Leitsatz (amtlich)

1. Die Einstufung der in Deutschland vorgenommenen Abtreibungen als „Mord an unseren Kindern” und als „neuer Holocaust” wird vom Grundrecht der Meinungsfreiheit getragen, auch wenn sie in Bezug auf die Person und die ärztliche Tätigkeit eines namentlich genannten Frauenarztes erfolgt. Ein solcher Beitrag zur politischen Willensbildung in dieser die Öffentlichkeit besonders berührenden fundamentalen Streitfrage muss wegen der konstitutiven Bedeutung der Meinungsfreiheit für den demokratischen Willensbildungsprozess selbst dann hingenommen werden, wenn die geäußerte Meinung extrem erscheint.

2. Die Qualifizierung der Abtreibungen als „rechtswidrig” in dem vom Kläger bekämpften Flugblatt knüpft erkennbar an der gegenwärtigen Rechtslage an, wie sie durch die spezielle Rechtskonstruktion des BVerfG geprägt ist, wonach Abbrüche nach Beratung ohne ärztliche Indikation „rechtswidrig, aber nicht strafbar” sind. Damit handelt es sich bei der angegriffenen Äußerung um eine (dem Beweis zugängliche) Tatsachenbehauptung und nicht um eine eigene strafrechtliche Bewertung der Tätigkeit des Klägers. Die Auslegung dieser Aussage dahin, der Kläger nähme gesetzwidrige, also vom Gesetz nicht zugelassene Schwangerschaftsabbrüche vor, lässt die gebotene Gesamtbetrachtung bei der Deutung der konkret beanstandeten Äußerung außer Acht und stellt schon deshalb einen Verstoß gegen die Meinungsfreiheit dar.

 

Verfahrensgang

LG Heidelberg (Aktenzeichen 3 O 366/01)

 

Tenor

1. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des LG Heidelberg vom 25.10.2002 – 3 O 366/01 – im Kostenpunkt aufgehoben und in Ziff: 1 abgeändert:

Die Klage wird insgesamt abgewiesen.

2. Die Berufung des Klägers wird zurückgewiesen.

3. Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Kläger.

4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Kläger darf die Zwangsvollstreckung des Beklagten gegen Sicherheitsleistung i.H.v. 5.000 Euro abwenden, wenn nicht dieser vor Vollstreckung Sicherheit in der gleichen Höhe leistet.

5. Die Revision wird zugelassen.

 

Gründe

I. Der Kläger, der in N. als Frauenarzt praktiziert und dabei auch Schwangerschaftsabbrüche vornimmt, verlangt in dem vorliegenden Hauptsacheverfahren von dem Beklagten die Unterlassung von kritischen Äußerungen über seine berufliche Tätigkeit.

Der Beklagte protestierte wiederholt auf der Straße vor seiner Praxis gegen Abtreibungen. Dabei trug der Beklagte ein Schild mit der Aufforderung: „Stoppt rechtswidrige Abtreibungen in der Praxis des (Klägers), N.” und verteilte Flugblätter mit folgenden Fragen: „In N.: Rechtswidrige Abtreibungen … Und sie schweigen zum Mord an unseren Kindern?… Wussten Sie schon, dass in N. rechtswidrige Abtreibungen durchgeführt werden?” In den Flugblättern werden die in Deutschland vorgenommenen Abtreibungen als „neuer Holocaust” qualifiziert.

Das LG hat dem Beklagten verboten, „in der Öffentlichkeit, insb. im Rahmen von Publikationen und Flugblattaktionen mündlich oder schriftlich den Namen oder die Person des Klägers im Zusammenhang mit Schwangerschaftsabbrüche zu nennen, wenn er gleichzeitig Schwangerschaftsabbrüche mit den Begriffen „Mord” und „neuer Holocaust” in Verbindung bringt”. Die weitergehende Klage, mit der dem Beklagten auch untersagt werden sollte, im Zusammenhang mit der Tätigkeit des Klägers Schwangerschaftsabbrüche als „rechtswidrige Abtreibungen” zu bezeichnen und dazu aufzufordern, „rechtswidrige Abtreibungen in der Praxis des Klägers zu stoppen”, hat das LG abgewiesen.

Gegen das Urteil des LG wenden sich beide Parteien mit der Berufung. Der Beklagte strebt vollständige Äußerungsfreiheit und der Kläger umfassenden Schutz seiner beruflichen Ehre entspr. seinem erstinstanzlichen Unterlassungsbegehren an.

II. Die zulässigen Berufungen der Parteien haben unterschiedlichen Erfolg; während das Rechtsmittel des Beklagten durchgreift, ist die Berufung des Klägers unbegründet.

1. Berufung des Beklagten

Die von dem Beklagten verwendeten und in Beziehung zu der Abtreibungstätigkeit des Klägers gebrachten Begriffe „ Mord” und „neuer Holocaust” unterliegen mangels Rechtswidrigkeit nicht dem Verbietungsrecht gem. § 1004 Abs. 1 S. 2 i.V.m. § 823 Abs. 1 und Abs. 2 BGB, §§ 185 ff. StGB.

Zutreffend hat das LG die angegriffenen Aussagen in dem Flugblatt als Meinungsäußerungen eingestuft, die dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG (und außerdem des Art. 5 Abs. 2 GG) unterfallen. Die Abgrenzung mit dem gleichfalls grundrechtlich geschützten Persönlichkeitsrecht des Klägers führt zu dem Ergebnis, dass die Äußerungen gerechtfertigt sind.

a) Zwar sind die beanstandeten Äußerungen geeignet, das Ansehen des Klägers in der Öffentlichkeit herabzusetzen und seine persönliche Ehre erheblich zu beeinträchtigen. Jedoch können auch herabsetzende Äußerungen über einen Dritten vom Grundrecht der freien Meinungsäußerung gedeckt sein. Das gilt namentlich bei Auseinandersetzungen über Fragen, die wesentliche oder sogar fundamentale Öffentlichkeitsbelange berühren. Die Meinungsfreiheit muss erst dann zurücktreten, wen...

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