Rz. 61

Dem FA und dem FG obliegen nach § 88 Abs. 1 AO bzw. § 76 Abs. 1 FGO die Erforschung des Sachverhalts von Amts wegen dahin gehend, ob die Eheleute im Vz dauernd getrennt gelebt haben.[1] Da es sich dabei indes um schwer nachprüfbare innere Vorgänge handelt, die häufig weit zurückliegen, ist die Entscheidung anhand des Gesamtbilds der äußerlich erkennbaren Merkmale zu treffen. Dabei kann einzelnen Umständen besonderes Gewicht zukommen, z. B. einer auf Dauer angelegten räumlichen Trennung, einer fortbestehenden gemeinsamen Haushalts- und Wirtschaftsführung oder dem Zusammenleben eines Ehegatten mit einer anderen Person.[2] Ist der Sachverhalt nicht aufklärbar (sog. non liquet), trifft nach allgemeinen Grundsätzen die Ehegatten die objektive Beweislast (Feststellungslast) für das Vorliegen des nicht dauernden Getrenntlebens, da es sich insoweit um die Voraussetzungen einer für sie günstigen Norm handelt.[3]

 

Rz. 62

Nach R 26 Abs. 1 "Nicht dauernd getrennt lebend" EStR 2012 wird einer auf Dauer herbeigeführten räumlichen Trennung regelmäßig eine besondere Bedeutung zukommen.[4] Es sind i. d. R. die Angaben der Ehegatten, sie lebten nicht dauernd getrennt, anzuerkennen, es sei denn, dass die äußeren Umstände das Bestehen einer ehelichen Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft fraglich erscheinen lassen.[5]

 

Rz. 63

Machen die Eheleute im Scheidungsverfahren und im Besteuerungsverfahren unterschiedliche Angaben über ihr Zusammenleben, ist zu differenzieren: Zum einen decken sich die Tatbestandsmerkmale "getrennt leben" in § 1566 BGB und "dauernd getrennt leben" in § 26 Abs. 1 EStG nicht vollständig. Der Unterschied liegt nicht so sehr in dem in § 26 Abs. 1 EStG hinzugesetzten Wort "dauernd", das in § 1566 BGB durch feste Fristen ersetzt wird, als vielmehr in der unterschiedlichen Funktion beider Normen. In § 1566 BGB ist die Gesamtheit aller die eheliche Lebensgemeinschaft bildenden Umstände entscheidend, während sich § 26 Abs. 1 EStG nur auf die Lebensgemeinschaft in ihren wirtschaftlichen Auswirkungen bezieht (Rz. 54ff.). Widersprüchliches Verhalten liegt daher nur insoweit vor, als über die in beiden Normbereichen gleichermaßen rechtlich relevanten Tatsachen widersprüchliche Angaben gemacht werden. Hier können sich Abgrenzungsprobleme ergeben, da auch die Eheleute bei ihren Angaben für die Besteuerung andere Aspekte für relevant erachten als für die Scheidung[6] oder Aufhebung der Lebenspartnerschaft (§ 15 LPartG). Andererseits schließt ein dauerndes Getrenntleben i. S. d. § 1567 Abs. 1 BGB ein dauerndes Getrenntleben nach § 26 Abs. 1 EStG regelmäßig mit ein.[7]

 

Rz. 64

Geben die Eheleute über Merkmale, die für das Scheidungsverfahren ebenso wie für das Besteuerungsverfahren in gleicher Weise relevant sind, widersprüchliche Erklärungen ab, z. B. über die Dauer des Getrenntlebens, so können die Angaben vor dem Familiengericht Indizwirkung für die Frage des dauernden Getrenntlebens haben.[8] Daraus ergibt sich indes keinesfalls eine Bindung des FA oder des FG an unrichtige Angaben der Eheleute und dementsprechende Feststellungen im Scheidungsverfahren.[9] Dies widerspräche dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung und bedeutete eine gesetzlich nicht vorgesehene Sanktion für moralisches Fehlverhalten. Eine Bindung an falsche Angaben im Scheidungsverfahren stände dem Amtsermittlungsgrundsatz ebenso entgegen wie z. B. die Verweigerung einer Korrektur eines falschen Vortrags vor dem FA im finanzgerichtlichen Verfahren. Auch der Gedanke des Vertrauensschutzes der Finanzverwaltung trägt nicht, weil das FA aufgrund der falschen Angaben vor dem Familiengericht keine Dispositionen trifft. Die Zusammenveranlagung ist deshalb nicht unzulässig, weil die Eheleute zur Erleichterung der Scheidung vor dem Familiengericht behauptet haben, sie lebten getrennt. Der Grundsatz der Unzulässigkeit widersprüchlichen Verhaltens ("venire contra factum proprium") gilt insoweit nicht uneingeschränkt.[10]

 

Rz. 65

Die Bindungswirkung eines Scheidungs-/Aufhebungsbeschlussbeschränkt sich auf den Ausspruch der Scheidung/Aufhebung der Lebenspartnerschaft; die Entscheidungsgründe erwachsen nicht in Rechtskraft. Insoweit ergibt sich keine verfahrensrechtliche Bindung des FA an Feststellungen im Scheidungsurteil.[11] Allein der Umstand, dass das Familiengericht das Getrenntleben nach § 1566 BGB bejaht und aus diesem Grund die Ehe geschieden hat, entheben das FA und das FG daher nicht der vollen Aufklärung des Sachverhalts.

 

Rz. 66

Die Beiziehung der gerichtlichen Scheidungsakten ist ohne Einverständnis der Ehegatten nur bei überwiegendem Interesse der Allgemeinheit unter strikter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zulässig.[12] Im Besteuerungsverfahren dürfte eine solche Situation nicht vorkommen. Aus der Weigerung eines Ehegatten, sein Einverständnis zur Beiziehung der Akten zu erklären, können keine nachteiligen Folgerungen gezogen werden.[13] Bei nicht aufklärbarem Sachverhalt trifft die Eheleute allerdings die Feststellungslast für das n...

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