Nr. 3 a ZPO ist eine solche Revisionsbegründung ausreichend, weil jedenfalls die Richtung des Revisionsangriffs erkennbar ist (vgl. Zöller/Gummer, ZPO, 19. Aufl., § 554 Rz 12). Auch sonstige Zulässigkeitsbedenken bestehen nicht.

II. Die Revision ist auch begründet. Aus den vom Landesarbeitsgericht getroffenen Feststellungen läßt sich nicht ableiten, ob die Differenzierung zwischen Arbeitern und Angestellten in § 9 Ziffer 2.1 und Ziffer 2.2 MTV für das erste Jahr der Beschäftigung sachlich gerechtfertigt ist oder gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstößt. Deshalb bedurfte es der Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts und zur erneuten Verhandlung und Entscheidung (§ 565 Abs. 1 Satz 1 ZPO).

1. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die Differenzierung im MTV zwischen Arbeitern und Angestellten hinsichtlich der Grundkündigungsfristen verstoße mangels sachlicher Rechtfertigung gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Ein erhöhtes arbeitgeberseitiges Interesse an flexibler Personalplanung infolge von Auftragsschwankungen lasse sich nicht feststellen. Die erhöhte Fluktuation bei Arbeitern erfordere eher längere Kündigungsfristen. Ein eigenes Interesse der Arbeiter an kürzeren Kündigungsfristen sei als gering einzuschätzen, da diese ggf. den Beginn eines Anschlußarbeitsverhältnisses mit den längeren Kündigungsfristen abstimmen könnten. Mit Studenten, Schülern und nebenberuflich tätigen Personen, die nur für einen bestimmten Zeitraum eine Beschäftigung suchten, dürften in der Regel befristete Arbeitsverträge geschlossen werden. Daß die Angestellten in der Branche, deren Anteil etwa 10 bis 20 % aller Beschäftigten ausmache, besonders hoch qualifiziert seien, so daß sie für die Suche nach einem neuen Arbeitsplatz mehr Zeit benötigten als weniger qualifizierte Arbeiter, sei nicht ersichtlich. Schließlich rechtfertige auch § 15 Ziffer 2 MTV kein anderes Ergebnis. Diese Norm stelle keine eigenständige Neuregelung der Kündigungsfristen nach der Änderung von § 622 BGB dar. Aus dem Schreiben der Gewerkschaft NGG vom 16. Oktober 1995 könne entnommen werden, daß eine sachgerechte Vereinbarung der Fristen nicht übereinstimmende Auffassung der Tarifvertragsparteien sei. Die Kündigung vom 16. September 1994 habe deshalb das Arbeitsverhältnis der Parteien erst mit der gesetzlichen Kündigungsfrist des § 622 Abs. 1 BGB i.d.F. vom 7. Oktober 1993 zum 15. Oktober 1994 aufgelöst. Für die Zeit vom 1. bis 15. Oktober 1994 schulde deshalb die Beklagte der Klägerin Lohn aus dem Gesichtspunkt des Annahmeverzugs.

2. Dem folgt der Senat in Teilen der Begründung, nicht aber im Ergebnis.

a) Das Landesarbeitsgericht hat § 9 Ziffer 2.1 MTV mit zutreffender Begründung als konstitutive Regelung der Kündigungsfristen für Arbeiter angesehen, über deren Vereinbarkeit mit Art. 3 Abs. 1 GG die Arbeitsgerichte in eigener Kompetenz zu befinden haben (vgl. nur Senatsurteil vom 16. September 1993 – 2 AZR 697/92BAGE 74, 167 = AP Nr. 42 zu § 622 BGB, m.w.N.). Über diesen rechtlichen Ausgangspunkt besteht zwischen den Parteien auch kein Streit.

b) Da die Klägerin weniger als ein Jahr beschäftigt war, geht es vorliegend allein um die Frage, ob die in der genannten Tarifnorm geregelte Eingangsfrist von zwei Wochen Arbeiter gegenüber Angestellten ohne ausreichenden sachlichen Grund und daher gemäß Art. 3 Abs. 1 GG verfassungswidrig benachteiligt. Ob die Kündigungsfristen bei längerer Beschäftigungsdauer verfassungskonform geregelt sind, bedarf keiner Entscheidung (vgl. dazu Senatsurteile vom 16. September 1993 – 2 AZR 697/92 –, a.a.O., und vom 11. August 1994 – 2 AZR 9/94 – AP Nr. 31 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit, m.w.N.).

