Das Vertragsverletzungsverfahren gem. Art. 258 AEUV ist in 3 Stufen gegliedert. Die erste Stufe bildet das Aufforderungs- bzw. Mahnschreiben der EU-Kommission an den jeweiligen Mitgliedstaat. In diesem Mahnschreiben macht die EU-Kommission auf einen aus ihrer Sicht vorliegenden Verstoß gegen den AEUV aufmerksam und fordert den jeweiligen Mitgliedstaat zur Stellungnahme und ggf. Abhilfe auf. Diese Stufe ist ein förmliches Auskunftsverfahren, das vertraulich bleibt und dessen Ergebnisse nicht veröffentlicht werden. Der jeweilige Mitgliedstaat kann auf das Mahnschreiben in zweifacher Weise reagieren: Er kann darlegen, warum die angegriffene Maßnahme aus seiner Sicht nicht gegen das Europarecht verstößt, oder er kann Abhilfe zusichern oder schaffen. Sofern es sich bei der angegriffenen Maßnahme – wie regelmäßig – um eine gesetzliche Regelung handelt, bedeutet dies, dass eine Gesetzesänderung zu erfolgen hat, um Abhilfe zu schaffen. Die bloße Nichtanwendung, z. B. durch ein BMF-Schreiben, gilt regelmäßig nicht als Abhilfe. Die Abhilfe muss die gleiche Form aufweisen wie der Eingriff.

Wird auf der ersten Stufe keine Abhilfe geschaffen und kann der jeweilige Mitgliedstaat die EU-Kommission nicht von der Europarechtskonformität der angegriffenen Maßnahme überzeugen, geht das Vertragsverletzungsverfahren in die zweite Phase. Auf der zweiten Stufe wird eine mit Gründen versehene Stellungnahme der EU-Kommission an den Mitgliedstaat versendet. Darin wird die Europarechtswidrigkeit der Maßnahme begründet. Die Begründung beruht auf den auf der ersten Stufe ausgetauschten Argumenten und Ansichten. Die mit Gründen versehene Stellungnahme wird in Form von Pressemitteilungen der EU-Kommission veröffentlicht und kann von dem Stpfl. eingesehen werden. Diesen Veröffentlichungen kommt eine gewisse Breitenwirkung zu, da daraus – auch wenn im konkreten Fall eine ausl. Maßnahme angegriffen wird – die Ansicht der EU-Kommission zu vergleichbaren inl. Regelungen abgeleitet werden kann. Teilweise werden bestimmte Problembereiche flächendeckend von der EU-Kommission angegriffen. In diesem Fall werden Vertragsverletzungsverfahren gegen mehrere Staaten eingeleitet, die eine vergleichbare Regelung haben. Auch wenn die Auffassung der EU-Kommission dem Stpfl. bekannt ist, kann er daraus für seine eigene Situation keine unmittelbaren Vorteile ziehen. Die fragliche Regelung des nationalen Rechts bleibt anwendbar, insbesondere ist noch keine vorläufige Festsetzung gem. § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AO möglich.

Sofern auch nach Erhalt der begründeten Stellungnahme keine Abhilfe durch den betroffenen Mitgliedstaat erfolgt, kann die dritte Stufe des Vertragsverletzungsverfahrens eingeleitet werden. Die dritte Stufe bedeutet die Anrufung des EuGH. In diesem Verfahren verklagt die EU-Kommission den jeweiligen Mitgliedstaat wegen des Verstoßes gegen den AEUV. Der einzelne Stpfl. ist an diesem Verfahren nicht beteiligt. Mit Urteil des EuGH wird dann endgültig über die Europarechtswidrigkeit bzw. -konformität entschieden. Bis zum Urteil kann die jeweilige Steuerfestsetzung vorläufig gem. § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AO erfolgen.

Der Verstoß gegen den AEUV, der in einem Vertragsverletzungsverfahren gerügt werden kann, kann in jeder Maßnahme eines Mitgliedstaats liegen (Verwaltungshandeln, Gesetzgebung, Rspr.). Regelmäßig wird aber eine gesetzliche Regelung Gegenstand des Verfahrens sein. In der Vergangenheit wurden stets Verstöße gegen die europäischen Grundfreiheiten gerügt. Zuletzt wurde aber auch ein Vertragsverletzungsverfahren wegen Verstoßes gegen das Europäische Beihilfeverbot eingeleitet.[1]

[1] Zur Sanierungsklausel in § 8c Abs. 1a KStG.

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