Leitsatz (amtlich)

1. Zum Wesen und zur Rechtsnatur der EG-Präferenzbestimmungen.

2. Ziff. II Nr. 15 der EG-Präferenzbestimmungen bindet das Ermessen der Verwaltung in dem Sinne, daß die Abgabenfestsetzung ohne Rücksicht auf die Bestandskraft des Bescheides bei nachträglicher Vorlage eines die Ware betreffenden gültigen Präferenznachweises nach § 94 AO zu berichtigen ist.

 

Normenkette

AO § 94 Abs. 1 Nr. 1; EG-Präferenzbestimmungen (BMWF-Erlaß vom 10. September 1971 F/III B 8 – Z 1354 – 96/71, BAnz Nr. 214 vom 16. November 1971, Beilage Nr. 23/71, BZBl 1971, 1326)

 

Tatbestand

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) beantragte für 100 Sack Gewürznelken aus Madagaskar die Abfertigung zum freien Verkehr. Die Zollstelle wies die Ware antragsgemäß ohne Beschau der Tarifnr. 09.07 des Gemeinsamen Zolltarifs (GZT) zu und erhob mit formlosem Steuerbescheid Eingangsabgaben in Höhe von 8 940,94 DM. Mit Schreiben vom 20. Juni 1972 stellte die Klägerin den Antrag, die Abgabenfestsetzung aufgrund der geltenden Präferenzregelung zu berichtigen. Sie machte geltend, bei der Abfertigung sei es unterlassen worden, als Präferenznachweis zur Warenverkehrsbescheinigung A. Y. 1 das entsprechende Konnossement vorzulegen. Die Klägerin bat, den Präferenznachweis nachträglich zu berücksichtigen, da wegen einer Erkrankung ihres Zolldeklaranten das Papier nicht fristgerecht habe vorgelegt werden können.

Die Zollstelle wies den Berichtigungsantrag ab, da er nicht innerhalb der Rechtsbehelfsfrist gestellt worden sei und da auch Gründe für eine Nachsichtgewährung, die im Rahmen einer Prüfung nach § 94 der AO zu beachten seien, nicht vorlägen.

Mit dem dagegen gerichteten Einspruch berief sich die Klägerin erneut auf Nachsichtgründe. Das HZA wies den Einspruch mit der Begründung zurück, die Ablehnung des Berichtigungsantrages stehe im Einklang mit den von der Rechtsprechung zu § 94 AO entwickelten Rechtsgrundsätzen und sei deshalb nicht ermessensfehlerhaft.

Auch die dagegen gerichtete Klage blieb ohne Erfolg. Das Finanzgericht (FG) führte aus, es könne dahingestellt bleiben, ob das Schreiben der Klägerin vom 20. Juni 1972 als Antrag auf Änderung des Zollbescheides gemäß § 94 Abs. 1 Nr. 1 AO oder als verspätet eingelegter Rechtsbehelf anzusehen sei. In beiden Fällen könne die Klage keinen Erfolg haben, denn es habe weder ein Anlaß bestanden, Nachsicht zu gewähren noch habe das HZA ermessensmißbräuchlich gehandelt, wenn es eine Berichtigung gemäß § 94 Abs. 1 Nr. 1 AO abgelehnt habe.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der Klägerin, mit der eine Verletzung der §§ 86 und 94 AO geltend gemacht wird.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision führt zur Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.

Gegenstand des Rechtsstreites ist der von der Klägerin am 20. Juni 1972 gestellte Antrag, den Präferenznachweis nachträglich zu berücksichtigen, da sie wegen einer Erkrankung ihres Zolldeklaranten das Papier nicht fristgerecht habe vorlegen können. Die Verwaltungsbehörden und das FG haben diesen Antrag in zweierlei Hinsicht rechtlich gewürdigt, nämlich einmal unter dem rechtlichen Gesichtspunkt der Nachsichtgewährung im Hinblick auf einen möglicherweise (verspätet) eingelegten Einspruch und zum anderen als Berichtigungsantrag gemäß § 94 AO. Der Antrag ist unter beiden Aspekten als unbegründet angesehen worden. Im Mittelpunkt der rechtlichen Ausführungen der Verwaltungsbehörden stand allerdings § 94 AO. Auch das FG war der Auffassung, daß insbesondere die schriftsätzlichen Ausführungen der Klägerin im Klageverfahren eher auf einen Antrag nach § 94 AO hindeuteten. Dieser Auffassung ist jedenfalls insoweit zuzustimmen, daß die Klägerin in erster Linie die Berichtigung gemäß § 94 AO begehrt hat und daneben hilfsweise Nachsichtgewährung im Rahmen eines verspätet eingelegten Einspruchs.

Die revisionsgerichtliche Prüfung erstreckt sich somit zunächst auf die Frage, ob die Ablehnung des von der Klägerin gestellten Berichtigungsantrages gemäß § 94 Abs. 1 Nr 1 AO zu Recht besteht. Diese Frage ist zu verneinen. Darauf, ob die Voraussetzungen für eine Nachsichtgewährung vorgelegen haben, kommt es danach nicht mehr an.

