Tenor

Zur Fortbildung des Rechts und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung werden dem Großen Senat des Bundessozialgerichts gemäß § 43 des Sozialgerichtsgesetzes folgende Fragen von grundsätzlicher Bedeutung zur Entscheidung vorgelegt:

1) Besteht das rentenversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnis während der Teilnahme des Versicherten an einem – nicht nur kurzfristigen – Arbeitskampf fort?

2) Falls die Frage zu 1) bejaht wird:

Bedeutet es eine Unterbrechung der versicherungspflichtigen Beschäftigung im Sinne von § 1259 Abs. 1 Nr. 3 der Reichsversicherungsordnung, wenn der Versicherte sich nach dem Ende des Arbeitskampfes arbeitslos meldet und Arbeitslosengeld bezieht?

3) Falls die Frage zu 1) verneint wird:

Ist die Arbeitslosigkeit, welche die versicherungspflichtige Beschäftigung unterbricht (§ 1259 Abs. 1 Nr. 3 der Reichsversicherungsordnung), gleichzusetzen mit der Arbeitslosigkeit i. S. der §§ 101, 116 Abs. 2 des Arbeitsförderungsgesetzes (§§ 75, 84 Abs. 2 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung)?

4) Falls die Frage zu 3) verneint wird:

Kann ohne Nachweis im Einzelfall angenommen werden, daß der Versicherte auch während der Teilnahme am Arbeitskampf für den allgemeinen Arbeitsmarkt verfügbar ist?

5) Sind die Wertungen des kollektiven Arbeitskampfrechts als legaler oder illegaler Streik, als legale oder illegale sowie suspendierende oder lösende Aussperrung und das Neutralitätsgebot (die Neutralitätspflicht) im Arbeitskampf für die Beantwortung der Fragen von Bedeutung?

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Monate März und April 1957 als Ausfallzeiten gemäß § 1259 Abs. 1 Nr. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) auf das Altersruhegeld des Klägers anzurechnen sind.

Der am 8. September 1902 geborene Kläger arbeitete bis zum 29. Oktober 1956 als Arbeiter bei den Howaldtswerken in Kiele. Wegen der Teilnahme an dem Metallarbeiterstreik in Schleswig-Holstein arbeitete er vom 30. Oktober 1956 bis 27. Februar 1957 nicht. Am 2. Februar 1957 meldete er sich beim Arbeitsamt arbeitslos und bezog vom 3. März 1957 an Arbeitslosengeld; die Arbeitslosigkeit endete am 13. Mai 1957.

Wegen eines Herzinfarkts bewilligte ihm die Beklagte eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (Bescheid vom 16. Januar 1967). Der Kläger machte gegenüber diesem Bescheid geltend, auf die Rente müsse die Dauer seiner Arbeitslosigkeit im März und April 1957 als Ausfallzeit angerechnet werden. Da er bis zum 29. Oktober 1956 in einem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis bei den Howaldtswerken in Kiel gestanden habe, bestehe ein Zusammenhang zwischen dem letzten Beschäftigungsverhältnis und der Arbeitslosigkeit. Bei einem Streik sei es nicht erforderlich, daß unmittelbar vor Beginn der Arbeitslosigkeit eine versicherungspflichtige Beschäftigung bestanden habe. Auch sei darüber hinaus die Unterbrechung durch Arbeitslosigkeit unmittelbar, da Arbeitslosigkeit nach § 75 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) bestehe, wenn ein Arbeitnehmer, der als solcher berufsmäßig in der Hauptsache tätig zu sein pflege, vorübergehend nicht in einem Beschäftigungsverhältnis stehe und nicht im Betrieb eines Angehörigen mithelfe. Das treffe für die Dauer des Streiks zu. Die Voraussetzungen für die Anrechnung der Arbeitslosigkeit als Ausfallzeit habe er allerdings erst mit der Meldung als Arbeitsuchender und dem Bezug von Arbeitslosengeld ab 3. März 1957 erfüllt, so daß er nur die Anrechnung der Monate März und April 1957 als Ausfallzeiten beanspruche.

Mit Bescheid vom 3. Januar 1968 hat die Beklagte die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit von Amts wegen in ein Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres mit Wirkung vom 1. September 1967 an umgewandelt. Die Klage gegen diesen Bescheid hat das Sozialgericht (SG) mit der Klage vom 16. November 1967 verbunden.