c) Für eine unterschiedliche tarifliche Regelung der Kündigungsfristen von Arbeitern und Angestellten fehlt es an sachlichen Gründen, wenn eine Schlechterstellung der Arbeiter nur auf einer pauschalen Differenzierung zwischen den Gruppen der Angestellten und der Arbeiter beruht. Sachlich gerechtfertigt sind dagegen hinreichend gruppen-spezifisch ausgestaltete unterschiedliche Regelungen, die z.B. nur eine verhältnismäßig kleine Gruppe nicht intensiv benachteiligen oder funktions-, branchen- oder betriebsspezifischen Interessen im Geltungsbereich eines Tarifvertrages mit Hilfe verkürzter Kündigungsfristen für Arbeiter entsprechen (z.B. überwiegende Beschäftigung von Arbeitern in der Produktion), wobei andere sachliche Differenzierungsgründe nicht ausgeschlossen sind (ständige Rechtsprechung, vgl. Senatsurteil vom 16. September 1993 – 2 AZR 697/92 – a.a.O., m.w.N.).

aa) Allein aus dem hohen Anteil der Arbeiter in der Branche von 80 bis 90 % und deren ganz überwiegenden Beschäftigung in der „Produktion” läßt sich vorliegend allerdings noch kein sachlicher Grund für die Ungleichbehandlung von Arbeitern und Angestellten bei den Eingangskündigungsfristen des § 9 Ziffer 2 MTV aus dem Gesichtspunkt eines Bedürfnisses nach erhöhter personalwirtschaftlicher Flexibilität ableiten. Dieser könnte sich vielmehr erst ergeben, wenn branchenspezifische Besonderheiten wie erhöhte produkt-, mode-, witterungs- oder saisonbedingte Auftragsschwankungen hinzuträten (vgl. Senatsurteil vom 16. September 1993 – 2 AZR 697/92 –, a.a.O., m.w.N.).

Das Landesarbeitsgericht hat dazu festgestellt, in der Branche der Systemgastronomie gebe es keine produkt- oder saisonbedingten Auftragsschwankungen oder gravierenden Veränderungen im Verbraucherverhalten, welche schnelle Reaktionen der Unternehmen zur Anpassung des Personalbestandes rechtfertigen würden. Die Beklagte hat dies auch ausdrücklich eingeräumt. Soweit sie in der Revision geltend macht, es gebe aber erhebliche Schwankungen in der Besucherzahl zu den verschiedenen Tages- und Nachtzeiten, sind kürzere Kündigungsfristen für Arbeiter kein geeignetes Mittel, den Personaleinsatz an derartige Schwankungen anzupassen.

Dem Landesarbeitsgericht ist auch darin beizupflichten, daß ein häufiger Arbeitsplatzwechsel der in der Branche tätigen Arbeiter aus eigenem Antrieb nicht zugleich ein arbeitgeberseitiges Interesse an kurzen Kündigungsfristen begründen, sondern für sich genommen eher ein gegensätzliches Interesse der Unternehmen nahelegen würde.

bb) Nicht zu beanstanden ist es ferner, wenn das Landesarbeitsgericht einen sachlichen Grund für die fragliche Differenzierung nicht aus größeren Schwierigkeiten der Angestellten bei der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz ableitet. An die Feststellung des Landesarbeitsgerichts, die Angestellten in der Branche zeichneten sich nicht durch eine besonders hohe Qualifikation aus, welche die Suche nach einem adäquaten neuen Arbeitsplatz verzögern würde, ist der Senat gebunden. Von der Revision wird dies und die eingangs genannte Schlußfolgerung des Landesarbeitsgerichts auch nicht angegriffen.

