Beteiligte

Kläger und Revisionskläger

Beklagte und Revisionsbeklagte

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten um die rückwirkende Verzinsung eines Verletztenrentenbetrages, der wegen einer Neuberechnung des Jahresarbeitsverdienstes (JAV) nach § 573 Abs. 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) vom 1. Juni 1966 an neu festgestellt wurde.

Der Kläger studierte Tiermedizin. Zur Finanzierung seines Studiums arbeitete er nebenbei in einer Schreinerei als Hilfsarbeiter. Dabei erlitt er am 1. Oktober 1958 einen Arbeitsunfall, durch den er später den rechten Unterschenkel verlor. Wegen des Verlusts des rechten Unterschenkels mit normalen Stumpfverhältnissen gewährte ihm die damals zuständige Berufsgenossenschaft Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 v.H. und dem JAV eines Hilfsarbeiters in Höhe von 4.336,-- DM. Im Jahre 1965 beendete der Kläger sein Studium der Tiermedizin. Am 1. Juni 1966 wurde ihm die Approbation als Tierarzt erteilt. Seither ist der Kläger vorwiegend an der Tierärztlichen Hochschule Hannover tätig.

Aufgrund eines Gesprächs vom 23. September 1986 zwischen einem Außendienstmitarbeiter der nunmehr als Trägerin der Unfallversicherung zuständigen Beklagten und dem Kläger berechnete die Beklagte schließlich den der Verletztenrente zugrundeliegenden JAV für die Zeit nach der tatsächlichen Beendigung der Berufsausbildung des Klägers neu. Dazu legte sie ab 1. Juni 1966 den JAV eines Tierarztes in Höhe von 18.879, 36 DM (Besoldungsgruppe A 13, 5. Dienstaltersstufe) zugrunde. Während sie für die Zeit vor dem 1. Januar 1982 Verjährung geltend machte, gewährte die Beklagte für die Zeit vom 1. Januar 1982 bis zum 30. September 1987 eine Rentennachzahlung in Höhe von 81.167, 70 DM und zusätzlich Zinsen für die Zeit vom November 1986 bis Februar 1988 in Höhe von 2.517, 20 DM. Einen früheren Zinsbeginn lehnte die Beklagte ab, weil sie in dem Gespräch am 23. Juni 1986 den Leistungsantrag i.S. des § 44 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Erstes Buch (SGB I) sah (angefochtenes Ablehnungsschreiben vom 17. November 1986, Abhilfebescheid vom 17. August 1987 mit Bescheid vom 23. September 1987 über die Verzinsung, weiterer Abhilfebescheid vom 8. März 1988 mit Bescheid über die Verzinsung vom 21. April 1988, Widerspruchsbescheid vom 21. September 1988).

Während das Sozialgericht (SG) Hannover die Beklagte verurteilt hat, dem Kläger ab 1. Februar 1982 aus den ihm gewährten Rentennachzahlungen Zinsen zu zahlen, weil wegen des fehlenden Leistungsantrags ihm ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch zur Seite stehe (Urteil vom 17. April 1990), hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen dieses Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 14. März 1991) : Der Kläger habe vor November 1986 keinen Leistungsantrag i.S. des § 44 Abs. 2 SGB I gestellt und ihm stehe auch insoweit kein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch gegen die Beklagte zu, der diese verpflichten würde, bei der Verzinsung von einem vor dem 1. Januar 1982 gestellten Antrag auszugehen.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts. Mit dem SG ist er der Meinung, auf seine Anfrage vom 31. August 1959, in welchem Sinne sich eine Rentenempfangsberechtigung ändere, wenn er nach bestandenem Staatsexamen seinen Beruf als Tierarzt ausüben würde, hätte die seinerzeit zuständige Berufsgenossenschaft in ihrem Antwortschreiben vom 5. September 1959 darauf hinweisen müssen, daß nach dem voraussichtlichen Ende der Berufsausbildung der JAV neu zu berechnen sei. Dann hätte er umgehend einen entsprechenden Neuberechnungsantrag gestellt. Dementsprechend stehe ihm auch der Zinsanspruch jedenfalls vom 1. Februar 1982 ab zu. Der Gesetzgeber habe zu seinen Lasten bereits den Rentenanspruch im Rahmen der Verjährungsvorschriften bis zum Januar 1982 begrenzt, obwohl ihm eine Neuberechnung und entsprechende Auszahlung bereits ab Juni 1966 zugestanden hätte. Dementsprechend sei es nicht gerechtfertigt, ihm den Zinsanspruch zusätzlich noch bis zum November 1986 zu versagen.

