Leitsatz (amtlich)
1. Die Verwaltung kann die Berichtigung eines Eingangsabgabenbescheides nach § 94 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht mit der Begründung ablehnen, der Steuerpflichtige sei in der Lage gewesen, die Fehlerhaftigkeit des Bescheides in einem Rechtsbehelfsverfahren geltend zu machen, wenn vom Steuerpflichtigen die Anstrengung eines solchen Verfahrens unter Berücksichtigung aller Umstände des Falles billigerweise nicht erwartet werden konnte.
2. Schätzt die Verwaltung den ihr gesetzlich eingeräumten Ermessensrahmen irrtümlich zu eng ein, so liegt ein Ermessensfehlgebrauch in Form der Ermessensunterschreitung vor.
Normenkette
AO § 94 Abs. 1 Nr. 1; StAnpG § 2 Abs. 2
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) führt lautend Textilabfälle, Zellwolle. Garne und dergleichen ein. Ein Teil der Einfuhrgeschäfte wird durch ausländische Firmen, insbesondere die schweizerische Firma Z, vermittelt. Die Firma Z, die in verschiedenen Staaten Tochterfirmen und Vertreter hat, bereitet im Auftrag der Klägerin die Kaufverträge vor und vermittelt deren Abschluß. Die Klägerin zahlt an die Vermittlerfirmen eine Provision. Diese Provision sah die Klägerin zunächst nicht als zum Zollwert gehörend an. Bei einer wertzollrechtlichen Prüfung durch die Betriebsprüfungsstelle Zoll im Jahre 1964 wurde die Nichtberücksichtigung der genannten Provision beanstandet. Die Klägerin erhielt ein Schreiben des Zollamts (ZA) A vom 21. Dezember 1964, in dem ihr mitgeteilt wurde, daß die an die Vermittlerfirmen gezahlten Provisionen zum Zollwert gehörten. Sie wurde aufgefordert, die Provisionen künftig bei allen Einfuhren anzumelden. Für die zurückliegende Zeit wurden von den zuständigen ZÄ die Steuerbescheide durch Einbeziehung der Provisionen in den Zollwert berichtigt.
1971 fand eine weitere Prüfung durch den Betriebsprüfungsdienst Zoll bei der Klägerin statt. Die Prüfer äußerten die Auffassung, daß die von der Klägerin zu zahlenden Einkaufsprovisionen nicht zum Zollwert gehörten. Das ZA A übersandte der Klägerin ein Schreiben, wonach unter Auswertung der bei der Betriebsprüfung gewonnenen Erkenntnisse künftig die Zollwerte ohne Einbeziehung der Einkaufsprovisionen zu errechnen seien.
Mit Schreiben vom 9. Dezember 1971 begehrte die Klägerin vom ZA B die Berichtigung der durch die Betriebsprüfung getroffenen Steuerbescheide. Das ZA lehnte die Berichtigung mit Schreiben vom 6. April 1972 mit der Begründung ab, es bestehe kein Rechtsanspruch auf eine Berichtigung; die Klägerin hätte die Möglichkeit gehabt, ihre Einwendungen gegen die seinerzeit geltende zollwertrechtliche Regelung, daß die an die Firma Z zu zahlende Provision zum Zollwert der eingeführten Ware gehöre, rechtzeitig durch einen Einspruch gegen die einzelnen Steuerbescheide geltend zu machen. Der dagegen eingelegte Einspruch der Klägerin hatte keinen Erfolg.
Mit ihrer Klage begehrte die Klägerin die Aufhebung des Bescheids des ZA B vom 6. April 1972 und der Einspruchsentscheidung des Beklagten und Revisionsbeklagten (HZA) sowie die Verpflichtung des HZA, die in der Anlage des Betriebsprüfungsberichts von 1971 genannten Zollbescheide des ZA B dahin abzuändern, daß die von ihr bei Einfuhrgeschäften bezahlten Provisionen bei den Zollwertfestsetzungen außer Betracht bleiben.
Die Klage halte keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) führte aus: Das HZA habe von seinem Ermessen keinen fehlerhaften Gebrauch gemacht. Die Klägerin hätte die Zollbescheide anfechten müssen, wenn sie die Einbeziehung der Einkaufsprovisionen in den Zollwert hätte verhindern wollen. Sie hätte sich bei Bildung ihrer Rechtsauffassung nicht allein auf den Standpunkt der Verwaltung verlassen dürfen. Auch wenn sie selbst insoweit nicht rechtskundig gewesen sein möge, so wäre doch mit Hilfe eines fachkundigen Beraters eine kritische Beurteilung des Verwaltungsstandpunktes möglich gewesen.
