Rz. 10

Über das Vorliegen der objektiven und subjektiven Voraussetzungen der Steuerhinterziehung und der leichtfertigen Steuerverkürzung sowie der Täterschaft oder Beteiligung der unter §§ 34, 35 AO fallenden Person entscheidet die für den Erlass des Haftungsbescheids zuständige Finanzbehörde.[1] Da die Haftungsvorschrift steuerlicher Art ist, muss das Delikt nicht geahndet sein, eine Bestrafung oder Bußgeldfestsetzung ist also nicht erforderlich. Für die Ermittlungen gelten ebenso wie bei § 235 AO die steuerlichen, nicht die strafverfahrensrechtlichen Regeln. Es besteht also eine Ermittlungspflicht der Finanzbehörde. Sie betrifft für die Steuerhinterziehung bzw. die leichtfertige Steuerverkürzung das Vorliegen der objektiven und subjektiven Voraussetzungen. Im Fall der Schätzung der Steuer gelten hinsichtlich der Voraussetzungen für den Haftungstatbestand strengere Voraussetzungen als die für die Schätzung selbst. Das Finanzamt (ggf. auch das FG) muss in einem strengeren Maßstab von dem Vorliegen der Verkürzung überzeugt sein.[2] Zwar gilt hier nicht der strafrechtliche Grundsatz "in dubio pro reo", aber eine strengere Feststellungslast.[3] Die Ermittlungen der Finanzbehörde werden dadurch erschwert, dass die Rspr. das Rechtsinstitut der fortgesetzten Tat bei Steuerhinterziehungen aufgegeben hat.[4] Jede einzelne Tat muss nun ermittelt und mit ihren Folgen festgestellt werden.

Eine Bindungswirkung aus strafrechtlichen Entscheidungen besteht nicht, weder bei Verurteilung noch bei Einstellung oder Freispruch.[5] Entsprechendes gilt für die Entscheidungen im Bußgeldverfahren. M. E. ist bei einem Freispruch bzw. der Aufhebung des Bußgeldbescheids nur unter bestimmten Voraussetzungen das Treffen von Billigkeitsmaßnahmen hinsichtlich der Haftung angebracht.

Die für den Haftungsbescheid zuständige Behörde ist entgegen Loose, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 70 AO Rz. 12 nicht an die tatsächlichen und rechtlichen Feststellungen ihrer eigenen Strafsachenstelle gebunden. Die Konstruktion über eine angebliche Behördenidentität für Veranlagung und Strafsachen (diese ist wegen der Anwendung des § 387 Abs. 2 AO fast nie gegeben) ist hierfür nicht tragfähig. Die für die Haftungssachen zuständige Finanzbehörde ist dadurch allerdings nicht gehindert, sich die im Strafurteil oder Bußgeldbescheid enthaltenen und ihr zutreffend erscheinenden tatsächlichen Feststellungen, Beweiswürdigungen und rechtlichen Beurteilungen zu eigen zu machen.[6]

Die Feststellungslast hinsichtlich aller Tatbestandsmerkmale für die Haftung trägt die Finanzbehörde. Das gilt also auch für diejenigen der einzelnen Steuerhinterziehungen und leichtfertigen Steuerverkürzungen.[7]

[3] BFH v. 5.3.1979, GrS 5/77, BStBl II 1979, 570; mit missverständlichem Leitsatz BFH v. 14.8.1991, X R 86/88, BStBl II 1992, 128; a. A. Loose, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 70 AO Rz. 10.
[4] BGH v. 20.6.1994, 5 StR 595/93, MDR 1994, 1136 i. V. m. BGH v. 3.5.1994, GSSt 2, 3/93, MDR 1994, 700.
[5] Schwarz, in Schwarz/Pahlke, AO/FGO, § 71 AO Rz. 7; BFH v. 13.6.1973, VII R 58/71, BStBl II 1973, 666; ebenso jetzt Loose, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 70 AO Rz. 13.

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