Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzlicher Richter: Vorlagepflicht an den EuGH. Bestandsdurchbrechung gemeinschaftsrechtswidriger Verwaltungsakte
Leitsatz (redaktionell)
1. Das Recht auf den gesetzlichen Richter ist verletzt, wenn ein nationales Gericht seiner Pflicht zur Anrufung des Europäischen Gerichtshofs im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 234 EG nicht nachkommt, wobei das BVerfG die Auslegung und Anwendung von Zuständigkeitsnormen nur beanstandet, wenn sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen und offensichtlich unhaltbar sind; dazu hat es Fallgruppen entwickelt.
2. Das Unterlassen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 234 Abs. 3 EG zu der Frage, ob die Änderung bestandskräftiger Umsatzsteuerfestsetzungen für Betreiber von Geldspielautomaten durch Gemeinschaftsrecht geboten ist, überschreitet nicht den o.g. verfassungsrechtlichen Beurteilungsrahmen, obwohl der EuGH die Fragen zur Durchbrechung der Bestandskraft gemeinschaftsrechtswidriger, belastender Verwaltungsakte der Mitgliedstaaten noch nicht erschöpfend beantwortet hat.
3. Es ist vertretbar anzunehmen, dass die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Ciola (vgl. EuGH, 29.04.1999, C-224/97, EuGHE I 1999, 2517) keine verallgemeinerungsfähigen Aussagen über die Unanwendbarkeit gemeinschaftsrechtswidriger Verwaltungsakte enthält, sondern maßgeblich auf der Besonderheit des Beitritts Österreichs zur Europäischen Union beruht und demgemäß vertretbar, einen generellen gemeinschaftsrechtlichen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verwaltungsverfahrens nach Feststellung eines Verstoßes gegen Gemeinschaftsrecht abzulehnen.
Normenkette
GG Art. 101 Abs. 1 S. 2; AO § 355 Abs. 1; EG Art. 10, 234 Abs. 3; EWGRL 388/77 Art. 13 Teil B Buchst. f; UStG 1993 § 4 Nr. 9 Buchst. b
Verfahrensgang
Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine unterbliebene Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (Europäischer Gerichtshof) hinsichtlich der Auslegung europäischen Gemeinschaftsrechts zur Frage der Bestandskraft gemeinschaftsrechtswidriger belastender Verwaltungsakte.
I.
Die Beschwerdeführerin betreibt gewerblich Geldspielgeräte mit Gewinnmöglichkeit und Unterhaltungsautomaten. Im Jahr 1993 zahlte sie entsprechend der Festsetzung des zuständigen Finanzamts Steuern auf ihre Umsätze aus diesem Geschäft.
Mehrere Jahre später entschied der Europäische Gerichtshof, Art. 13 Teil B Buchstabe f der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern (Sechste Umsatzsteuerrichtlinie; ABl 1977 L 145/1) sei dahin auszulegen, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehe, wonach die Veranstaltung oder der Betrieb von Glücksspielen oder Glücksspielgeräten aller Art in zugelassenen öffentlichen Spielbanken steuerfrei sei, während diese Steuerbefreiung für die Ausübung der gleichen Tätigkeit durch Wirtschaftsteilnehmer, die nicht Spielbankbetreiber seien, nicht gelte. Art. 13 Teil B Buchstabe f der Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie habe unmittelbare Wirkung in dem Sinne, dass sich ein Veranstalter oder Betreiber von Glücksspielen oder Glücksspielgeräten vor den nationalen Gerichten darauf berufen könne, um die Anwendung mit dieser Bestimmung unvereinbarer innerstaatlicher Rechtsvorschriften zu verhindern (EuGH, Urteil vom 17. Februar 2005, Verb. Rs. C-453/02 und C-462/02 – Linneweber –, Slg. 2005, S. I-1131, Rn. 30, 38).
Die Beschwerdeführerin nahm dieses Urteil zum Anlass, gegen den Umsatzsteuerbescheid für 1993 im März 2005 Einspruch einzulegen und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu beantragen. Das Finanzamt verwarf den Einspruch wegen Verfristung als unzulässig und lehnte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ab. Die gegen diesen Bescheid gerichtete Klage der Beschwerdeführerin wies das Finanzgericht ab.
Mit ihrer gegen dieses Urteil eingelegten Revision rügte die Beschwerdeführerin eine Verletzung des gemeinschaftsrechtlichen Effektivitätsprinzips und regte an, eine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs zu der Frage einzuholen, ob Art. 10 EG im Fall einer nicht ordnungsgemäß umgesetzten Richtlinie einer einmonatigen Frist des nationalen Rechts zur Anfechtung gemeinschaftsrechtswidriger Verwaltungsakte oder zumindest deren Vollzug entgegenstehe.