Mit der Revision rügt die Klägerin Verletzung des § 94 Abs. 1 Nr. 1 AO i. V. m. § 2 Abs. 2 StAnpG. Das FG habe die vom Bundesfinanzhof (BFH) zur Frage der Berichtigung rechtskräftiger Steuerbescheide entwickelten Grundsätze verkannt und auf den vorliegenden Fall nicht richtig angewendet.
Die für und gegen die Berichtigung sprechenden Umstände müßten im Einzelfall abgewogen werden, ohne daß die Behörde die Ablehnung allein darauf stützen könne, daß der Steuerpflichtige die Einlegung eines Einspruchs unterlassen habe. Die Auffassung, von der das FG ausgehe, sei gleichheitswidrig und trage weder dem Wortlaut des Gesetzes noch dem Gesetzeszweck Rechnung. Im Streitfall sei die Ungleichbehandlung der Klägerin und des Steuergläubigers durch diese Auslegung des § 94 Abs. 1 Nr. 1 AO besonders offenkundig. Die Vorentscheidung könne aber auch dann keinen Bestand haben, wenn davon ausgegangen werde, daß die Ablehnung von Änderungsanträgen in der Regel nicht ermessensfehlerhaft sei, wenn der Steuerpflichtige in der Lage gewesen sei, seine Rechte im Rechtsbehelfsverfahren geltend zu machen. Die Klägerin sei im vorliegenden Falle nicht in der Lage gewesen, die Fehlerhaftigkeit der ihr erteilten Zollbescheide im Einspruchsverfahren geltend zu machen. Darüber hinaus verstoße die Ablehnung der Berichtigung gegen Treu und Glauben, da die unterlassene Rechtsbehelfseinlegung nicht die Klägerin zu vertreten habe, sondern auf das Verhalten der Zollbehörden zurückzuführen gewesen sei.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.
Steuerbescheide können nach § 94 Abs. 1 Satz 1 AO berichtigt werden, soweit sie Zölle oder Verbrauchsteuern betreffen und materiell falsch sind. Die Berichtigung zugunsten des Steuerpflichtigen liegt im Ermessen der Verwaltung. Lehnt die Verwaltung eine beantragte Berichtigung ab, so kann ihre Entscheidung als Ermessensentscheidung nur daraufhin überprüft werden, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens eingehalten oder ob vom Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist (§ 102 FGO).
Die Ablehnung einer Berichtigung von materiell unrichtigen Bescheiden stellt nach ständiger Rechtsprechung des Senats im Regelfall keinen Ermessensverstoß dar, wenn der Steuerpflichtige in der Lage war, die Fehlerhaftigkeit der Bescheide in einem Rechtsbehelfsverfahren geltend zu machen; durch die Berichtigungsmöglichkeit soll dem Steuerpflichtigen grundsätzlich kein zweiter, an keine Rechtsbehelfsfristen gebundener Rechtsanspruch auf Nachprüfung der Steuerbescheide eingeräumt werden (vgl. Urteil vom 12. März 1974 VII R 135/71, BFHE 112, 233, ZfZ 1974, 342). Dieser Grundsatz gilt jedoch, wie der Senat schon wiederholt entschieden bat, nicht ausnahmslos; es ist möglich, daß unter den besonderen Umständen des Einzelfalles die Ablehnung der Berichtigung unter Hinweis auf die Bestandskraft des Bescheides einen Ermessenfehlgebrauch darstellt (vgl. das Urteil VII R 135/71 mit weiteren Nachweisen).
Die Frage, ob die Bescheide materiell unrichtig waren, kann zunächst dahingestellt bleiben; denn darauf kommt es nicht an, wenn die Ablehnung der Berichtigung durch die Verwaltung sich schon aus anderen Gründen als rechtmäßig erweist. Davon ist auch die Vorentscheidung ausgegangen. Dieser Entscheidung ist jedoch nicht zu folgen.
Der Senat hat zunächst geprüft, ob ein Fall der Ermessensunterschreitung vorliegt, die Ermessensausübung der Verwaltung also deswegen fehlerhaft war, weil sie die Reichweite ihres Ermessens irrtümlich als zu gering beurteilt hat (vgl. Peters, Zur Berichtigung bestandskräftiger Steuerbescheide des Zoll- und Verbrauchsteuerbereichs zugunsten des Beteiligten, ZfZ 1973, 363). Wie sich aus der oben zitierten Rechtsprechung ergibt, gilt der Grundsatz, daß eine Berichtigung nach § 94 Abs. 1 Nr. 1 AO ausscheidet, wenn der Steuerpflichtige in der Lage war, ein Rechtsbehelfsverfahren anzustrengen, nur für den Regelfall. Zur Ermessensausübung der Verwaltung gehört also auch die Prüfung der Frage, ob ein Ausnahmefall vorliegt, der ein Abweichen von der Regel erfordert. Nimmt die Verwaltung diese Prüfung nicht vor und fühlt sie sich an den obengenannten – nur für den Regelfall gültigen – Grundsatz starr gebunden, so unterschreitet sie ihr Ermessen, übt es also fehlerhaft aus.