Der Kläger beantragt,

das angefochtene Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das angefochtene Urteil des SG zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie vertritt die Auffassung, das Gesetz habe in § 44 SGB I eine Rechtsgrundlage für Zinsansprüche mit klar normierten Voraussetzungen geschaffen. Damit liege eine abschließende Regelung der Verzinsung von Geldleistungen vor. Eine Regelungslücke, die durch Heranziehung eines richterrechtlich entwickelten Rechtsinstituts geschlossen werden müßte, bestehe nicht. Somit könne der sozialrechtliche Herstellungsanspruch als Anspruchsgrundlage für den Zinsanspruch des Klägers nicht in Frage kommen. Dessen Voraussetzungen seien im übrigen auch nicht erfüllt.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt.

II

Die Revision ist begründet.

Die Beklagte hat die rückständigen Rentenansprüche des Klägers zumindest auch vom 1. Februar 1982 bis zum 31. Oktober 1986 in Höhe des jeweiligen Zahlbetrages mit vier v.H. zu verzinsen. Das hat das SG im Ergebnis zutreffend entschieden.

Ansprüche auf Geldleistungen sind nach Ablauf eines Kalendermonats nach dem Eintritt ihrer Fälligkeit bis zum Ablauf des Kalendermonats vor der Zahlung mit vier v.H. zu verzinsen (§ 44 Abs. 1 SGB I). Gemäß § 44 Abs. 2 SGB I beginnt die Verzinsung allerdings frühestens nach Ablauf von sechs Kalendermonaten nach Eingang des vollständigen Leistungsantrags beim zuständigen Leistungsträger.

Die gesetzliche Unfallversicherung ist dadurch gekennzeichnet, daß in ihrem Bereich - von Ausnahmen abgesehen (s § 586 Abs. 1, § 592 Abs. 1, § 603 Satz 2, § 606 Satz 1, § 611 Abs. 2 RVO) - ein Leistungsanstrag nicht erforderlich ist, die Leistungen werden vielmehr von Amts wegen festgestellt (§ 1545 Abs. 1 Nr. 1 RVO). Trotzdem ist es dem Versicherten unbenommen, dem Unfallversicherungsträger einen Leistungsantrag vorzulegen. Unmittelbarer Zweck des Leistungsantrages ist es, den Versicherungsträger zu verpflichten oder ihm in Bereichen wie dem der Unfallversicherung seine Pflicht vor Augen zu führen, ein Verwaltungsverfahren nach § 8 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB X) einzuleiten (vgl. von Wulffen in Schroeder-Printzen, SGB X, 2. Aufl., § 18 Anm. 3). Leistungsantrag und Verwaltungsverfahren entsprechen einander in dem Zweck, eine vollständige und rechtmäßige Verwaltungsentscheidung über die betreffende Leistung herbeizuführen. Stellt der Verletzte - wie hier - bei dem Träger der gesetzlichen Unfallversicherung einen Antrag auf Verletztenrente, dann beziehen sich alle von Amts wegen zu berücksichtigenden Tatsachen und Faktoren auf den die Verletztenrente als Hauptleistung betreffenden Leistungsantrag, ohne daß es weiterer Leistungsanträge in bezug auf leistungssteigernde Faktoren bedürfte, die der Versicherungsträger von Amts wegen berücksichtigen muß. An einen so umschriebenen Leistungsantrag knüpft die Verzinsungsregelung des § 44 Abs. 2 SGB I an unter der weiteren Voraussetzung, daß dieser Leistungsantrag vollständig ist. Vollständig ist der Leistungsantrag, wenn der Antragsteller dem Leistungsträger mit dem Antrag zugleich alle Tatsachen unterbreitet, die zur Feststellung der Leistung erforderlich sind. Sinngemäß trifft das bei Sozialleistungen, die von Amts wegen festzustellen sind, jedenfalls dann zu, wenn alle Tatsachen, die zur Feststellung der Leistung erforderlich sind, nicht nur vorliegen, sondern auch zur Kenntnis des Leistungsträgers gelangt sind (BSG SozR 1200 § 44 Nrn 3 und 7; BSG vom 23. Juni 1982 - 9b/8 RU 6/81 - in HVGBG RdSchr VB 148/82 = USK 82111; BSG vom 25. August 1982 - 2 RU 17/81 - in USK 82246).

