1 Allgemeines

 

Rz. 1

§ 98 AO ist Ausführungsvorschrift zu § 92 S. 2 Nr. 4 AO. Die Vorschrift des § 99 AO enthält insoweit ergänzende Regelungen, als die Augenscheinseinnahme das Betreten von Grundstücken und Räumen erfordert. § 100 AO (Vorlage von Wertsachen) normiert einen speziellen Fall der Augenscheinseinnahme. Einen besonderen Fall der Augenscheinseinnahme enthält auch § 27b UStG (Umsatzsteuer-Nachschau). Für eine Betriebsbesichtigung im Rahmen einer Außenprüfung gilt die Spezialvorschrift des § 200 Abs. 3 AO.

Als allgemeine Beweismittelvorschrift gilt § 98 AO für das gesamte Besteuerungsverfahren und damit gleichermaßen für das Festsetzungs-, Erhebungs-, Vollstreckungs- und Rechtsbehelfsverfahren.[1] Im Straf- und Bußgeldverfahren gilt die Regelung dagegen nicht.

 

Rz. 2

Die forensische Bedeutung der Vorschrift ist gering.[2]

In der Praxis spielt § 98 AO vor allem in Bewertungsangelegenheiten für Substanz-, Erbschaft- und Bilanzsteuerzwecke eine Rolle. Außerdem erlangt die Vorschrift bei der Ermittlung ungeklärter Vermögenszuwächse, bei der Abgrenzung von Herstellungs- und Erhaltungsaufwand sowie bei der Begutachtung eines häuslichen Arbeitszimmers Bedeutung.[3] Auch die Feststellung eines Kassenbestands ("Kassensturz") erfolgt durch Augenscheinseinnahme.[4] Für eine im Rahmen der Durchführung einer Außenprüfung vorgenommene Betriebsbesichtigung enthält § 200 Abs. 3 AO speziellere Vorschriften. Ebenfalls unter § 98 AO fallen im Rahmen von Betriebsprüfungen vorgenommene Testeinkäufe. Offenbart der Amtsträger hierbei nicht seine dienstliche Eigenschaft, ist dieser Kauf als heimliche Augenscheinseinnahme anzusehen, die unter einen besonderen Erforderlichkeitsvorbehalt gestellt ist.[5] Im Rahmen der Durchführung einer Kassen-Nachschau enthält § 146b AO hierzu die spezielleren Regelungen, soweit die Handlungen während der üblichen Geschäfts- und Arbeitszeiten und auf den Geschäftsgrundstücken, bzw. in den üblichen Geschäftsräumen des Stpfl. stattfinden. Aus Sicht von Gesetzgeber und Verwaltung ist es hier ohne weiteres nicht erforderlich, dass der Amtsträger sich vor dem Kauf ausweist.[6]

In ein anderes rechtlichen Umfeld gestellt und mit einer anderen Zielrichtung versehen sind Durchsuchungen von Wohn- und Geschäftsräumen im Rahmen eines Vollstreckungsverfahrens zum Auffinden verwertbaren Pfändungsguts nach § 287 AO.

 

Rz. 3

Die Augenscheinseinnahme ist Wahrnehmungsbeweis.[7] Sie ist jede unmittelbare Sinneswahrnehmung von Eigenschaften oder dem Zustand einer Sache, einer Person oder von Vorgängen bzw. Geschehensabläufen durch die Finanzbehörde.[8] Sachen sind aber nur dann Objekte des Augenscheins, wenn sie keine Urkunden und damit schriftliche Gedankenerklärungen sind. In diesem Fällen geht die Regelung des § 97 AO vor.[9] Die Wahrnehmung kann abweichend vom Gesetzeswortlaut über alle Sinnesorgane (Augen, Ohren, Nase, Mund und Tastsinn) erfolgen.[10] Auch Tonaufnahmen und elektronische Dokumente sind Objekte des Augenscheins.[11]

Die Einnahme des Augenscheins gibt der Finanzbehörde die Möglichkeit, gegenwärtige Tatsachen selbst wahrzunehmen, während über Tatsachen der Vergangenheit nur Auskunftspersonen berichten können.

[1] Koenig/Haselmann, AO, 4. Aufl. 2021, § 98 Rz. 1; Roser, in Gosch, AO/FGO, § 98 AO Rz. 2.
[2] Zur Einnahme des Augenscheins eines häuslichen Arbeitszimmers vgl. FG Niedersachsen v. 9.3.1993, VII 314/90, EFG 1994, 182; FG Berlin v. 29.7.1985, VIII 90/84, n. v.; FG Berlin v. 3.10.1985, IV 175/84, n. v.; FG Düsseldorf v. 14.10.1992, 5 K 144/90, EFG 1993, 64; vgl. auch Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 92 AO Rz. 4.
[3] Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 98 AO Rz. 2; Schuster, in HHSp, AO/FGO, § 98 AO Rz. 6.
[4] Wenzig, StBp 1991, 149; Koenig/Haselmann, AO, 4. Aufl. 2021, § 98 Rz. 1.
[5] Beimler, StBp 2006, 210; Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 98 AO Rz. 4; Roser, in Gosch, AO/FGO, § 98 AO Rz. 4.
[6] BT-Drs. 18/9535, 22; AEAO zu § 146b, Rz. 4; Kritisch unter Hinweis auf fehlende Ermächtigung zu heimlichen Ermittlungen: Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 98 AO Rz. 4.
[7] Schuster, in HHSp, AO/FGO, § 98 AO Rz. 4.
[8] Helsper, in Koch/Scholtz, AO, 5. Aufl. 1996, § 98 AO Rz. 3; Roser, in Gosch, AO/FGO, § 98 AO Rz. 3.
[9] Koenig/Haselmann, AO, 4. Aufl. 2021, § 98 Rz. 2.
[10] Kopp/Ramsauer, VwVfG, 23. Aufl. 2022, § 26 VwVfG Rz. 37; Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 98 AO Rz. 1; Wenzig, StBp 1991, 149.
[11] Schuster, in HHSp, AO/FGO, § 98 AO Rz. 4.

2 Verfahren

 

Rz. 4

Der Augenschein ist grundsätzlich von der für das konkrete Besteuerungsverfahren örtlich und sachlich zuständigen Finanzbehörde einzunehmen. Es können aber auch andere Behörden im Weg der Amtshilfe[1] hierzu ersucht werden.

 

Rz. 5

Die Anordnung der Augenscheinseinnahme ist ein Verwaltungsakt.[2] Es gelten die allgemeinen Vorschriften der §§ 119, 121, 122 AO. Der Verwaltungsakt kann schriftlich oder mündlich ergehen.[3] Er muss inhaltlich hinreichend bestimmt[4] und grundsätzlich mit einer Begründung versehen sein.[5] Die Finanzbehörde muss in der Anordnung deshalb grundsätzlich das Beweisthema[6]...

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