cc) Die angegriffene Entscheidung berücksichtigt jedoch nicht ausreichend, daß sich für die kürzere Kündigungsfrist eine sachliche Rechtfertigung auch daraus ergeben kann, daß die Fluktuation im ersten Jahr des Arbeitsverhältnisses bei Arbeitern in der Branche im Vergleich zu Angestellten sehr hoch ist, sei es, daß dies auf typischen Wünschen der Arbeiter nach erhöhter Flexibilität, auf häufiger Kündigung wegen fehlender Eignung der Arbeiter durch die Arbeitgeber oder auf beidem zusammen beruht (vgl. Senatsurteile vom 23. Januar 1992 – 2 AZR 470/91BAGE 69, 257, 265 f. = AP Nr. 37 zu § 622 BGB, zu II 2 b aa der Gründe und vom 2. April 1992 – 2 AZR 516/91 – AP Nr. 38 zu § 622 BGB, zu II 4 b aa der Gründe; vgl. auch die zustimmende Anm. von Jansen zu AP Nr. 42 zu § 622 BGB).

Soweit die Klägerin einwendet, die Eignung der Arbeiter könnten die Arbeitgeber in der Probezeit überprüfen, ist dies kein durchschlagendes Argument: Es ist durchaus vorstellbar, daß Arbeiter im ersten Monat des Arbeitsverhältnisses (§ 2 Ziffer 3 Abs. 1 MTV) branchentypische Eignungsmängel häufig durch überobligatorischen Einsatz kompensieren und sich solche Eignungsmängel erst in der Folgezeit herausstellen.

Wenn das Landesarbeitsgericht meint, bei Schülern, Studenten und anderen an einer zeitlich begrenzten Beschäftigung interessierten (Aushilfs-)Kräften könnten befristete Arbeitsverträge abgeschlossen werden, mag dies zwar häufig zutreffen. Derartige Vertragsgestaltungen sind aber nur begrenzt geeignet, erhöhten Flexibilitätsinteressen der Arbeiter Rechnung zu tragen. So hat die Beklagte darauf hingewiesen, als gewerbliche Arbeitnehmer in der Branche bewürben sich z.B. auch Arbeitslose, welche möglichst rasch wieder in ihrem erlernten Beruf arbeiten wollten, wenn sie eine entsprechende Arbeitsstelle fänden. Derartigen Interessen wäre mit befristeten Arbeitsverträgen nicht gedient, wohl aber mit kurzen Kündigungsfristen. Das Landesarbeitsgericht bewertet solche Interessen der Arbeiter gering, indem es meint, die Arbeitnehmer könnten den Beginn etwaiger Anschlußbeschäftigungen auch mit längeren Kündigungsfristen abstimmen; zumindest ohne entsprechende tatsächliche Feststellungen zu den Verhältnissen in der Branche vermag jedoch eine solche Aussage nicht zu überzeugen.

dd) Es kommt hinzu, daß zwar die Tarifvertragsparteien aus Art. 9 Abs. 3 GG keine weitergehenden Eingriffsbefugnisse herleiten können, als sie der Gesetzgeber selbst hat. Es ist aber nicht Sache der Gerichte zu prüfen, ob sie bei Inanspruchnahme ihrer Gestaltungsfreiheit die jeweils „gerechteste” und zweckmäßigste Regelung gefunden haben, vielmehr genügt es, daß für die vorgenommenen Differenzierungen sachlich einleuchtende Gründe vorhanden sind. Im Rahmen der den Tarifpartnern gewährten Tarifautonomie ist ihnen eine sachverständige Beurteilungskompetenz einzuräumen. Ihnen muß es auch überlassen bleiben, in eigener Verantwortung unter Umständen Zugeständnisse in einer Hinsicht mit Vorteilen in anderer Hinsicht auszugleichen. Es besteht insoweit wegen der Gleichwertigkeit der Tarifvertragsparteien eine – wenn auch keine uneingeschränkte – materielle Richtigkeitsgewähr für tarifliche Regelungen. Diese haben mit Einschränkungen die Vermutung für sich, daß sie den Interessen beider Seiten gerecht werden und keiner Seite ein unzumutbares Übergewicht vermitteln (vgl. Senatsurteile vom 2. April 1992 – 2 AZR 516/91 – und vom 16. September 1993 – 2 AZR 697/92 – jeweils a.a.O., m.w.N.).

