Rz. 94

Nach § 55 Abs. 4 S. 1 AO ist eine automatisierte Steuerfestsetzung nur zulässig, soweit kein Anlass für eine Bearbeitung durch einen Amtsträger besteht. Der Begriff des "Anlasses" entzieht sich weitgehend einer exakten Definition. Er kann daher nicht als unbestimmter Rechtsbegriff eingeordnet werden, der durch Auslegung zu konkretisieren wäre. Es handelt sich vielmehr um einen Ermessensbegriff. Die Formulierung ist also so zu verstehen, dass die automatisierte Verarbeitung zulässig ist, solange die Behörde nach ihrem Ermessen keine Notwendigkeit sieht, den Steuerfall durch einen Amtsträger bearbeiten zu lassen.

 

Rz. 95

§ 155 Abs. 4 S. 3 AO enthält ein Regelbeispiel, wann ein Anlass zur Bearbeitung durch einen Amtsträger besteht. Das ist der Fall, wenn der Stpfl. in seiner Steuererklärung freitextliche Angaben nach § 50 Abs. 7 AO macht. In dem entsprechenden Textfeld der Steuererklärung kann der Stpfl. eine nähere Prüfung von Sachverhalts- und Rechtsfragen beantragen, er kann erklären, in der Steuererklärung von der Verwaltungsauffassung abgewichen zu sein, und er kann mitteilen, dass er einen Antrag auf eine Ermessens- bzw. Billigkeitsentscheidung gestellt hat, die Auswirkungen auf die Steuerfestsetzung hat.[1] Dazu gehört auch der Fall, dass der Stpfl. den nach § 93c AO von Dritten übermittelten Daten widerspricht. Diese Fälle sind für eine automatisierte Verarbeitung nicht geeignet. Die Finanzbehörde muss daher in diesen Fällen eine manuelle Bearbeitung durch einen Amtsträger durchführen. Ihr Ermessen ist insoweit auf Null reduziert. Die Behörde ist dadurch gezwungen, die freitextlichen Angaben zur Kenntnis zu nehmen und dadurch dem Stpfl. insoweit rechtliches Gehör nach § 91 AO zu gewähren.[2] Der Stpfl. hat dadurch, dass er freitextliche Angaben in der Steuererklärung macht, praktisch die Möglichkeit, die automatisierte Bearbeitung seines Steuerfalles zu verhindern. Andererseits handelt es sich bei § 155 Abs. 4 S. 3 AO nur um ein Regelbeispiel, also nicht eine abschließende Regelung. Die Finanzbehörde kann auch in anderen Fällen, und damit auf eigene Veranlassung, also nicht auf Veranlassung des Stpfl., bei Vorliegen eines begründeten Anlasses eine manuelle Bearbeitung durchführen. Dazu gehören insbesondere die Fälle der allgemeinen Weisungen zur Ermittlung nach § 88 Abs. 3 AO und die Aussteuerung zur manuellen Bearbeitung aufgrund des Risikomanagementsystems nach § 88 Abs. 5 AO. Neben diesen mehr generalpräventiven Regelungen, die Anlass zu einer manuellen Prüfung geben, kann sich ein solcher Anlass auch im Einzelfall ergeben, etwa bei Vorliegen von Kontrollmitteilungen oder bei sonstiger Kenntnis über besondere Umstände. Ein Anlass zur manuellen Bearbeitung liegt auch vor, wenn von den Angaben in der Steuererklärung abgewichen werden soll; dann ist eine automatische Bearbeitung nicht möglich. In diesen Fällen ist der Grundsatz des rechtlichen Gehörs, § 91 Abs. 1 S. 2 AO, zu beachten.

 

Rz. 96

Ein Anlass für eine Bearbeitung durch einen Amtsträger dürfte regelmäßig auch bei einer Änderung des Steuerbescheids vorliegen. In diesem Bereich dürften sich nur eindeutige Fälle für das automatisierte Verfahren eignen, z. B. wenn der Stpfl. berichtigte Steuererklärungen bei einem nach § 164 AO unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehenden Steuerbescheid abgibt, oder wenn ein erstmaliger oder geänderter Grundlagenbescheid ergeht und der Folgebescheid nach § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO zu ändern ist. Andererseits kann aber z. B. die Prüfung, ob eine Tatsache "neu" ist oder den Stpfl. ein grobes Verschulden trifft, bei § 173 AO nicht automatisiert erfolgen. Gleiches gilt z. B. für die Frage, ob eine "widerstreitende Steuerfestsetzung" nach § 174 AO oder ein rückwirkendes Ereignis nach § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO vorliegt. Nicht für das automatisierte Verfahren eignet sich auch die Anwendung der §§ 176, 177 AO sowie Fälle, in denen die Anwendung der Änderungsnorm in das Ermessen der Behörde gestellt ist.[3]

 

Rz. 97

Liegt ein "Anlass" i. d. S. vor, ist der Steuerfall von einem Amtsträger zu "bearbeiten". Das Gesetz definiert nicht, worin diese "Bearbeitung" zu bestehen hat. Erforderlich ist auf jeden Fall, dass ein Amtsträger den Anlass, der zur Aussteuerung aus dem automatisierten Verfahren geführt hat, zur Kenntnis nimmt und entscheidet, wie der Vorgang weiter zu bearbeiten ist. Diese Entscheidung kann in der Bearbeitung im herkömmlichen Verfahren bestehen, aber auch darin, den Steuerfall, mit oder ohne Änderung der elektronischen Daten, wieder in das automatisierte Verfahren zurückzuführen, weil der "Anlass" sich als nicht so gravierend herausgestellt hat, dass eine manuelle Bearbeitung erforderlich ist.[4]

 

Rz. 98

Rechtlich gesehen hat § 155 Abs. 4 S. 3 AO mehrere Wirkungen. Die Vorschrift autorisiert die Finanzverwaltung einerseits, eine automatisierte Verarbeitung durchzuführen, wenn die Ermessensgrenze hierfür nicht überschritten ist, die Finanzbehörde also im Rahmen ihres Ermessens keinen Anlass für eine Bearbeitun...

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