Rz. 72

Wird die Doppelbesteuerung in einem klassischen System auf der Ebene der Anteilseigner vermindert, kann dies durch eine Reduzierung des für die Dividendeneinkünfte geltenden Steuersatzes bei unveränderter Bemessungsgrundlage (Halbsatzverfahren, z. B. in Österreich) oder durch Verminderung der Bemessungsgrundlage bei unverändert geltendem Steuersatz (Halbeinkünfteverfahren) geschehen. Die Reduzierung der Besteuerung beim Anteilseigner ist so bemessen, dass insgesamt, d. h. unter Berücksichtigung einer als regelmäßiger Standard angenommenen "Vorbelastung" auf der Ebene der Körperschaft, eine angemessene Besteuerung entsteht. In dem in Deutschland ab 2002 geltenden System ist diese Vorbelastung standardisiert zunächst mit 25 % angenommen und später im Teileinkünfteverfahren ab Vz 2008 abgesenkt worden (§ 23 KStG Rz. 4, Rz. 5).

 

Rz. 73

Beide Verfahren wirken gleich; der Unterschied liegt nur in der technischen Durchführung mit Auswirkungen auf Progression und Freibetrag. Verfassungsrechtlich sind daher beide Verfahren gleich zu bewerten.

 

Rz. 74

Eine Sonderform dieser Verfahren besteht darin, die Dividendeneinkünfte beim Anteilseigner vollständig von der Steuer zu befreien. Dann werden die Dividenden nicht nur zur Hälfte, sondern vollständig von der Bemessungsgrundlage ausgenommen; das "Teileinkünfteverfahren" wird zum Null-Einkünfteverfahren.[1] Dieses Verfahren gilt nach § 8b Abs. 1 KStG ab 2002 in Deutschland für Ausschüttungen an Körperschaften als Anteilseigner. § 8b Abs. 1 KStG ist daher systematisch kein Fremdkörper innerhalb eines Systems des Teileinkünfteverfahrens, sondern lediglich eine Sonderform.

 

Rz. 75

Die weitergehendere Lösung, das "Null-Einkünfteverfahren" auch auf natürliche Personen auszudehnen, wird unter sozial-, gesellschafts- und eigentumspolitischen Gesichtspunkten als nicht vertretbar angesehen. Vordergründig betrachtet würde es sich als Privileg bestimmter Kapitaleinkünfte gegenüber anderen Einkünften, insbesondere Einkünften aus nichtselbstständiger Arbeit, darstellen. Aber auch bei näherer Prüfung ist eine unsoziale Wirkung festzustellen. Infolge der progressiven Gestaltung des Einkommensteuertarifs hätten nämlich die Bezieher hoher Einkommen den größten Nutzen von der Steuerbefreiung. Anteilseigner, die aufgrund geringer Einkünfte oder hoher Abzugsbeträge keine ESt zu entrichten haben, gingen leer aus. Das Verfahren würde daher eine Konzentration des Aktienbesitzes in den Händen weniger Aktionäre begünstigen. Es stünde damit im Gegensatz zu dem Bemühen, auch breitere Bevölkerungsschichten an die Aktie heranzuführen.

 

Rz. 76

Nachteilig an Halbeinkünfte- und Halbsatzverfahren ist, dass die Entlastung auf der Ebene der Anteilseigner ohne Rücksicht darauf erfolgt, ob tatsächlich eine Vorbelastung der ausgeschütteten Gewinne auf der Ebene der Körperschaft in der standardisiert angenommenen Höhe vorliegt. Ist eine solche Vorbelastung bei der Körperschaft nicht eingetreten, z. B. bei ausländischen Einkünften, liegt die gesamte steuerliche Belastung dieser Einkünfte unter der für voll besteuerte Einkünfte, verursacht mithin Wettbewerbsverzerrungen.

[1] Da 5 % der Dividenden bzw. Veräußerungsgewinne als nichtabzugsfähige Beteiligungsaufwendungen behandelt werden (§ 8b Abs. 3 bzw. 5 KStG), handelt es sich per Saldo um eine 95-%-Freistellung.

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Steuer Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge