Leitsatz

1. Es verstößt gegen die Art. 43 EG und 48 EG, wenn einer Gesellschaft, die nach dem Recht des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet sie ihren satzungsmäßigen Sitz hat, gegründet worden ist, und von der nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats angenommen wird, dass sie ihren tatsächlichen Verwaltungssitz dorthin verlegt hat, in diesem Mitgliedstaat die Rechtsfähigkeit und damit die Parteifähigkeit vor seinen nationalen Gerichten für das Geltendmachen von Ansprüchen aus einem Vertrag mit einer in diesem Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft abgesprochen wird.

2. Macht eine Gesellschaft, die nach dem Recht des Mitgliedstaats gegründet worden ist, in dessen Hoheitsgebiet sie ihren satzungsmäßigen Sitz hat, in einem anderen Mitgliedstaat von ihrem Niederlassungsrecht Gebrauch, so ist dieser andere Mitgliedstaat nach den Art. 43 EG und 48 EG verpflichtet, die Rechtsfähigkeit und damit die Parteifähigkeit zu achten, die diese Gesellschaft nach dem Recht ihres Gründungsstaats besitzt.

 

Normenkette

EG Art. 43 , EG Art. 48

 

Sachverhalt

Die Klägerin, die überseering, ist eine Kapitalgesellschaft niederländischen Rechts (B.V.). Diese erwarb ein Grundstück in Düsseldorf, das sie gewerblich nutzte. Sie schloss mit der NCC GmbH einen Generalübernehmervertrag zur Errichtung von Gebäuden auf diesem Grundstück. Wegen diverser Baumängel verklagte die überseering BV die NCC GmbH auf Schadensersatz.

Das OLG vertrat die Auffassung, dass die überseering BV in Deutschland nicht rechtsfähig und demnach nicht parteifähig sei. Denn aufgrund eines in 1994 erfolgten Erwerbs ihrer Geschäftsanteile durch zwei deutsche Staatsangehörige habe sie ihren tatsächlichen Verwaltungssitz nach Düsseldorf verlegt. Die Klage sei daher unzulässig.

Die überseering BV erhob daraufhin Revision vor den BGH, der das Verfahren aussetzte und an den EuGH ein Vorabentscheidungsersuchen richtete (Beschluss vom 30.3.2000, VII ZR 370/98, IStR 2000, 382). Der BGH neigte zu einer Bestätigung der Sitztheorie. Er war sich aber nicht sicher, ob darin ein Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit des EGV zu sehen sei.

 

Entscheidung

Die Entscheidung Bereits aufgrund der vorangegangenen Schlussanträge des Generalanwalts (vom 4.12.2001, DB 2001, 2642 mit Anm. Eidenmüller) zeichnete sich ab, dass diese Mutmaßung zu bestätigen war. Darüber besteht nunmehr nach Ergehen des EuGH-Urteils Gewissheit. Die Gründe der Entscheidung entnehmen Sie bitte den Praxis-Hinweisen.

 

Hinweis

Das Urteil des EuGH zur Sitztheorie wurde seit langem erwartet. Es hat beträchtliche Auswirkungen, und zwar zunächst für das Gesellschaftsrecht, dem im Ergebnis gewissermaßen ein Eckpfeiler – eben jene Sitztheorie – weggeschlagen wird, nicht minder aber auch für das Steuerrecht, das sich ebenfalls und in vielfacher Weise an dieser Theorie ausgerichtet hat.

1. Hintergrund und Ausgangslage:

a) Im deutschen Recht richtet sich das Personalstatut einer Kapitalgesellschaft bislang nach der Sitztheorie, d.h. nach dem Recht des Staats, in dem sich der Sitz ihrer tatsächlichen Hauptverwaltung befindet. Im Gegensatz dazu stellt die Gründungstheorie für das Gesellschaftsstatut einer Kapitalgesellschaft auf den Ort ihrer Errichtung ab. Bei Anwendung der Gründungstheorie bleibt die Rechtsfähigkeit, die der Kapitalgeselschaft nach ihrem nationalen Recht zusteht, erhalten. Das gilt im Ergebnis auch für die wegziehende Gesellschaft; sie wird nur im Inland nach Wegzug als faktisch aufgelöst angesehen.

Folgt man demgegenüber der Sitztheorie, verliert die Gesellschaft als solche ihre Rechtsfähigkeit, wenn sie ihren tatsächlichen Verwaltungssitz bei fortbestehendem inländischem Satzungssitz in das Ausland verlegt, ebenso wie umgekehrt die ausländische Kapitalgesellschaft bei Verlegung ihres Verwaltungssitzes in das Inland (und Beibehaltung ihres Satzungssitzes im Ausland). Der Verlust der Rechtsfähigkeit wiegt im Einzelfall schwer, zumal dann, wenn er nicht "willentlich", sondern mehr oder weniger unbewusst durch veränderte Gewohnheiten der Geschäftsführung erfolgt. Diese Benachteiligung wird allerdings in weitem Umfang dadurch "neutralisiert", dass die Personengesellschaft, als die die vormalige Kapitalgesellschaft im Inland nach Verlegung des tatsächlichen Sitzes weiterlebt, nach neuerem zivilrechtlichen Verständnis ihrerseits rechtsfähig sein kann (vgl. zuletzt BGH-Urteil vom 1.7.2002, II ZR 380/00, DStR 2002, 1678).

Gleichwohl: Die aufgrund der Sitztheorie nur sehr eingeschränkte Mobilität der Kapitalgesellschaften innerhalb der Europäischen Gemeinschaft und der damit in Zusammenhang stehende Neugründungszwang bei Zuzug ins Inland haben ein Spannungsfeld zur Niederlassungsfreiheit des Gemeinschaftsrechts (Art. 43, 48 EG) entstehen lassen. Bereits durch das Urteil vom 9.3.1999, Rs. C-212/97 "Centros" (Slg. 1999, I-1459) zeichnete sich ab, dass der EuGH nicht länger willens war, Einschränkungen der Niederlassungsfreiheit infolge der Sitztheorie hinzunehmen. Seinerzeit ging es um die Weigerung eines Mitgliedstaats, die Zweign...

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