Das SG hat der Klage stattgegeben (Urteil vom 16. September 1968), weil nach seiner Auffassung der Zusammenhang zwischen dem letzten Beschäftigungsverhältnis des Klägers und seiner Arbeitslosigkeit gewahrt geblieben sei. Der Kläger habe sich innerhalb von vier Monaten nach dem Ende des Beschäftigungsverhältnisses arbeitslos gemeldet; die Voraussetzungen der §§ 75, 76 AVAVG zum Bezug von Leistungen vom Arbeitsamt hätten vorgelegen und der Kläger sei in der dazwischenliegenden Überbrückungszeit von vier Monaten keiner sonstigen beruflichen Tätigkeit nachgegangen. Für § 1259 RVO sei es unschädlich, daß zwischen einem Beschäftigungsverhältnis und einer Arbeitslosigkeit die Teilnahme an dem Streik liege. Eine Unterbrechung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung sei auch dann anzunehmen, wenn die sonstigen Voraussetzungen erfüllt seien.

Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten, soweit sie die Berechnung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit betrifft, als unzulässig verworfen, im übrigen aber zurückgewiesen. Es hat die Revision zugelassen (Urteil vom 20. Februar 1970).

Das LSG hat sich für eine extensive Auslegung des Begriffs der „versicherungspflichtigen Beschäftigung” als dem Zweck des § 1259 Abs. 1 Nr. 3 RVO entsprechend ausgesprochen, so daß der Zusammenhang der versicherungspflichtigen Beschäftigung und der Arbeitslosigkeit des Klägers trotz dessen Streikteilnahme erhalten geblieben sei.

Die Beklagte hat gegen dieses Urteil Revision eingelegt; sie rügt eine Verletzung des § 1259 Abs. 1 Nr. 3 RVO.

Die Revision wendet sich dagegen, daß das LSG die Unterbrechung der versicherungspflichtigen Beschäftigung nicht mit der Arbeitsaufgabe eintreten läßt.

Der Kläger hält dem entgegen, jedenfalls sei er, wie aus § 84 Abs. 2 AVAVG zu entnehmen sei, seit Streikausbruch arbeitslos gewesen, wenngleich ohne Anspruch auf Arbeitslosengeld. Nach Streikende habe er sich sogleich arbeitslos gemeldet und Arbeitslosengeld erhalten, so daß die Voraussetzungen des § 1259 Abs. 1 Nr. 3 RVO erfüllt seien.

Die Beteiligten sind vom Senat u. a. auf die Entscheidung in BAG 6, 321 hingewiesen worden, in der das Bundesarbeitsgericht (BAG) den Arbeitskampf, an dem der Kläger teilgenommen hat, als „illegitim” bezeichnet hat.

 

Entscheidungsgründe

II

Der 12. Senat ist der Auffassung, daß die von ihm dem Großen Senat des Bundessozialgerichts (BSG) vorgelegten Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung sind und zur Fortbildung des Rechts und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung die Entscheidung des Großen Senats erfordern (§ 43 des Sozialgerichtsgesetzes –SGG–).

III

Die vom Kläger begehrte Anrechnung der Monate März und April 1957 als Ausfallzeiten (§§ 1258, 1259 Abs. 1 Nr. 3 RVO) auf sein Altersruhegeld – mit der sich daraus ergebenden höheren Rente – hängt davon ab, ob seine „versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit” durch die Teilnahme am Streik oder „durch eine mindestens einen Kalendermonat andauernde Arbeitslosigkeit” (§ 1259 Abs. 1 Nr. 3 RVO) unterbrochen worden ist.

Dabei werden folgende Erwägungen für die Beschlußfassung des Großen Senats von Bedeutung sein können:

1) Arbeiter oder Angestellte, die „gegen Entgelt beschäftigt werden” (§ 165 Abs. 2 RVO) oder „als Arbeitnehmer gegen Entgelt … beschäftigt sind” (§ 1227 Abs. 1 Nr. 1 RVO) oder „als Angestellte … gegen Entgelt … beschäftigt sind” (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes –AVG–) stehen in einem entgeltlichen Beschäftigungsverhältnis. Ein entgeltliches Beschäftigungsverhältnis gibt die Grundlage für ein Sozialversicherungsverhältnis ab, das gemeinhin als öffentlich-rechtliches Versicherungsverhältnis verstanden und kraft Gesetzes zwischen dem Versicherungsträger, dem Versicherten und dem Arbeitgeber begründet wird (vgl. BSG 16, 284, 286; 17, 110, 113; 20, 154, 156; 182; 29, 30, 31). In der ständigen Rechtsprechung des preuß. Oberverwaltungsgerichts (preuß. OVG 27, 345; 29, 334) und später des Reichsversicherungsamts (RVA) ist ein Beschäftigungsverhältnis dann angenommen worden, wenn tatsächlich abhängige Arbeit gegen Entgelt geleistet wurde, wobei die zivilrechtliche (Arbeits-) Vertragsgestaltung außer Acht blieb; Beginn und Ende des Versicherungsverhältnisses und damit der Versicherungspflicht bestimmten sich nur danach, ob die Arbeit bei dem Arbeitgeber tatsächlich aufgenommen oder beendet war (vgl. RVA AN 1916, 737; AN 1931, 70; AN 1932, 405), wobei allerdings eine nur kurzfristige Arbeitsunterbrechung das das Versicherungsverhältnis begründende Beschäftigungsverhältnis nicht berühren, insbesondere nicht beenden sollte (vgl. RVA AN 1916, 791: Werksbeurlaubung bei fortbestehendem Arbeitsvertrag; RVA AN 1932, 405; saisonübliche Arbeitsunterbrechung bei fortbestehender Verfügungsgewalt des Arbeitgebers). Da entscheidend auf das Tatsächliche abgehoben wurde, charakterisierten das Wesen des Beschäftigungsverhältnisses die Dienstbereitschaft des Arbeitnehmers, die Verfügungsmacht des Arbeitgebers gegenüber dem Arbeitnehmer und die Entgeltlichkeit der Beschäftigung (vgl. BSG 1, 115, 118 f; 29, 30, 31).

Der 7. Senat des BSG hatte in einer durch Beschluß vom 15. Juli 1971 aufgegebenen Rechtsprechung die Auffassung vertreten, daß die Teilnahme am Streik die versicherungspflichtige Beschäftigung „unterbrochen” habe (vgl. BSG 1, 115, 122 ff; 2, 164, 174 ff; 11, 79, 81 ff).

2) Diese Rechtsprechung hat mehrfach Kritik erfahren, und zwar u. a. durch:

Bungert, SozSich. 1956, 78;

Dersch, Gutachten, erwähnt in; BSG 11, 79, 81 ff;

Hessel, BB 1956, 598;

Knoll, JZ 1960, 719;

Rindt, Die Sozialversicherung bei Streik und Aussperrung, in: Die Sozialversicherung der Gegenwart, Band 4 (1965), S. 34;

Brox-Rüthers, Arbeitskampfrecht, Ein Handbuch für die Praxis, 1965, S. 242 ff;

Arthur Demuth, Die Einwirkung von Arbeitskämpfen auf das Versicherungsverhältnis der Sozialversicherung, Dissertation, Göttingen, 1969, S. 82 ff, insbesondere S. 91 ff.

Läßt man gewisse Unterschiede in der Kritik beiseite, läuft sie darauf hinaus, beim Arbeitskampf keine endgültige Beendigung der Beschäftigung, sondern lediglich ein zeitweiliges Ruhen anzunehmen, womit insbesondere als unbillig empfundene Unterbrechungen des Versicherungsverhältnisses bei rechtmäßigem (legalen) Streik und unrechtmäßiger (illegaler) Aussperrung vermieden sein sollen (vgl. Brox-Rüthers, aaO., S. 245 f). Bei dieser Auffassung werden notwendigerweise Begriffe und Wertungen des kollektiven Arbeitskampfrechts wie rechtmäßiger (legaler), rechtswidriger (illegaler) Streik, rechtmäßige (legale), rechtswidrige (illegale) Aussperrung, Suspendierung in das Sozialversicherungsrecht übernommen, die in der Rechtsprechung des BAG entwickelt worden sind. (vgl. Frage zu 5)). Damit müßten in der Praxis der Versicherungsträger und der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit auch solche Entwicklungen mitvollzogen werden 9 in denen das BAG seine frühere Rechtsprechung aufgibt, wie z. B. im Falle der Aussperrung (Beschluß des Großen Senats des BAG vom 21. April 1971 – GS 1/68 –, NJW 1971, 1668 = AP Nr. 43 zu Art. 9 GG Arbeitskampf = Sa E 1972, 1; vgl. Besprechungen dazu: Richardi, ZAS 1971, 217; RdA 1971, 334, SaE 1972, 1; Gerhard. Müller, RdA 1971, 321; Gewerkschaftliche Monatshefte 1972, 273; Musa, RdA 1971, 346; Scheuner, RdA 1971, 327; Loeffler, ASP 1971, 397; Reuß, AuR 1972, 353; von Gelder, AuR 1972, 98, 122; Kunze, ZRP 1972, 81; AuR 1969, 289; Saecker, Gewerkschaftliche Monatshefte 1972, 287; Schwegler, Gewerkschaftliche Monatshefte 1972, 299).

