Rz. 16

Nach der ursprünglichen Intention des Gesetzgebers war ein schutzwürdiges Interesse einer der Vertragsparteien nur dann gegeben, wenn bei Abschluss des Vertrags eine steuerrechtliche Änderung nicht erkennbar war. Da Änderungen des Umsatzsteuerrechts nach der jeweiligen Verabschiedung und Veröffentlichung der Änderungen auch bei der Finanzverwaltung i. d. R. Vorlaufzeiten zur Umsetzung, insbesondere im Voranmeldungsverfahren erfordern, wurde eine Frist für die Anwendung des § 29 UStG auf Verträge beschränkt, die nicht später als vier Monate vor Inkrafttreten des Gesetzes abgeschlossen worden sind; diese Überlegungen waren aber bei der temporären Steuersatzabsenkung für Umsätze vom 1.7. bis 31.12.2020[1] nicht berücksichtigt worden; vgl. Rz. 18a. Die Frist von vier Monaten deckt sich auch mit der Frist nach § 309 Nr. 1 BGB[2] über die Unwirksamkeit kurzfristiger Preiserhöhungen im Bereich der Gestaltung rechtsgeschäftlicher Schutzrechte durch Allgemeine Geschäftsbedingungen.

 

Rz. 17

Die Regelung des § 29 Abs. 1 UStG bezieht sich nach der Formulierung "vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes" auf das UStG 1980, das mWv. 1.1.1980 in Kraft getreten ist.[3]  Folgeänderungen des UStG führen über die Regelung des § 29 Abs. 2 UStG allerdings zu dem selben Rechtsergebnis.

 

Rz. 18

Der Vertrag muss zwischen den Vertragsparteien vor dem jeweiligen Stichtag rechtskräftig abgeschlossen worden sein. Dies bedeutet, dass § 29 Abs. 1 UStG wegen seines Bezugs auf das UStG 1980 nur auf Verträge anzuwenden ist, die vor dem 1.9.1979 abgeschlossen worden sind. Für die temporäre Steuersatzabsenkung für Umsätze, die in der Zeit v. 1.7. bis 31.12.2020 ausgeführt wurden, bedeutet dies, dass Ausgleichsansprüche bei der Absenkung der Steuersätze zum 1.7.2020[4] nach § 29 UStG für Verträge unter den weiteren Voraussetzungen geltend gemacht werden können, die vor dem 1.3.2020 abgeschlossen worden sind. Aus der Wiederanhebung der Umsatzsteuersätze zum 1.1.2021 betrifft das Verträge, die vor dem 1.9.2020 abgeschlossen wurden (bei der letzten regulären Änderung des Regelsteuersatzes von 16 % auf 19 % zum 1.1.2007 betraf das alle Verträge, die vor dem 1.9.2006 abgeschlossen wurden).

 

Rz. 18a

Im Rahmen der Bekämpfung der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie war Anfang Juni 2020 angekündigt worden, die Umsatzsteuersätze temporär für Umsätze abzusenken, die in der Zeit vom 1.7. bis 31.12.2020 ausgeführt wurden. Die Umsetzung erfolgte durch das Zweite Corona-Steuerhilfegesetz am 29.6.2020[5] mWv 1.7.2020. Die bisher als Reaktionszeit für Wirtschaft und Verwaltung angenommenen vier Monate waren damit nicht einmal ansatzweise eingehalten. In solchen Fällen scheint es wenig überzeugend starr an der Frist festzuhalten, da die Vertragsparteien auch bei sorgfältigster Vertragsgestaltung vor Anfang Juni 2020 keine Ahnung über eine kurzfristig bevorstehende Steuersatzänderung haben konnten.[6] Damit muss – zumindest bei der Absenkung der Umsatzsteuersätze zum 1.7.2020 – auch für Verträge, die innerhalb der Viermonatsfrist vor Verkündung der Absenkung abgeschlossen worden sind, unter den weiteren Voraussetzungen ein Anspruch aus § 29 UStG abzuleiten sein. Als Anspruchsgrundlage könnte hier ein Anspruch auf Vertragsanpassung im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung oder nach § 313 BGB dienen[7] oder die Vorschrift wäre teleologisch (und verfassungskonform) zu reduzieren[8], sodass der maßgebliche Stichtag der Verkündung für die Frist relevant wäre.

 

Rz. 19

Die Frage, ob ein Vertrag vor dem Stichtag abgeschlossen worden ist, oder ob er nach dem Stichtag abgeschlossen wurde und damit nicht unter die Regelung des § 29 UStG fällt, bestimmt sich nach zivilrechtlichen Vorschriften der §§ 145ff. BGB. Dazu ist insbesondere erforderlich, dass nicht nur ein verbindliches Vertragsangebot vorliegt, der Leistungsempfänger muss das Vertragsangebot auch angenommen haben. Für Verträge, bei denen zwar ein verbindliches Angebot vor dem Stichtag abgegeben worden ist, der Leistungsempfänger das Vertragsangebot aber erst nach dem Stichtag annimmt, kann ein Ausgleich der Mehr- oder Minderbelastung nicht nach § 29 UStG erfolgen.

 

Rz. 20

Insbesondere bei Werkverträgen im Baugewerbe führt das zeitliche Auseinanderfallen von verbindlichem Angebot des leistenden Unternehmers und Angebotsannahme durch den Leistungsempfänger, verbunden mit einer – oftmals – nicht vorliegenden Vorsteuerabzugsberechtigung nach § 15 UStG beim Leistungsempfänger, zu erheblichen Problemen bei dem leistenden Unternehmer. Hier kann eine wirksame Absicherung der berechtigten Interessen der Vertragsparteien nur über eine privatrechtliche Ausgleichsforderung im Vertrag oder aufgrund von Vertragsbedingungen bei öffentlichen Baumaßnahmen erfolgen.

[2] Bis 31.12.2001 entsprechend in § 11 Abs. 1 AGB-Gesetz geregelt.
[4] Der Regelsteuersatz nach § 12 Abs. 1 UStG wurde von 19 % auf 16 % abgesenkt, § 28 Abs. 1 UStG; der ermäßigte Steuersatz nach § 12 Abs. 2...

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