Rz. 335

Nach § 249 Abs. 1 HGB sind Rückstellungen zu bilden. Lediglich für die in § 249 Abs. 2 HGB genannten Aufwandsrückstellungen besteht handelsrechtlich ein Passivierungswahlrecht (Rz. 456). Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten haben Schuldcharakter (vgl. Rz. 338); sie stellen also, wenn auch nach Grund und/oder Höhe ungewisse, Verbindlichkeiten dar. Nach § 242 HGB ist in der Jahresbilanz jeder Vermögensgegenstand und jede Verbindlichkeit anzugeben; es gilt das Gebot der Vollständigkeit der Bilanz. Das bedeutet, dass Passivposten mit Schuldcharakter, also Verbindlichkeiten, unter das Gebot der Vollständigkeit der Bilanz fallen, auch wenn hinsichtlich Grund und/oder Höhe noch eine Unsicherheit besteht. Soweit der vorsichtige Kaufmann mit einer Inanspruchnahme aus der ungewissen Verbindlichkeit ernsthaft rechnen muss (vgl. Rz. 362), muss er auch einen entsprechenden Passivposten (Rückstellung oder Verbindlichkeit) in die Bilanz einstellen. Nach den Grundsätzen ordnungsmäßiger Bilanzierung besteht also für Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten eine Passivierungspflicht (vgl. Clemm/Nonnenmacher, in Beck’scher Bilanzkommentar, § 249 HGB Rz. 2; Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, § 249 HGB Rz. 12).

 

Rz. 336

Aus der handelsrechtlichen Passivierungspflicht der Verbindlichkeitsrückstellungen folgt aus dem Grundsatz der Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz eine korrespondierende steuerliche Passivierungspflicht.

Im Bereich der Rückstellungen ist der Grundsatz der Maßgeblichkeit jedoch weitgehend durchlöchert, und zwar sowohl hinsichtlich des Ansatzes[1] als auch hinsichtlich der Bewertung.[2] Das Recht der Rückstellungen hat sich damit in weitem Umfang zu einem steuerbilanziellen Sonderrecht entwickelt, in dem der Grundsatz der Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz in weiten Bereichen nicht mehr von Bedeutung ist.

 

Rz. 337

Verbindlichkeitsrückstellungen können folgendermaßen unterschieden werden:

  • nach dem Rechtsgebiet, aus dem sie sich ergeben: Rückstellungen für privatrechtliche und für öffentlich-rechtliche Verpflichtungen;
  • nach dem Rechtsgrund, auf dem die Verpflichtung beruht: Rückstellungen für vertragliche und für gesetzliche Ansprüche; bei Rückstellungen für gesetzliche Ansprüche werden besondere Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme gestellt (vgl. Rz. 369);
  • nach dem Gegenstand der Verpflichtung: Rückstellung für Geldzahlungsverpflichtungen und für Sachleistungsverpflichtungen (einschl. Dienst- und Werkleistungsverpflichtungen); Sachleistungsverpflichtungen unterliegen hinsichtlich der Bewertung besonderen Regelungen (vgl. Rz. 381).
 

Rz. 337a

Die Bildung von Rückstellungen ist regelmäßig verfassungsrechtlich nicht geboten; die Zulässigkeit ihrer Bildung unterliegt daher in weitem Umfang dem gesetzgeberischen Ermessen. Grenze ist nur das Willkürverbot. Rückstellungen basieren auf dem Vorsichts- und Imparitätsprinzip, das in erster Linie dem Schutz der Gläubiger, nicht der Sicherung einer steuergerechten Lastenverteilung aufgrund des Prinzips der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit beruht. Zu berücksichtigen ist auch, dass es bei der Bildung der Rückstellungen nur um das "Wann" der steuerlichen Berücksichtigung der Minderung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit geht, nicht um das "Ob". Die antizipative Berücksichtigung zukünftiger Aufwendungen ist aus der Sicht der Besteuerung der gegenwärtigen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit nicht geboten. Der Zeitpunkt, zu dem wirtschaftliche Belastungen steuerlich zu berücksichtigen sind, lässt sich aus dem Grundsatz der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit nicht ableiten. Die Regelungen über die Bildung oder den Ausschluss von Rückstellungen greifen daher regelmäßig nicht in verfassungsrelevanter Weise in die grundrechtlich geschützte Sphäre des Steuerpflichtigen ein.[3]

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