Die im kollektiven Arbeitskampfrecht jeweilig von der Rechtsprechung des BAG entwickelten Begriffe und Wertungen wären dann für die sozialversicherungsrechtliche Beurteilung zu übernehmen. Die Feststellung über die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit einer kollektiven Arbeitskampfmaßnahme hätten der Versicherungsträger und im Streitfalle die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit selbst vorzunehmen, wobei letztere mangels einer die Grenze eines Gerichtszweiges überschreitenden und die auf die Prozeßparteien nicht mehr beschränkte Rechtskraftlehre an die rechtskräftigen Urteile der Arbeitsgerichtsbarkeit über die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit von kollektiven Arbeitskampfmaßnahmen nicht grundsätzlich gebunden wären, wenngleich sich anbieten könnte, in der Veröffentlichung der jeweiligen arbeitsgerichtlichen Entscheidung eine offenkundige und daher nicht beweisbedürftige Tatsache (§ 202 SGG iVm § 291 der Zivilprozeßordnung –ZPO–) zu erblicken (vgl. neuestens: KG NJW 1972, 1909). Dabei darf nicht übersehen werden, daß in manchen Fällen über die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit einer kollektiven Arbeitskampfmaßnahme erst nach längerer Zeit zu entscheiden wäre, woraus sich praktische Schwierigkeiten ergeben könnten.

3) In seiner jüngsten Rechtsprechung hat der 3. Senat des BSG (SozR Nr. 67 zu § 165 RVO) unter Hinweis auf die Entwicklung des kollektiven Arbeitskampfrechts in der Rechtsprechung der Arbeitsgerichtsbarkeit unter Abweichung von der früheren Rechtsprechung des BSG (BSG 1, 115; 2, 164, 11, 79; vgl. oben zu 1)) entschieden, daß legale kollektive Arbeitskampfmaßnahmen grundsätzlich nicht das versicherungsrechtliche Beschäftigungsverhältnis der an diesen Maßnahmen beteiligten oder von ihnen betroffenen Arbeitnehmer beenden. Mangels Fortzahlung des Entgelts soll jedoch das auf der versicherungspflichtigen Beschäftigung beruhende Arbeitsverhältnis mit dem Ablauf von 3 Wochen nach Beginn der Arbeitskampfmaßnahmen enden (in derselben Richtung: Bogs, Grundprobleme des Sozialversicherungsrechts, in: Festgabe für Hans Möller zum 65. Geburtstag, 1972, S. 81, hier; S. 90 ff.).

Ob es allerdings der in der obengenannten Entscheidung des 3. Senats ausgesprochenen unterschiedlichen Wirkungen zum Ende des Beschäftigungs- und Versicherungsverhältnisses bedarf und ob die für das Recht der gesetzlichen Krankenversicherung angenommene Beendigung des Versicherungsverhältnisses mit Ablauf von 3 Wochen nach Beginn der Arbeitskampfmaßnahme auch und unverändert für das Recht der gesetzlichen Rentenversicherung übernommen werden kann, erscheint zweifelhaft.

