Entscheidungsstichwort (Thema)

Familienbetrachtung i.S. des Art. 60 VO (EG) Nr. 987/2009 im Rahmen des § 64 Abs. 2 EStG nicht zulässig

 

Leitsatz (redaktionell)

1) Maßgeblich für die Frage, wodurch Ansprüche i.S. des Art. 68 der VO (EG) Nr. 883/2004 ausgelöst werden, ist nicht, was die nationalen Rechtsvorschriften (§§ 62 ff. EStG) als Anspruchsvoraussetzungen bestimmen.

2) Vielmehr kommt es darauf an, aufgrund welchen Tatbestands die berechtigte Person den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats nach Art. 11 bis 16 der VO (EG) Nr. 883/2004 unterstellt ist.

3) Anspruchsberechtigt i.S. des § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG können nur solche Personen sein, die selbst die Anspruchsvoraussetzungen gemäß § 62 Abs. 1 EStG erfüllen.

4) Die Fiktion eines inländischen Kindergeldanspruchs des im EU-Ausland wohnhaften Berechtigten über die Verfahrensvorschrift des Art. 60 VO (EG) Nr. 987/2009, wonach im Rahmen einer sog. Familienbetrachtung unterstellt werden könne, dass alle Personen einer Familie unter die Rechtsvorschriften des anspruchsgewährenden Mitgliedsstaats fallen und dort wohnen, ist nicht zulässig.

 

Normenkette

EStG §§ 63-64; VO (EG) Nr. 987/2009 Art. 60; VO (EG) Nr. 883/2004 Art. 67-68; EStG § 62

 

Nachgehend

BFH (Urteil vom 07.07.2016; Aktenzeichen III R 11/13)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger für sein in Belgien lebendes Kind Kindergeld zusteht.

Der Kläger ist ruandischer Staatsbürger und lebt in T-Stadt/Inland. Er ist in Besitz einer unbefristeten Niederlassungserlaubnis und eines Reiseausweises nach dem Abkommen vom 28.7.1951. Seit Mai 2011 ist er bei der Firma J. in T-Stadt/Inland sozialversicherungspflichtig beschäftigt, seit November 2011 unbefristet.

Mit notarieller Urkunde vom 17.10.2011 erkannte der Kläger die Vaterschaft der am xx.10.2011 in C-Stadt (Belgien) geborenen M. an. Die Kindsmutter erhält seit der Geburt Kindergeld in Belgien in Höhe von monatlich 86,77 EUR. Sie ist nach Angaben des Klägers nach der Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses im Juni 2012 derzeit arbeitslos.

Den Kindergeldantrag des Klägers für seine Tochter lehnte die Beklagte ab, da die Mutter das Kind in ihren Haushalt aufgenommen habe. Mit seinem hiergegen eingelegten Einspruch begehrte der Kläger die Zahlung des Unterschiedsbetrages zwischen dem deutschen und dem belgischen Kindergeld. Den Einspruch wies die Beklagte als unbegründet zurück, da die Kindsmutter auch nach EU-Recht die vorrangig Berechtigte sei.

Mit seiner hiergegen erhobenen Klage vertritt der Kläger die Ansicht, dass er sämtliche Voraussetzungen für den Kindergeldbezug erfülle. Die Haushaltsaufnahme des Kindes (§ 64 des Einkommensteuergesetzes, EStG) stelle nur eine Rangfolgeregelung, aber keine Anspruchsvoraussetzung dar.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

die Beklagte unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 5.12.2011 und der Einspruchsentscheidung vom 21.2.2012 zu verpflichten, ihm Kindergeld in Höhe von 97,23 EUR monatlich zu gewähren.

Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt und keine Stellungnahme abgegeben.

Die Beteiligten haben übereinstimmend auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

 

Entscheidungsgründe

Der Senat entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung, FGO).

Der Ablehnungsbescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 101 Satz 1 FGO), soweit die Beklagte die Festsetzung von Kindergeld in Höhe des Differenzbetrages zwischen dem deutschen und dem belgischen Kindergeld abgelehnt hat.

1. Dem Kläger steht für seine leibliche Tochter M. gemäß §§ 62 Abs. 2 Nr. 1, 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 32 Abs. 1 Nr. 1 EStG Kindergeld zu, weil er in Besitz einer Niederlassungserlaubnis ist. Dass die Tochter ihren Wohnsitz nicht in Deutschland hat, steht dem Anspruch nicht entgegen, weil sie in Belgien und damit in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union lebt. Gemäß Art. 67 der Verordnung EG Nr. 883/2004 hat ein Familienangehöriger auch für solche Familienangehörige Anspruch auf Familienleistungen eines Mitgliedstaates, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen. Die Verordnung EG Nr. 883/2004 ist gemäß Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Buchstabe g) anwendbar, da der Kläger Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28.7.1951 ist und in Deutschland wohnt.

2. Der Kläger hat jedoch keinen vollen inländischen Kindergeldanspruch, da der belgische Kindergeldanspruch der Kindsmutter vorrangig ist.

a. Dies folgt daraus, dass sowohl der Anspruch des Klägers als auch derjenige der Kindsmutter durch eine Beschäftigung ausgelöst werden und die Tochter in Belgien wohnt (Art. 68 Abs. 1 Buchstabe b) Ziffer i) der Verordnung EG Nr. 883/2004).

Maßgeblich für die Frage, wodurch die Ansprüche ausgelöst werden, ist nicht, was die anzuwendenden nationalen Rechtsvorschriften als Anspruchsvoraussetzungen bestimmen. Vielmehr kommt es darauf an, aufgrund welchen Tatbestands die berechtigte Person den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedst...

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