Leitsatz (amtlich)

1. Einer am eröffneten Insolvenzverfahren nicht beteiligten Person kann Einsicht in die vom Insolvenzgericht geführte Verfahrensakte ohne Einwilligung der Verfahrensbeteiligten nur gestattet werden, wenn ein rechtliches Interesse dargelegt und glaubhaft gemacht ist.

2. Abzuwägen ist bei der Entscheidung über das Einsichtsgesuch des Dritten das Interesse der Verfahrensbeteiligten an der Geheimhaltung des Verfahrensstoffs mit dem gegenläufigen, gleichfalls geschützten Informationsinteresse des Dritten.

3. Diese Abwägung ist unter Würdigung der konkreten Umstände des Einzelfalls vorzunehmen.

4. Bei der Ermessensausübung sind mit Blick auf das zu beachtende Verhältnismäßigkeitsprinzip die Geeignetheit der begehrten Einsicht zur Verfolgung des rechtlichen Interesses, deren Erforderlichkeit sowie die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne zu berücksichtigen.

5. Erfordert es die Verfolgung des rechtlichen Interesses nicht, Einsicht in die gesamte Akte zu nehmen, so kommt die Gewährung von Einsicht in Aktenteile in Betracht, außerdem die Schwärzung sensibler Informationen.

6. Gemäß dem Gebot der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne sind umso höhere Anforderungen an das Gewicht des Einsichtsinteresses zu stellen, je größer das Schutzbedürfnis der Beteiligten ist; umgekehrt gilt das Entsprechende.

7. Eine ermessensfehlerfreie Interessenabwägung setzt voraus, dass den Betroffenen im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren zunächst Gelegenheit gegeben wird, ihre Geheimhaltungsinteressen geltend zu machen.

8. Mit der Entscheidung über das Einsichtsgesuch eines nicht am Verfahren beteiligten Dritten erfüllt die Justizbehörde eine ihr nach § 299 Abs. 2 ZPO obliegende Aufgabe in Ausübung hoheitlicher Befugnisse, Art. 4 Abs. 1 BayDSG, Art. 2 Satz 1 BayDSG i. V. m. Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 Buchst. e), Abs. 3 UAbs. 1 Buchst. b) DS-GVO.

 

Verfahrensgang

AG München (Aktenzeichen 1500 IN 1567/17)

 

Tenor

I. Der Bescheid des Amtsgerichts München vom 22. April 2021 wird aufgehoben.

II. Der Antragsgegner wird angewiesen, den Antrag der Antragstellerin vom 11. Februar 2021 auf Bewilligung von Einsicht in die Akte des Amtsgerichts München betreffend das Insolvenzverfahren mit dem Az. 1500 IN 1567/17 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu bescheiden.

III. Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.

IV. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.

 

Gründe

I. Beim Amtsgericht München wird aufgrund eines Eigenantrags vom 26. Mai 2017 ein Insolvenzverfahren über das Vermögen der A. GmbH (nachfolgend: Schuldnerin) geführt. Die Schuldnerin war im Bereich des Direktvertriebs von Versicherungen und Finanzanlagen tätig und unterhielt mit diversen Versicherungs- und Kapitalgesellschaften Vertriebsvereinbarungen sowie Verträge mit Außendienst-Vertriebspartnern, die den Produktabsatz bei den Endkunden besorgten. Sie schloss mit der Antragstellerin, einer Aktiengesellschaft, die ihrerseits Finanzanlagen vertreibt, am 1. April 2017 einen so bezeichneten Dienstleistungs- und Portfoliobetreuungsvertrag und am 22. April 2017 einen Vertrag, mit dem die Schuldnerin ihr Stornoreserveguthaben bei der Investmentgate GmbH & Co. KG auf die Antragstellerin überträgt im Gegenzug gegen die Übernahme der (wörtlich) "Verbindlichkeiten aus den Verbindlichkeiten der A-FIN aus den Sicherheitseinbehalten (Stornoreserve) ... gegenüber den Außendienst-Vertriebspartnern aus dem Investmentgate-Vertrieb zum Stichtag 01.04.2017". Die im Wege der Forderungsabtretung übertragenen Sicherheitseinbehalte wurden mit 388.155,40 EUR beziffert, die übernommenen Verbindlichkeiten aus den Sicherheitseinbehalten mit 390.763,32 EUR angegeben. Die Zustimmung der Außendienst-Vertriebspartner der Schuldnerin zur Schuldübernahme sollte eingeholt werden.

Der Insolvenzverwalter über das Vermögen der Schuldnerin erhob unter dem 30. Dezember 2020 beim Landgericht München I Klage gegen die hiesige Antragstellerin, mit der er beantragt, diese zu verurteilen, die mit der Vereinbarung vom 22. April 2017 abgetretenen Forderungen in Höhe von 388.155,40 EUR an den Kläger (Insolvenzverwalter) abzutreten, hilfsweise, die Antragstellerin zur Zahlung von 388.155,40 EUR nebst Rechtshängigkeitszinsen zu verurteilen. Er hält die Übertragung der Ansprüche aus den Stornoreserven auf die Antragstellerin für gläubigerbenachteiligend und anfechtbar nach § 134 InsO sowie § 133 Abs. 1 InsO. Es lägen Anhaltspunkte dafür für, dass bei der betroffenen Vertriebspartnerin nur in sehr geringem Umfang Stornierungen der vermittelten Verträge mit entsprechendem Rückgriff auf die Stornoreserve erfolgt seien und deshalb die Gegenleistung für die Forderungsübertragung nicht werthaltig sei. Aus den von der Antragstellerin vorgelegten Dokumenten lasse sich die angebliche Werthaltigkeit nicht nachvollziehen; was tatsächlich Gegenleistung für die Übertragung der Stornoreserve gewesen sei, lasse sich aufgrund divergierender Angaben der befragten Geschäftsführer nicht festste...

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