4) Sollte der Große Senat des BSG zu dem Ergebnis gelangen, daß das rentenversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnis wegen der Teilnahme an einem nicht nur kurzfristigen Arbeitskampf nicht fortbesteht (vgl. Fragen zu 1) und 3)), bedarf es der rechtlichen Würdigung der Tatsache, daß der Versicherte während der Dauer der Arbeitskampfmaßnahme regelmäßig keiner Erwerbstätigkeit nachgeht, wenn man einmal davon absieht, daß der Versicherte zu Not- oder Erhaltungsarbeiten im bestreikten Betrieb herangezogen werden kann. Die fehlende Erwerbstätigkeit des Versicherten könnte als Arbeitslosigkeit im weiteren Sinne als bloße Kennzeichnung der tatsächlichen Verhältnisse und daher losgelöst von den Normen des Arbeitsförderungsgesetzes(AFG) (AVAVG) zur Arbeitslosigkeit aufgefaßt werden. Eine andere Betrachtung könnte jedoch die Nichtausübung von Arbeit mit der Arbeitslosigkeit i. S. der §§ 101, 116 Abs. 2 AFG (§§ 75, 84 Abs. 2 AVAVG) gleichsetzen. Insoweit könnte darauf verwiesen worden, daß der Streikende vorübergehend in keinem Beschäftigungsverhältnis steht und daher arbeitslos ist. Dafür könnte § 116 Abs. 2 AFG (§ 84 Abs. 2 AVAVG) sprechen. Dort geht nämlich das Gesetz davon aus, daß „der Arbeitnehmer durch Beteiligung an einem inländischen Arbeitskampf arbeitslos geworden” ist, und folgert aus der Neutralitätspflicht des Staates in Arbeitskämpfen (vgl. unten zu 6)), daß „der Anspruch auf Arbeitslosengeld bis zur Beendigung des Arbeitskampfes” ruht. Aus dieser Sicht wäre im Ausgangsfall das Beschäftigungsverhältnis mit der Beteiligung des Versicherten am Streik „durch Arbeitslosigkeit” unterbrochen worden. Das ist freilich nicht gleichzusetzen mit der – auch vom Kläger nicht begehrten – Anerkennung der Streikzeit als Ausfallzeit i. S. des § 1259 Abs. 1 Nr. 3 RVO. Dafür fehlen nämlich während der Streikzeit die weiteren gesetzlich geforderten Voraussetzungen der Meldung bei einem deutschen Arbeitsamt als Arbeitsuchender und des Bezugs einer der in dieser Vorschrift bezeichneten Leistungen oder der Nichtgewährung einer dieser Leistungen wegen Zusammentreffens mit anderen Bezügen, wegen eines Einkommens oder wegen der Berücksichtigung von Vermögen. Nach dem Streikende wären aber für die Monate März und April alle Voraussetzungen des § 1259 Abs. 1 Nr. 3 RVO wegen der Meldung beim Arbeitsamt und des Leistungsbezugs erfüllt, so daß beide Monate als Ausfallzeiten auf die Rente anzurechnen wären.

5) Unabhängig von der Frage, ob es zulässig oder zweckmäßig ist, für die Auslegung des Begriffs der Arbeitslosigkeit im Sinne der RVO auf Vorschriften des Arbeitslosenversicherungsrechts zurückzugreifen, hat das BSG für die zum Anspruch auf das vorgezogene Altersruhegeld nach § 1248 Abs. 2 RVO führende Arbeitslosigkeit über die Begriffsmerkmale der §§ 101 Abs. 1 AFG, 75 AVAVG hinaus die subjektive und objektive Verfügbarkeit des Versicherten mit der Begründung gefordert, die Vorschrift wolle nur diejenigen älteren Arbeitnehmer begünstigen, die trotz ernsthaften Willens keine Arbeit finden (vgl. BSG 15, 131, 133; 18, 287, 288). Das BSG hat diesen erweiterten Begriff der Arbeitslosigkeit auch bei der Anwendung des § 1259 Abs. 1 Nr. 3 RVO übernommen (SozR Nr. 35 zu § 1259 RVO). Zu prüfen bleibt indes, ob auch im Falle des Streikenden – trotz seiner in den §§ 116 Abs. 2 AFG, 84 Abs. 2 AVAVG unterstellten Verfügbarkeit – zusätzlich und gesondert auf die subjektive Arbeitsbereitschaft abzustellen ist. Bejaht man dies, so ist weiter zu fragen, ob es eines besonderen Nachweises der subjektiven Verfügbarkeit des Versicherten im Einzelfalle bedarf, obwohl auch der Streikende grundsätzlich bereit sein dürfte, seinen Lebensunterhalt wie bisher durch unselbständige Arbeit zu verdienen. Hält man einen besonderen Nachweis der subjektiven Arbeitsbereitschaft im Einzelfall für erforderlich, so dürfte eine unterschiedliche rechtliche Beurteilung zwischen Streikenden und Ausgesperrten nicht zu umgehen sein, weil zumindest der „lösend” Ausgesperrte uneingeschränkt – und zwar auch für seinen ihn aussperrenden Arbeitgeber – arbeiten will.

6) Sollte der Große Senat auch den Streikenden als arbeitslos ansehen, so bleibt abschließend zu prüfen, ob sich das sog. Neutralitätsgebot in Arbeitskämpfen (vgl. BAG 1, 308; Hueck/Nipperdey/Säcker, Lehrbuch des Arbeitsrechts, 7. Aufl., 1970, 2. Band Kollektives Arbeitsrecht, 2. Halbband, S. 927 f; Brox-Rüthers, aaO, S. 45) auf die eigentliche hier nicht streitige Streikzeit – sie ist weder Ersatzzeit (§ 1251 RVO) noch Ausfallzeit (§§ 1258, 1259 RVO) – oder auch auf einen außerhalb der Streikzeit liegenden Zeitraum rechtlich auswirkt.

 

Unterschriften

Dr. Haug, Burger, Dr. Friederichs

 

Fundstellen

Dokument-Index HI928038

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