Mit Urteil vom 23. November 2006 wies der Bundesfinanzhof die Revision als unbegründet zurück, ohne eine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs einzuholen. Zur Begründung der Ablehnung einer Vorlage legte er dar, im Umkehrschluss aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache Kühne und Heitz (EuGH, Urteil vom 13. Januar 2004, Rs. C-453/00, Slg. 2004, S. I-837) folge, dass die Aufhebung eines gemeinschaftsrechtswidrigen belastenden bestandskräftigen Verwaltungsakts nur in Betracht komme, wenn sie durch eine nationale Regelung ermöglicht werde. Zudem habe die Beschwerdeführerin von ihrem Recht, gegen den Umsatzsteuerbescheid für 1993 rechtzeitig Einspruch einzulegen, keinen Gebrauch gemacht. Die Beschwerdeführerin könne sich auch nicht auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache Emmott (EuGH, Urteil vom 25. Juli 1991, Rs. C-208/90, Slg. 1991, S. I-4269) berufen, nach dem nationale Rechtsbehelfsfristen nicht anliefen, solange eine Richtlinie nicht ordnungsgemäß umgesetzt worden sei. In der Rechtssache Fantask (EuGH, Urteil vom 2. Dezember 1997, Rs. C-188/95, Slg. 1997, S. I-6783) und in weiteren Entscheidungen habe der Europäische Gerichtshof nämlich mittlerweile wiederholt klargestellt, dass die sogenannte Emmott'sche Fristenhemmung nur dann gelte, wenn sich nationale Behörden treuwidrig auf den Fristablauf beriefen, nachdem sie die rechtzeitige Einlegung von Rechtsbehelfen verhindert hätten. Der Beschwerdeführerin stehe auch kein auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache Ciola (EuGH, Urteil vom 29. April 1999, Rs. C-224/97, Slg. 1999, S. I-2517) zu stützender Vollzugsfolgenbeseitigungsanspruch zu. Die dort festgestellte Unanwendbarkeit einer gemeinschaftsrechtswidrigen bestandskräftigen Verwaltungsentscheidung finde ihren Grund in der Besonderheit der Beitrittssituation Österreichs. Das Gemeinschaftsrecht habe bei Erlass der Verwaltungsentscheidung in Österreich noch nicht gegolten, sodass der Betroffene keine Möglichkeit gehabt habe, diese vor Eintritt der Bestandskraft unter Berufung auf Gemeinschaftsrecht anzufechten.
II.
Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihres Rechts auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Der Bundesfinanzhof habe gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter verstoßen, indem er dem Europäischen Gerichtshof eine entscheidungserhebliche Frage zur Auslegung von Art. 10 EG hinsichtlich der Bestandskraft gemeinschaftsrechtswidriger belastender Verwaltungsakte nicht gemäß Art. 234 Abs. 3 EG zur Vorabentscheidung vorgelegt habe.
Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Bestandskraft gemeinschaftsrechtswidriger belastender Verwaltungsakte sei unvollständig. Insbesondere seien die vom Europäischen Gerichtshof in der Rechtssache Kühne und Heitz (Urteil vom 13. Januar 2004, a.a.O.) aufgestellten Voraussetzungen für eine Durchbrechung der Bestandskraft nicht abschließend. Davon abgesehen gehe es hier anders als in der Rechtssache Kühne und Heitz nicht um die effektive Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts durch die zuständige Behörde, sondern durch den Gesetzgeber. Schließlich sei es eindeutig vorzugswürdig, von einer Verallgemeinerungsfähigkeit der Ciola-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (Urteil vom 29. April 1999, a.a.O.) auszugehen.
III.
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Der Verfassungsbeschwerde kommt keine grundsätzliche Bedeutung zu, da die Frage der Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch unterbliebene Vorlagen an den Europäischen Gerichtshof in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hinreichend geklärt ist (vgl. BVerfGE 73, 339 ≪366 ff.≫; 75, 223 ≪233 ff.≫; 82, 159 ≪192 ff.≫). Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist auch nicht zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG bezeichneten Rechte angezeigt (vgl. BVerfGE 90, 22 ≪25 f.≫). Die Verfassungsbeschwerde ist unbegründet. Das Urteil des Bundesfinanzhofs entzieht die Beschwerdeführerin nicht entgegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ihrem gesetzlichen Richter.
