Leitsatz

Das FA ist zum Erlass eines ergänzenden Haftungsbescheids berechtigt, wenn die Erhöhung der dem ersten Haftungsbescheid zugrunde liegenden LSt-Schuld auf neuen im Rahmen einer Außenprüfung festgestellten Tatsachen beruht. Dass die LSt-Schuld und damit der Haftungsanspruch im Zeitpunkt des Erlasses des ersten Haftungsbescheids bereits materiell-rechtlich entstanden waren, steht einer weiteren Haftungsinanspruchnahme nicht entgegen (Fortentwicklung der Rechtsprechung).

 

Normenkette

§ 34 Abs. 1, § 38, § 69, § 164, § 168, § 191 Abs. 1 AO

 

Sachverhalt

Der Geschäftsführer einer inzwischen insolventen Gesellschaft hatte LSt angemeldet, ohne diese zum Fälligkeitszeitpunkt abzuführen, und später auch die Anmeldungen unterlassen, sodass das FA die abzuführenden LSt schätzte. Es hat mit bestandskräftigem Bescheid den Geschäftsführer als Haftungsschuldner in Anspruch genommen. Später hat sich jedoch bei einer LSt-Außenprüfung ergeben, dass die angemeldeten bzw. geschätzten LSt-Beträge zu gering waren.

Das FA hat deshalb für die hierauf entfallende LSt einen weiteren Haftungsbescheid erlassen. Das FG vertrat die Auffassung, der Haftungsbescheid sei rechtswidrig und daher aufzuheben (FG des Saarlandes, Urteil vom 19.04.2010, 2 K 1557/07, Haufe-Index 2389648, EFG 2011, 213).

 

Entscheidung

Der BFH hat die solchermaßen ergänzte Haftungsinanspruchnahme gebilligt, weil der hierfür maßgebliche Sachverhalt dem FA bei Erlass des ersten Haftungsbescheids nicht bekannt gewesen sei.

 

Hinweis

Ist ein Haftungsschuldner für einen bestimmten Lebenssachverhalt ("Haftungsfall") bereits durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen, darf er grundsätzlich nicht ein weiteres Mal (auf einen höheren Betrag) bzw. durch einen ergänzenden Bescheid in Anspruch genommen werden, es sei denn, es liegen Gründe für die Aufhebung des ersten Bescheides gem. §§ 130, 131 AO vor (vgl. BFH, Urteil vom 25.04.2004, VII R 29/02, BFH/NV 2004, 1430). Entscheidend für die Zulässigkeit eines "zweiten" Haftungsbescheides ist also, ob dieser den gleichen Gegenstand regelt wie der bereits ergangene Haftungsbescheid oder ob die Haftungsinanspruchnahme für verschiedene Sachverhalte oder zu verschiedenen Zeiten entstandene Haftungstatbe­stände erfolgen soll.

Das Besprechungsurteil knüpft an diese Rechtsprechung an, ergänzt allerdings den dort aufgestellten Rechtssatz durch den nur aufgrund des dort entschiedenen Sachverhalts zu gewinnenden Gedanken, eine ergänzende Haftungsinanspruchnahme sei unzulässig, wenn die erste auf einer rechtsirrtümlichen Beurteilung des Sachverhalts beruhe. Von daher ist es dann kein weiter Weg zu dem (neuen!) Rechtssatz, eine ergänzende Haftungsinanspruchnahme sei zulässig, wenn eine Erhöhung der Steuerschuld aufgrund neuer Tatsachen festgestellt wird, welche das FA mangels Kenntnis im ersten Haftungsbescheid nicht berücksichtigen konnte.

Dogmatisch erinnert das freilich stark an § 173 Abs. 1 AO, der indes auf Haftungsbescheide gerade nicht anwendbar ist. Zudem sprengt dieser Rechtssatz, genauer betrachtet, den Rahmen, der durch die Festlegung des Gegenstands eines Haftungsbe­scheids auf den Haftungsfall (so das eingangs genannte Urteil, freilich mit dem wenig systematisch begründeten Vorbehalt bei einer Änderung der Steuerschuld) bezeichnet worden war. Man fragt sich daher, ob es nicht stimmiger wäre, die ohnehin zweifelhafte Ansicht aufzugeben, ein Geldleistungsverwaltungsakt wie ein Haftungsbescheid habe Doppelwirkung, weil er nicht nur eine Geldleistung fordere, sondern zugleich auch regele, dass nicht mehr gefordert werden solle. Das würde jedenfalls den Weg dafür frei machen, Haftungsbescheide an die korrespondierenden Steuerbescheide bzw. Berechnungen ggf. anzupassen, ohne dafür (systemfremde) Verschuldenserwägungen (Rechtsirrtum des FA? Kennenkönnen?) anstellen zu müssen.

 

Link zur Entscheidung

BFH, Urteil vom 15.02.2011 – VII R 66/10

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