Nach § 94 Abs. 1 Satz 1 AO kann die Behörde einen Steuerbescheid bis zum Ablauf der Verjährungsfrist zurücknehmen oder ändern, und zwar sowohl zugunsten als auch zuungunsten des Steuerpflichtigen und ohne Rücksicht darauf, ob der Bescheid rechtskräftig ist oder nicht. Nach dem Wortlaut dieser Bestimmung liegt es im Ermessen der Behörde, ob sie von der Möglichkeit der Berichtigung Gebrauch macht oder nicht. Der Senat hat danach zu prüfen, ob die Ablehnung des Berichtigungsantrages durch das ZA rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten worden sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist (vgl. § 102 FGO), bzw. ob innerhalb der gesetzten Grenzen Recht und Billigkeit beachtet worden sind (vgl. Urteil vom 7. Dezember 1960 VII 104/60 U, BFHE 72, 225, BStBl III 1961, 84). Der Bundesfinanzhof (BFH) hat zu dieser Frage in ständiger Rechtsprechung (Urteile VII 104/60 U; vom 14. März 1962 VII 63/61, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1963 S. 31 – HFR 1963, 31 –, von 29. September 1964 VII 245/63 U, BFHE 80, 492, BStBl III 1964, 651; vom 30. Juni 1964 VII 155/62 U, BFHE 80, 44, BStBl III 1964, 490) die Auffassung vertreten, daß die Ablehnung eines Berichtigungsantrages hinsichtlich unanfechtbar gewordener Eingangsabgabenbescheide dann nicht ermessensmißbräuchlich ist, wenn der Steuerpflichtige es unterlassen hat, die Gründe, die die Berichtigung des Bescheides rechtfertigen, alsbald, d. h., wenn er sie während des Laufes der Rechtsmittelfrist erkannt hat oder den Umständen nach hätte erkennen müssen, auch innerhalb dieser Frist der Zollverwaltung mitzuteilen. Ausschlaggebend ist dabei die Erwägung, daß § 94 AO dem Steuerpflichtigen keine Vorteile bieten will, die er auf dem Wege des Rechtsbehelfsverfahrens nicht oder nicht mehr erreichen kann.

Der BFH hat jedoch in jüngster Zeit in besonderen Fällen Ausnahmen von dieser in ständiger Rechtsprechung vertretenen Auffassung zugelassen und dazu in seinem Urteil vom 21. November 1968 VII 3/65 (Zeltschrift für Zölle und Verbrauchsteuern 1969 S. 116 – ZfZ 1969, 116 –) ausgeführt, daß bei der steuergerichtlichen Nachprüfung der Ermessensentscheidungen der Verwaltung auch zu prüfen sei, ob die besonderen Umstände des Falles gegenüber den auf den Regelfall abgestellten Gründen ausreichend berücksichtigt wurden. Zu Unrecht hat das FG angenommen, daß im Streitfalle solche besonderen Umstände, die für die Ermessensausübung durch die Verwaltung hätten maßgeblich sein können, nicht gegeben seien.

Das FG hat dabei übersehen, daß die Verwaltung selbst für die nachträgliche Berücksichtigung von Präferenznachweisen Regelungen aufgestellt hat, die zu einer Einschränkung des Ermessensrahmens der Verwaltung führen. Da die Ausübung des Ermessens unter der Herrschaft des Gleichheitssatzes steht, darf die Verwaltung bei Ermessensentscheidungen nicht ohne Grund von den durch sie gesetzten allgemeinen Regelungen für die Ermessensausübung, die auch die allgemeine Verwaltungspraxis prägen, abweichen.

Solche allgemeinen Regelungen über die nachträgliche Geltendmachung von Präferenzberechtigungen sind in den Bestimmungen über die Präferenzberechtigung im innergemeinschaftlichen Warenverkehr sowie im Warenverkehr zwischen der Gemeinschaft und bestimmten Staaten und Gebieten (EG-Präferenzbestimmungen) enthalten. Diese Bestimmungen, die in Form eines Erlasses des BMWF ergangen sind und nach ihrer Vorbemerkung 1 gemeinschaftsrechtliche Regelungen und nationale Durchführungsvorschriften über Voraussetzungen und Nachweise der Präferenzberechtigung enthalten, binden die nachgeordneten Zollstellen, die den Erlaß als Verwaltungsvorschrift anzuwenden haben. Sie wenden sich aber, wie sich aus der Veröffentlichung im Bundesanzeiger ergibt, darüber hinaus auch an die Allgemeinheit mit dem Ziel, das von der Verwaltung bei der Ausstellung der Präferenznachweise und bei der Geltendmachung der Präferenzberechtigung im Rahmen der geltenden Rechtsvorschriften geübte Verfahren offenzulegen. Dabei handelt es sich nicht nur um eine Zusammenstellung der geltenden Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der Präferenzen. In diesem Falle hätte es eines Erlasses, also einer bindenden Anweisung an die nachgeordneten Dienststellen, und auch einer Veröffentlichung im Bundesanzeiger nicht bedurft. Die EG-Präferenzbestimmungen sind vielmehr darüber hinaus darauf gerichtet, das Verhalten der Verwaltung auch in den Fällen festzulegen, in denen die geltenden Rechtsvorschriften einen Entscheidungsrahmen für die Verwaltung offenlassen, in denen also ein Handlungsermessen der Verwaltung besteht. Enthalten die EG-Präferenzbestimmungen Regelungen zur Ausfüllung eines solchen Handlungsermessens, so ist die dort getroffene Regelung für die Verwaltung verbindlich, mit der Wirkung, daß eine Abweichung von der getroffenen Regelung, die ohne besonderen Grund erfolgt, einen Ermessensverstoß der Verwaltung darstellt.