Nach den für das Bundessozialgericht (BSG) gemäß § 163 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG in dem angefochtenen Urteil einschließlich der wegen der Einzelheiten in Bezug genommenen Verwaltungsakten der Beklagten begann das Rentenfeststellungsverfahren zu dem Arbeitsunfall des Klägers im Oktober 1958. Bereits mit der Unfallanzeige des Unternehmers wurde der damals zuständigen Berufsgenossenschaft mitgeteilt, daß der Kläger Student sei und nur aushilfsweise als Hilfsarbeiter die unfallbringende Tätigkeit verrichtet habe. Das legte der Kläger mit seinem Antrag auf vorläufige Zahlung eines Überbrückungsgeldes vom 18. Dezember 1958 näher dar und teilte der Unfallversicherungsträgerin am 18. März 1959 mit, daß er nach der Amputation des unfallgeschädigten Beines sein Studium der Tiermedizin fortsetzen werde. Am 1. Juni 1966 wurde dem Kläger die Approbation als Tierarzt erteilt und spätestens am 2. August 1967 erfuhr die damals zuständige Berufsgenossenschaft davon durch den Durchgangsarztbericht vom 28. Juli 1987 (Bl 241 VA).

Danach ist aufgrund des Arbeitsunfalls vom 1. Oktober 1958 nicht nur von Amts wegen ein Rentenfeststellungsverfahren eingeleitet worden, sondern es hat auch der Kläger deutlich sein Rentenbegehren kundgetan, die ihm zustehende Verletztenrente zu erhalten.

Das ist der entscheidende Leistungsantrag, nach dem sich der Beginn der Verzinsung zu richten hat (§ 44 Abs. 2 SGB I). Der Kläger brauchte nicht noch zusätzlich auszuführen, er beantrage alle ihm zustehenden - und von Amts wegen festzustellenden -Leistungen (BSG Urteil vom 25. August 1982 - 2 RU 17/81 -). Die Verletztenrente war nach altem ebenso wie nach neuem Recht nicht nur nach der MdE (§ 559a RVO a.F. und § 581 RVO i.d.F. des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes vom 30. April 1963 - BGBl. I 241 - nF), sondern auch nach dem JAV zu bemessen (§§ 563ff. RVO aF, 570ff. RVO nF). Hierzu schrieb schon § 565 Abs. 1 RVO a.F. für Verletzte, die sich zur Zeit des Unfalls noch in einer Berufs- und Schulausbildung befanden, vor, von dem Zeitpunkt an, in welchem die begonnene Ausbildung voraussichtlich abgeschlossen gewesen wäre, den JAV nach dem Entgelt zu berechnen, der dann für Personen gleicher Ausbildung durch Tarif oder sonst allgemein für einzelne Berufsjahre festgesetzt ist. § 573 Abs. 1 RVO n.F. hat diese Regelung sinngemäß übernommen. Der neuen Berechnung ist das Entgelt zugrunde zu legen, das in diesem Zeitpunkt für Personen gleicher Ausbildung und gleichen Alters durch Tarif festgesetzt oder sonst ortsüblich ist. Der Versicherungsträger hat diese Neuberechnung von Amts wegen vorzunehmen (vgl. Bereiter-Hahn/Schieke/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, 4. Aufl., § 573 RVO, RdNr 5; Lauterbach/Watermann, Unfallversicherung, 3. Aufl., § 573 RVO Anm. 5 Buchst e).

Dem ist die Beklagte schließlich auf Anregung ihres Außendienstmitarbeiters vom 29. September 1986 mit ihrem endgültigen Abhilfebescheid vom 8. März 1988 nachgekommen. Darin hat sie die Voraussetzungen zur Neuberechnung des JAV ab 1. Juni 1966 anerkannt und den entstandenen sowie fällig gewordenen Rentenansprüchen nur die Verjährung bis zum 31. Dezember 1981 einschließlich entgegengehalten. Entscheidend hierbei ist, daß die Beklagte rechtlich nicht erst aufgrund eines Antrages des Klägers auf Neufeststellung seines Rentenanspruchs tätig werden mußte, sondern pflichtgemäß von Amts wegen. Maßgebend für den Beginn der Verzinsung ist im Neufeststellungsverfahren nicht ohne weiteres der Antrag auf Neufeststellung. Vielmehr ist der ursprüngliche Leistungsantrag immer dann entscheidend, wenn schon früher alle Leistungsvoraussetzungen vorlagen und dem Unfallversicherungsträger bekannt waren (BSG SozR 1200 § 44 Nr. 4). Das ist vorliegend weit mehr als sechs Monate vor dem 1. Februar 1982 der Fall gewesen.

Unter Berücksichtigung der von der Beklagten geltend gemachten Verjährung der Haupt- und Nebenansprüche und der Anträge des Klägers vor dem SG und in den Rechtsmittelinstanzen war das Urteil des LSG somit aufzuheben und die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 193 SGG.2 RU 17/91

BUNDESSOZIALGERICHT

 

Fundstellen

Dokument-Index HI518421

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