Bei der Prüfung dieser Frage muß freilich berücksichtigt werden, daß die Verwaltung nicht verpflichtet ist, in der Begründung ihrer Ermessensentscheidung alle Erwägungen darzulegen, die sie ihrer Entscheidung zugrunde gelegt hat. Aus der Tatsache allein, daß die Verwaltung in ihrer Entscheidung nichts darüber gesagt hat, ob sie einen Ausnahmefall für gegeben erachtet hat, kann also noch nicht ohne weiteres auf eine Ermessensunterschreitung geschlossen werden. Die Gründe der Verwaltungsentscheidung oder sonstige Umstände müssen vielmehr deutlich ergeben, daß die Verwaltung ihren Ermessensrahmen zu eng eingeschätzt und entsprechend entschieden hat. So liegt der Fall hier nicht. Insbesondere der Hinweis in der Einspruchsentscheidung auf den Aufsatz von Prugger (Berichtigung von Eingangsabgabenbescheiden zugunsten des Steuerpflichtigen, Der Betriebs-Berater 1969 S. 352 – BB 1969, 352–) – der im einzelnen auf die Rechtsprechung des Senats auch zu den Ausnahmefällen eingeht – läßt darauf schließen, daß die Verwaltung diese Frage nicht übergangen, aber einen Ausnahmefall nicht für gegeben erachtet hat.
Die Vorentscheidung und die Verwaltung sind jedoch zu Unrecht davon ausgegangen, daß hier ein solcher Ausnahmefall nicht gegeben sei. Bei einer Entscheidung, die nach Billigkeit und Zweckmäßigkeit zu treffen ist (§ 2 Abs. 2 StAnpG), kann nicht allein darauf abgestellt werden, ob der Steuerpflichtige objektiv nicht in der Lage war, die Fehlerhaftigkeit der Bescheide in einem Rechtsbehelfsverfahren geltend zu machen. Das ist bereits der bisherigen Rechtsprechung des erkennenden Senats zu entnehmen. Der Senat hat im Ergebnis immer dann das Vorliegen eines Ausnahmefalles angenommen, wenn vom Steuerpflichtigen unter Berücksichtigung aller Umstände des Falles billigerweise nicht erwartet werden konnte, daß er sich im Rechtsbehelfsverfahren gegen die fraglichen Bescheide wehrte, sei es, daß es wegen fehlender Kenntnis von einem Sachmangel keinen Hinspruch eingelegt hatte (vgl. Urteil VII R 36/66 BFHE 94, 312, ZfZ 1969, 113), sei es, daß er im Hinblick auf eine von ihm beantragte verbindliche Zolltarifauskunft nicht sämtliche die Tarifierungsfrage betreffenden Bescheide angefochten hatte (Urteil vom 15. Oktober 1968 VII 40/65, BFHE 94, 41, HFR 1969, 83), sei es, daß sich der Steuerpflichtige bei Serieneinfuhren nur gegen einen Teil der Bescheide im Rechtsbehelfsverfahren gewandt hatte (Urteil vom 21. November 1968 VII 3/65, BFHE 94, 306, ZfZ 1969, 116, HFR 1969, 143).
Die Umstände des hier zu beurteilenden Sachverhalts liegen so, daß die Ablehnung der Berichtigung der in den Jahren 1970 und 1971 ergangenen Eingangsabgabenbescheide ermessensfehlerhaft war, falls die Bescheide unrichtig waren. Die Verwaltung hat nach Durchführung einer Betriebsprüfung im Jahre 1964 ausdrücklich entschieden, daß die fraglichen Provisionen in den Zollwert einzubeziehen seien. Sie hat damals die zurückliegenden, noch nicht rechtskräftigen Bescheide entsprechend berichtigt und der Klägerin zur Auflage gemacht, die Provision künftig in der Zollwertanmeldung anzugeben. In den folgenden Jahren hat die Verwaltung stets die Provision in den Zollwert eingerechnet. Sie hat also nach einer Betriebsprüfung, bei der – wie unterstellt werden muß – eine eingehende Prüfung der Rechtslage stattgefunden hat, nachhaltig und langfristig eine bestimmte Rechtsauffassung hinsichtlich der wertzollrechtlichen Behandlung der Provisionen vertreten. Diese Rechtsauffassung stimmte überdies überein mit zwei höchstrichterlichen Urteilen zur Frage der zollwertrechtlichen Behandlung von Einkaufsprovisionen (BFH-Urteile vom 10. Dezember 1959 VII 76/58 S, BFHE 70, 109, BStBl III 1960, 41, BZBl 1960, 122, und vom 19. Oktober 1960 VII 40/60 S, BFHE 71, 677, BStBl III 1960, 501, BZBl 1961, 105). Unter diesen Umständen konnte von der Klägerin billigerweise nicht erwartet werden, daß sie sich dagegen im Rechtsbehelfsverfahren wandte.