1. Der Europäische Gerichtshof ist gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Es stellt einen Entzug des gesetzlichen Richters dar, wenn ein deutsches Gericht seiner Pflicht zur Anrufung des Europäischen Gerichtshofs im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 234 Abs. 3 EG nicht nachkommt (BVerfGE 73, 339 ≪366 ff.≫; 75, 223 ≪233 ff.≫; 82, 159 ≪192 ff.≫). Allerdings stellt nicht jede Verletzung der gemeinschaftsrechtlichen Vorlagepflicht zugleich einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar. Das Bundesverfassungsgericht beanstandet die Auslegung und Anwendung von Zuständigkeitsnormen nur, wenn sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen und offensichtlich unhaltbar sind (BVerfGE 82, 159 ≪194≫).
Im Rahmen dieser Willkürkontrolle haben sich in der Rechtsprechung Fallgruppen herausgebildet, in denen die Vorlagepflichtverletzung zu einem Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG führt. Liegt zu einer entscheidungserheblichen Frage des Gemeinschaftsrechts einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs noch nicht vor oder hat eine vorliegende Rechtsprechung die entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet oder erscheint eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichthofs nicht nur als entfernte Möglichkeit, wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nur verletzt, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten hat (Fallgruppe der Unvollständigkeit der Rechtsprechung). Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn mögliche Gegenauffassungen zu der entscheidungserheblichen Frage des Gemeinschaftsrechts gegenüber der vom Gericht vertretenen Meinung eindeutig vorzuziehen sind (BVerfGE 82, 159 ≪194 ff.≫).
2. Gemessen an diesem Maßstab liegt ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch das angegriffene Urteil nicht vor. Der Bundesfinanzhof hat den ihm zukommenden Beurteilungsrahmen hinsichtlich einer Vorlage an den Europäischen Gerichtshof nicht in unvertretbarer Weise überschritten. Zwar hat der Europäische Gerichtshof die Fragen zur Durchbrechung der Bestandskraft gemeinschaftsrechtswidriger belastender Verwaltungsakte der Mitgliedstaaten noch nicht erschöpfend beantwortet. Insbesondere ist bislang unklar, welche Bedeutung der von dem Europäischen Gerichtshof in der Kühne und Heitz-Entscheidung aufgestellten Voraussetzung zukommt, dass die Behörde nach nationalem Recht befugt sein müsse, die Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen (Urteil vom 13. Januar 2004, a.a.O., Rn. 28). Die Ansicht der Beschwerdeführerin, es handele sich nicht um eine zwingende Voraussetzung, ist gegenüber der gegenteiligen Auffassung des Bundesfinanzhofs aber nicht eindeutig vorzuziehen. Es ist nicht unvertretbar, einen generellen gemeinschaftsrechtlichen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verwaltungsverfahrens nach Feststellung eines Verstoßes gegen Gemeinschaftsrecht abzulehnen (vgl. z.B. Gundel, Festschrift für Götz, 2005, S. 191 ≪205≫; Rennert, DVBl 2007, S. 400 ≪408≫; Ruffert, JZ 2006, S. 905). Denn der Europäische Gerichtshof erkennt die Funktion der Bestandskraft als Instrument der Rechtssicherheit grundsätzlich an (EuGH, Urteil vom 16. Dezember 1976, Rs. C-33/76 – Rewe –, Slg. 1976, S. I-1989, Rn. 5). Dementsprechend orientiert er sich auch in einer neueren Entscheidung zur Frage der Bestandskraftdurchbrechung gemeinschaftsrechtswidriger Verwaltungsakte an den in der Rechtssache Kühne und Heitz aufgestellten Voraussetzungen (vgl. EuGH, Urteil vom 12. Februar 2008, Rs. C-2/06 – Kempter –, EuZW 2008, S. 148 ≪150≫, Rn. 39), zu denen die Rücknahmebefugnis nach nationalem Recht zählt.
Es ist folglich auch nicht unvertretbar anzunehmen, dass die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache Ciola (Urteil vom 29. April 1999, a.a.O.) keine verallgemeinerungsfähigen Aussagen über die Unanwendbarkeit gemeinschaftsrechtswidriger Verwaltungsakte enthält, sondern maßgeblich auf der Besonderheit des Beitritts Österreichs zur Europäischen Union beruht. Diese Auffassung wird auch in der einschlägigen Literatur überwiegend vertreten (vgl. z.B. Gundel, EuR 1999, S. 781 ≪787≫; Potacs, EuR 2004, S. 595 ≪602≫; Schilling, EuZW 1999, S. 407 ≪408≫).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Broß, Di Fabio, Landau
Fundstellen
BFH/NV 2009, 110 |
HFR 2009, 179 |
UR 2008, 884 |
KÖSDI 2009, 16315 |