Die rechtlichen Voraussetzungen des wichtigen Grundes nach § 22 Abs. 2 Nr. 1 BBiG entsprechen denen des § 626 Abs. 1 BGB, sodass die in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts hierzu entwickelten Grundsätze auch für die Auslegung der Tarifnorm heranzuziehen sind. Danach kann eine Kündigung aus wichtigem Grund insbesondere dann gerechtfertigt sein, wenn der Auszubildende seine vertraglichen Hauptleistungspflichten und/oder vertraglichen Nebenpflichten erheblich verletzt hat. Liegt eine solche Pflichtverletzung vor, ist in Anlehnung an § 626 Abs. 1 BGB in einer Gesamtwürdigung das Interesse des Ausbilders an der sofortigen Beendigung des Berufsausbildungsverhältnisses gegen das Interesse des Auszubildenden an dessen Fortbestand bis zum Ablauf der Ausbildungszeit abzuwägen. Dabei hat eine Bewertung des konkreten Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen. Eine außerordentliche Kündigung kommt nur in Betracht, wenn dem Ausbilder angesichts der Gesamtumstände sämtliche milderen Reaktionsmöglichkeiten unzumutbar sind. Die außerordentliche Kündigung wegen einer Vertragspflichtverletzung setzt deshalb regelmäßig eine Abmahnung voraus.[1] Einer solchen bedarf es nach Maßgabe des auch in § 314 Abs. 2 i. V. m. § 323 Abs. 2 BGB zum Ausdruck kommenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur dann nicht, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach Abmahnung nicht zu erwarten steht oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich – auch für den Auszubildenden erkennbar – ausgeschlossen ist (z. B. bei besonders schwerem Fehlverhalten[2]).

Das Arbeitsgericht Bonn hat das nicht ordnungsgemäße Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes durch einen Auszubildenden und den damit verbundenen Verstoß gegen das bei einer Pflegeschule bestehende Schutzkonzept zur Eindämmung des Coronavirus SARS-CoV-2 für nicht so schwerwiegend erachtet, eine außerordentliche Kündigung des Ausbildungsverhältnisses ohne vorherige Abmahnung zu rechtfertigen. Es hat hierbei berücksichtigt, dass im konkreten Fall eine dem Arbeitgeber unzumutbare Gefährdung von Arbeitskollegen und Patienten nicht eingetreten ist.[3]

Der dringende Tatverdacht einer schwerwiegenden Pflichtverletzung des Auszubildenden kann dem Ausbildenden die Fortsetzung des Ausbildungsverhältnisses unzumutbar machen und daher einen wichtigen Grund zur Kündigung nach § 22 Abs. 2 Nr. 1 BBiG darstellen.[4] Begeht der Auszubildende eine rechtswidrige und vorsätzliche – ggf. strafbare – Handlung unmittelbar gegen das Vermögen seines Ausbildenden, verletzt er zugleich in schwerwiegender Weise seine schuldrechtliche Pflicht zur Rücksichtnahme nach § 10 Abs. 2 BBiG i. V. m. § 241 Abs. 2 BGB und missbraucht das in ihn gesetzte Vertrauen. Dies gilt auch dann, wenn die rechtswidrige Handlung Gegenstände von geringem Wert betrifft oder zu einem nur geringfügigen, möglicherweise zu gar keinem Schaden geführt hat. Maßgebend ist der mit der Pflichtverletzung verbundene Vertrauensbruch. Allerdings ist bei der Prüfung der Voraussetzungen einer Verdachtskündigung der besondere Charakter des Berufsausbildungsverhältnisses zu berücksichtigen. Dabei ist – so das BAG[5] – dem Umstand Sorge zu tragen, dass es sich bei Auszubildenden typischerweise um Personen mit geringer Lebens- und Berufserfahrung handelt und den Ausbildenden besondere Fürsorgepflichten sowohl in charakterlicher als auch körperlicher Hinsicht treffen.

 
Hinweis

Vor Ausspruch einer Verdachtskündigung hat der Ausbildende den Verdacht so weit wie möglich aufzuklären, insbesondere den Auszubildenden anzuhören. Einer Mitteilung des beabsichtigten Gesprächsthemas gegenüber dem Auszubildenden bedarf es grundsätzlich nicht. Allerdings hat der Ausbildende sowohl bei der Vorbereitung als auch bei der Durchführung der Anhörung auf die typischerweise bestehende Unerfahrenheit des Auszubildenden und die daraus resultierende Gefahr einer Überforderung gemäß § 10 Abs. 2 BBiG i. V. m. § 241 Abs. 2 BGB Rücksicht zu nehmen und ggfs. das Gespräch von sich aus oder auf Wunsch des Auszubildenden abzubrechen und eine erneute Anhörung anzuberaumen. Eine Unterbrechung der Anhörung ist z. B. geboten, wenn der Auszubildende die Beratung mit einer Vertrauensperson (z. B. Rechtsanwalt) verlangt. Der Ausbildende ist jedoch nicht verpflichtet, den Auszubildenden auf die Möglichkeit der Kontaktierung einer Vertrauensperson hinzuweisen.

Mit der pauschalen Behauptung, der Auszubildende werde wegen seiner schlechten Leistungen mit hoher Wahrscheinlichkeit in der Abschlussprüfung versagen, kann ein Ausbilder das Ausbildungsverhältnis nicht fristlos beenden.[6] Vorherige schlechte Leistungen kommen als wichtiger Grund zur fristlosen Kündigung des Berufsausbildungsverhältnisses vielmehr nur in Betracht, wenn feststeht, dass aufgrund der aufgetretenen Ausbildungslücken das Bestehen der Ausbildungsp...

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