Entgegen der Ansicht des Landesarbeitsgerichts ist es deshalb durchaus von erheblicher Bedeutung, daß die Tarifvertragsparteien in § 15 Ziffer 2 MTV festgehalten haben, sie gingen in Kenntnis des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Mai 1990 weiterhin von der Verfassungsmäßigkeit der in §§ 2 Ziffer 3, 9 Ziffer 2.1 und 2.2 MTV geregelten Kündigungsfristen aus, und daß sie auch nach der gesetzlichen Neuregelung mit der Erklärung vom 28. April 1995 die tariflichen Kündigungsfristen bestätigt haben. Es mag sein, daß die Gewerkschaft NGG die Forderung nach längeren Kündigungsfristen für gewerbliche Arbeitnehmer wiederholt erhoben hat. Dies kann aber auch aus taktischen Gründen erfolgt sein, um die Verhandlungsmasse zu vergrößern und – wie die Gewerkschaft in ihrem Schreiben vom 16. Oktober 1995 andeutet – höhere Lohnforderungen durchsetzen zu können. Daß die Eingangsfrist in § 9 Ziffer 2.1 MTV nicht (auch) den Interessen der gewerblichen Arbeitnehmer entspricht und die beiderseitigen Interessen von Arbeitern und Arbeitgebern in der Branche zu einem sachgerechten Ausgleich bringt, kann daraus nicht hergeleitet werden, vielmehr spricht die Bestätigung der Kündigungsfristen durch die Erklärung der Tarifvertragsparteien vom 28. April 1995 für das Gegenteil.

ee) Zu der von der Klägerin bestrittenen deutlich höheren Fluktuation der gewerblichen Arbeitnehmer hat das Landesarbeitsgericht keine Feststellungen getroffen, vielmehr hat es die entsprechende Behauptung der Beklagten als richtig unterstellt. Der unterstellte Sachverhalt trägt jedoch, wie dargelegt, die weiteren Schlußfolgerungen des angegriffenen Urteils nicht.

Das Landesarbeitsgericht wird aufzuklären haben, ob und wie sehr sich die Fluktuation der gewerblichen Arbeitnehmer im ersten Jahr der Beschäftigung von der der Angestellten unterscheidet und ggf. ob und in welchem Ausmaß diese Fluktuation auf eigenen Interessen der gewerblichen Arbeitnehmer beruht bzw. durch Arbeitgeberkündigungen wegen mangelnder persönlicher Eignung bedingt ist. In Betracht kommt eine erneute Antrage beim Arbeitgeberverband, dessen Antwort – soweit ersichtlich – nicht angemahnt wurde. Möglicherweise könnten auch die Dachverbände DGB und BdA sachdienliche Angaben machen. Ferner ist die Einholung von Auskünften der Arbeitsverwaltung und/oder eines Sachverständigengutachtens in Erwägung zu ziehen. Unter Umständen kann auch die Einvernahme angebotener Zeugen zu einer weiteren Aufklärung des Sachverhalts beitragen. Auf der Grundlage des so aufgeklärten Sachverhalts wird das Landesarbeitsgericht unter Beachtung der oben angeführten Grundsätze neu zu entscheiden haben. Soweit es dabei auf das Ausmaß der Differenzierung zwischen gewerblichen Arbeitnehmern und Angestellten ankommt, ist § 2 Ziffer 3 Abs. 2 MTV heranzuziehen. Allerdings beansprucht die Eingangsfrist des § 9 Ziffer 2.1 MTV nicht nur für die ersten sechs Monate des Arbeitsverhältnisses (regelmäßige Probezeit der Angestellten gemäß § 2 Ziffer 3 Abs. 2 MTV) Geltung, sondern für das ganze erste Jahr. Jedoch könnte auch für die Zeit nach Ablauf der Probezeit der Angestellten von einer Kündigungsfrist von vier Wochen auszugehen sein, weil jedenfalls im Zeitpunkt der streitigen Kündigung § 9 Ziffer 2.2 MTV keine eigenständige Tarifregelung dargestellt, sondern lediglich deklaratorischen Charakter gehabt haben könnte, so daß auf § 622 BGB n.F. abzustellen wäre (vgl. Senatsurteile vom 5. Oktober 1995 – 2 AZR 1028/94 – AP Nr. 48 zu § 622 BGB, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen, und vom 14. Februar 1996 – 2 AZR 201/95 – AP Nr. 50 zu § 622 BGB).

 

Unterschriften

Etzel, Bitter, Fischermeier, Dr. Bächle, Kuemmel-Pleissner

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1087083

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