Dieser Fall liegt vor bei der nachträglichen Geltendmachung der Präferenzberechtigung. Hat der Zollbeteiligte die Ware in der Zollanmeldung nicht als präferenzberechtigt angemeldet, so bestimmt Ziff. II Nr. 15 der EG-Präferenzbestimmungen, daß der Zollbescheid ggf. gemäß § 94 AO zu ändern ist, wenn der Zollbeteiligte nach Erteilung des Zollbescheides für die Ware einen Präferenznachweis vorlegt. Diese Bestimmung enthält eine Anweisung an die Verwaltung, im Falle einer nachträglichen Vorlage des Präferenznachweises grundsätzlich eine Berichtigung des Bescheides gemäß § 94 AO vorzunehmen. Damit ist der der Verwaltung durch § 94 AO eingeräumte Ermessensrahmen in dem Sinne eingeengt, daß grundsätzlich eine Berichtigung des Bescheides vorzunehmen ist. Eingeschränkt ist diese Bestimmung allerdings durch das Wort „ggf.”, das zum Ausdruck bringt, daß nicht in jedem Falle eine Berichtigung des Zollbescheides erfolgen kann. Dieser Vorbehalt wird jedoch von dem HZA zu Unrecht in dem Sinne verstanden, daß damit auf die von der Rechtsprechung für den Regelfall entwickelten Grundsätze für die Berichtigung von bestandskräftigen Bescheiden aufgrund des § 94 AO hingewiesen werde.

Die in Ziff. II Nr. 15 der EG-Präferenzbestimmungen getroffene Einschränkung, daß die Berichtigung ggf. erfolgen soll, kann vielmehr bei natürlicher Interpretation nur so verstanden werden, daß die Berichtigung davon abhängen soll, ob die Voraussetzungen für die nachträglich angemeldete Präferenzberechtigung (vgl. § 12 ZG, § 20 Abs. 1 Nr. 6 der Allgemeinen Zollordnung) gegeben sind, ob also der Präferenznachweis die eingeführte Ware betrifft, ob er innerhalb der Gültigkeitsfrist vorgelegt worden ist und ob ggf. dem Erfordernis der unmittelbaren Beförderung genügt ist (Präferenzbestimmungen Ziff. II Nr. 16).

Diese Auslegung entspricht auch einem natürlichen Sprachempfinden, während die von dem HZA gegebene Interpretation der Bestimmung, wonach das Wort „ggf.” einen Hinweis auf die gesamten in der Rechtsprechung zu § 94 AO entwickelten Rechtsgrundsätze darstellen soll, für einen Steuerpflichtigen, der mit der Rechtsmaterie nicht vertraut ist, nicht verständlich sein kann. Demgegenüber ist es auch unerheblich, daß die frühere Fassung der EG-Präferenzbestimmungen (EWG-Zollbestimmungen 1964, BZBl 1963, 918) eine Berichtigung des Zollbescheides nur für den Fall vorsahen, daß er noch nicht rechtskräftig geworden war. Diese Fassung hat in den neugefaßten EG-Präferenzbestimmungen keinen Eingang gefunden und kann deshalb auch für die Auslegung dieser Bestimmungen nicht herangezogen werden. Maßgeblich für die Auslegung ist vielmehr nur der Wortlaut dieser Bestimmungen, so wie er bei natürlicher, oben naher beschriebener Interpretation verstanden werden kann.

Das FG hat aufgrund des von ihm vertretenen Rechtsstandpunktes keine Feststellungen über die hier bedeutsamen Fragen getroffen. Sein Urteil enthält keine Feststellungen dazu, wie der Präferenznachweis beschaffen war und ob er innerhalb der für AASM-Waren geltenden Frist von fünf Monaten vorgelegt worden ist. Die Sache mußte deshalb an das FG zurückverwiesen werden.

 

Fundstellen

Haufe-Index 510504

BFHE 1977, 326

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