Es stellte eine Überspannung der Anforderungen, die an die Klägerin zu stellen sind, dar, wenn man annehmen wollte, daß sie von dem Zeitpunkt an, zu dem die Verordnung (EWG) Nr. 803/68 des Rates vom 27. Juni 1968 über den Zollwert der Waren – ZWVO – (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften – ABlEG – Nr. L 148/6 vom 28. Juni 1968) in Kraft trat, oder wenigstens dem Zeitpunkt, zu dem sie verpflichtet war, die Angaben über den Zollwert selbstverantwortlich zu machen (Verordnung [EWG] Nr. 375/69 – VO [EWG] 375/69 – der Kommission über die Anmeldung der Angaben über den Zollwert der Waren vom 27. Februar 1969, ABlEG Nr. L 52/10 vom 3. März 1969, die nach ihrem Art. 6 am 1. Juli 1969 in Kraft getreten ist), verpflichtet war, die Rechtsfrage erneut zu prüfen und wenigstens jetzt gegen die Auffassung der Verwaltung im Rechtsbehelfsverfahren vorzugehen. Denn für die fragliche Rechtsfrage waren erkennbare materielle Rechtsänderungen durch das Inkrafttreten der Zollwertverordnung nicht eingetreten, und die VO (EWG) 375/69, die lediglich formelle Regelungen für die Abgabe der Zollwertanmeldung brachte, brauchte für die Klägerin kein Anlaß zu sein, eine Rechtsfrage wieder aufzuwerfen, welche die Verwaltung 1964 entsprechend der höchstrichterlichen Rechtsprechung in so nachhaltiger Weise zu ihren, der Klägerin, Ungunsten entschieden hatte. Das muß um so mehr gelten, als mehrere Zollstellen jahrelang entsprechend verfahren und die Rechtsänderungen durch das Recht der Europäischen Gemeinschaften (EG) ebenfalls nicht zum Anlaß nahmen, die Frage erneut zu prüfen.
Fehl geht die Auffassung des HZA, eine Berichtigung zugunsten der Klägerin müsse deswegen ausscheiden, weil dies zu einer Benachteiligung jener Steuerpflichtigen führen würde, bei denen eine Betriebsprüfung nicht durchgeführt worden sei. Verglichen mit diesen Steuerpflichtigen wäre zwar die Klägerin in der Tat bessergestellt. Verglichen aber mit den Steuerpflichtigen, bei denen die Verwaltung bereits von vornherein im Einklang mit dem materiellen Recht die Einkaufsprovisionen nicht zollwerterhöhend berücksichtigt hatte, wäre die Klägerin durch die Nichtberichtigung schlechtergestellt. Das Argument der Gleichbehandlung kann also sowohl für als auch gegen die Berichtigung ins Feld geführt werden. Es muß daher hier außer Betracht bleiben.
Nach allem ist davon auszugehen, daß die Verwaltung bei der Ablehnung der Berichtigung nicht ermessensfehlerfrei gehandelt hat, falls die Bescheide materiell falsch waren. Zu dieser letzten Frage – die eine Rechtsfrage trotz des Umstandes ist, daß die Beteiligten übereinstimmend die Bescheide für falsch halten – hat das FG, von seinem Rechtsstandpunkt aus zu Recht, nicht Stellung genommen. Der erkennende Senat sieht davon ab, diese Frage selbst zu entscheiden. Dadurch würde den Parteien in einer Rechtsfrage, zu der Stellung zu nehmen sie bisher keinen Anlaß hatten und die unter Umständen eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften nach Art. 177 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft notwendig macht, eine Instanz genommen. Außerdem reichen die Feststellungen des FG für eine Entscheidung dieser Frage nicht aus.
Fundstellen
Haufe-Index 510627 |
BFHE 1977, 2 |