Rz. 28

Es steht außer Frage, dass die Finanzverwaltung schon seit einiger Zeit nicht mehr in der Lage ist, den Grundsätzen der Gesetzes- und Gleichmäßigkeit der Besteuerung vollumfänglich gerecht zu werden. Die durch die aufwachsenden Fallzahlen und den stetig hinzukommenden sonstigen Aufgaben der Finanzbehörden sich verstärkende sowohl personell als auch sachlich defizitäre Ausstattung der Finanzbehörden schließen eine dem gesetzlichen Auftrag entsprechende Aufgabenerfüllung im steuerlichen Massenverfahren schlichtweg aus. Es ist den Bediensteten in den Finanzämtern schon aus Zeitgründen unmöglich, in jedem Einzelfall die für eine gesetzmäßige Besteuerung erforderlichen Ermittlungen vorzunehmen. Hinzu kommen sich ständig ändernde und an Komplexität kaum noch zu überbietende Steuergesetze, die auch von ausgewiesenen Fachleuten nur noch schwer zu durchdringen sind. Auch hierdurch wird der Ablauf des Besteuerungsverfahrens erheblich beeinträchtigt.

 

Rz. 29

Die Finanzverwaltung hat bisher versucht, sich durch generalisierende und typisierende Besteuerungsgrundsätze den Vorgaben des § 85 AO zumindest anzunähern.[1]

 

Rz. 30

In der jüngeren Vergangenheit ist die Finanzverwaltung dazu übergegangen, im steuerlichen Massenverfahren (d. h. vornehmlich bei Fällen mit Überschusseinkünften) ein bundeseinheitliches maschinelles Risikomanagementsystem einzusetzen, das sich nicht ausschließlich an Umsatz- oder Einkunftskennzahlen, sondern mittels eines elektronischen Datenblatts auch am Vorverhalten des Stpfl. und damit am Kontrollbedürfnis im Einzelfall orientiert.[2] Dieses Risikomanagementsystem ist Bestandteil des ­länderübergreifenden Projekts "Koordinierte neue Software-Entwicklung der Steuerverwaltung – KONSENS". Die Finanzverwaltung befindet sich mit dieser Vorgehensweise auf dem richtigen Weg. Der Entwicklungsprozess ist aber noch längst nicht abgeschlossen.[3] Nachdem durch das Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens[4] die Mindestanforderungen an das Risikomanagementsystem Eingang in das Gesetz gefunden haben, konnte dem Einwand, dass der Einsatz im Widerspruch zum Gesetzmäßigkeitsgrundsatz steht, begegnet werden. Die genaue Austarierung, sprich die Justierung der Filter, sind einer Veröffentlichung nicht zugänglich, damit die Gleichmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit der Besteuerung sichergestellt werden kann. Vergleichbares gilt auch bei der Sichtung, Zuordnung und Auswertung elektronisch beim BZSt aus dem In- und Ausland eingelieferter Besteuerungsmerkmale nach Maßgabe des § 88 Abs. 3 und 4 AO. Einer Regelung durch Beschluss der obersten Finanzbehörden des Bundes und der Länder ist hierbei zugänglich, inwieweit diese Merkmale an die Länder und dort an die Finanzämter weitergeleitet und dort im Rahmen der Besteuerung überprüft und berücksichtigt werden müssen. Abhängig von der Datenqualität der teilweise in anderen Steuersystemen aufgezeichneten Datensätze kann nur äußerst schwer auf die steuerliche Relevanz der Kontrolldaten geschlossen werden. Je mehr allerdings dafür spricht, dass das Merkmal bislang gar nicht in die Besteuerung eingeflossen ist, desto umfangreicher wird man die Bemühungen der Verwaltung erwarten dürfen, für eine Zuordnung der Daten und eine Auswertung zu sorgen.

 

Rz. 31

Aus der personell und sachlich unbefriedigenden Situation wird z. T. der Schluss gezogen, die gegenwärtige Besteuerungspraxis sei verfassungswidrig.[5] Dies trifft m. E. nicht zu. Denn einerseits sind die Ressourcen der Finanzverwaltung – und daran wird sich in absehbarer Zeit auch nichts ändern – sowohl hinsichtlich der Personal- als auch der Sachmittelausstattung knapp bemessen. Andererseits greifen die Finanzbehörden durch ihre Tätigkeit in Freiheitsgrundrechte der Betroffenen ein, weshalb sie im Rahmen der Sachaufklärung stets den – das Gebot der Gesetzmäßigkeit relativierenden – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten haben. Diesem Gedanken wurde nunmehr auch durch die Aufnahme des Wirtschaftsgrundsatzes in den Kanon der Maßgaben aufgenommen, an denen der Amtsermittlungsgrundsatz auszurichten ist.[6]

 

Rz. 32

Laut Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 85 AO Rz. 17ff., dessen Standpunkt uneingeschränkt zu unterstützen ist, hat der Steuervollzug deshalb in einem verfassungsrechtlichen Dreieck zwischen Gesetzmäßigkeit, Rechtsanwendungsgleichheit und den tangierten Freiheitsgrundrechten zu verlaufen. Die Aufgabe der Finanzbehörde besteht darin, unter zielgerichtetem Einsatz ihrer begrenzten Ressourcen zwischen diesen divergierenden Rechtsgütern einen angemessenen Ausgleich zu schaffen.[7] Hierzu ist es in den periodisch wiederkehrenden steuerlichen Massenverfahren erforderlich, die Ermittlungsintensität im Einzelfall grds. an der praktischen Realisierbarkeit des Gesamtvollzugs (d. h. an der Summe aller Fälle) auszurichten. Dieser Leitgedanke führt die Finanzverwaltung ein großes Stück näher an die angestrebte Gleichheit im Belastungserfolg heran. Denn in gleichem Umfang kontroll- oder aufklärungsbedürftige Sachverhalte müsst...

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