Leitsatz (amtlich)
Der Erlaß des Hessischen Ministers der Finanzen vom 24. Juli 1962, wonach beim Grundstückserwerb durch Vertriebene, Heimatvertriebene, Sowjetzonenflüchtlinge und Sowjetzonenflüchtlingen gleichgestellte Personen unter bestimmten Voraussetzungen auf Antrag Grunderwerbsteuer bis zu 3 500 DM zu erlassen ist, hält sich nicht in den Grenzen, die § 131 AO dem Ermessen zieht.
Normenkette
AO § 131; StAnpG § 2 Abs. 1; FGO §§ 101-102
Tatbestand
Der Kläger und seine Ehefrau erwarben im Jahre 1969 ein in Hessen gelegenes, mit einem Wohnhaus bebautes Grundstück für 200 000 DM je zur ideellen Hälfte und versicherten, daß sie selbst das Haus bewohnen wollten. Der Kläger beantragte, ihm die Grunderwerbsteuer aus Billigkeitsgründen zu erlassen, da er "Flüchtling laut Reisepaß ..." sei, somit "unter der Obhut der Internationalen Flüchtlingsorganisation" stehe und einem "Berechtigten mit Flüchtlingsausweis A gleichgestellt" sei. Das FA - Beklagter - lehnte das ab und setzte die Grunderwerbsteuer für den Kläger auf 7 000 DM iest.
Die OFD wies die Beschwerde gegen die Ablehnungsverfügung durch Entscheidung vom 28. Juli 1969 als unbegründet zurück. Es fehle an der im Erlaß des Hessischen Ministers der Finanzen (HMdF) vom 24. Juli 1962, betreffend "Billigkeitserlaß beim Grundstückserwerb durch Vertriebene, Heimatvertriebene, Sowjetzonenflüchtlinge und Sowjetzonenflüchtlingen gleichgestellte Personen" (abgedruckt in Deutsche Verkehrsteuer-Rundschau 1962 S. 189), bezeichneten Voraussetzung, wonach der Erwerber "einen Ausweis im Sinne des § 15 BVFG besitzen" müsse, "der keine einschränkenden Vermerke über Rechte und Vergünstigungen oder über deren Beendigung im Sinne der §§ 15 Abs. 4 oder 19 BVFG enthalten" dürfe. Auch könne dem Kläger nicht auf Grund des Art. 29 des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, dem die Bundesrepublik durch Gesetz vom 1. September 1953 (BGBl II 1953, 559, 570) zugestimmt hat, die Grunderwerbsteuer erlassen werden. Denn aus dem Diskriminierungsverbot des Art. 29 folge nicht, "daß dem Inhaber eines internationalen Flüchtlingsausweises auch die einem bestimmten, genau abgegrenzten Personenkreis zugebilligten Steuervergünstigungen" zustünden. Für einen Erlaß der Grunderwerbsteuer aus Gründen der Existenzgefährdung ergäben sich aus den Steuerakten keine Anhaltspunkte.
Mit der Klage begehrte der Kläger (sinngemäß), die Ablehnungsverfügung des FA sowie die Beschwerdeentscheidung der OFD aufzuheben und das FA zu verpflichten, ihm 3 500 DM Grunderwerbsteuer aus Billigkeitsgründen zu erlassen. Er rechne sich zu den den Sowjetzonenflüchtlingen "gleichgestellten" Personen. Als ausländischer Flüchtling müsse er in gleicher Weise grunderwerbsteuerrechtlich begünstigt werden wie ein Flüchtling deutscher Staatsangehörigkeit, da auch er seine Heimat, seine Habe und im Berufswege Zeit verloren habe. Dies sei der Sinn des Art. 29 Nr. 1 des erwähnten Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 1. September 1953.
Das FG hat die Klage abgewiesen.
Die Ablehnungsverfügung des FA und die Beschwerdeentscheidung der OFD ließen keinen Ermessenfehler erkennen.
Mit der Revision macht der Kläger geltend, das Urteil des FG beruhe auf einer Verletzung des § 131 AO und des Art. 29 des Abkommens vom 28. Juli 1951 (Art. 1 des Gesetzes vom 1. September 1953, BGBl II 1953, 559).
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet.
Das angefochtene Urteil muß aufgehoben werden, weil es auf einer Verletzung des § 131 AO beruht. Nach Abs. 1 Satz 1 dieser Vorschrift können im Einzelfall Steuern erlassen werden, wenn ihre Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Das FG hat zwar zutreffend die Entscheidung des FA und der OFD, daß die Einziehung der Grunderwerbsteuer im Falle des Klägers unbillig sei, als Ermessensentscheidung behandelt und gemäß § 102 FGO nur geprüft, ob die Ablehnung des Erlasses (beurteilt nach der Sach- und Rechtslage am 28. Juli 1969, dem Tag der letzten Verwaltungsentscheidung) rechtswidrig ist, "weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist". Es hat aber zu Unrecht die Ablehnungsverfügung des FA und die Beschwerdeentscheidung der OFD als ermessensfehlerfrei beurteilt.
Beide Verwaltungsakte sind rechtswidrig, weil FA und OFD ihr Ermessen nach der vom HMdF aufgestellten Richtlinie vom 24. Juli 1962 ausübten, diese Richtlinie sich aber nicht in den Grenzen hält, die das Gesetz dem Ermessen zieht (§ 2 Abs. 1 StAnpG, § 131 AO). Das Gesetz ermächtigt den HMdF, Steuern dann zu erlassen, wenn ihre Einziehung "nach Lage des einzelnen Falles" unbillig wäre; nur unter dieserVoraussetzung darf er "im Einzelfall" oder "für bestimmte Gruppen von gleichgelagerten Fällen" Steuern erlassen (§ 131 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2, Abs. 3 AO).
Diese durch § 131 AO gezogene Ermessensgrenze hat der HMdF überschritten durch seine Anordnung, beim Grundstückserwerb durch Vertriebene, Heimatvertriebene, Sowjetzonenflüchtlinge und Sowjetzonenflüchtlingen gleichgestellten Personen unter bestimmten Voraussetzungen (z. B. wenn der Erwerber das "Grundstück überwiegend für eigene Wohnzwecke" verwendete) auf Antrag die Grunderwerbsteuer bis zur Höhe von 3 500 DM zu erlassen. Denn es ist nicht erkennbar, daß es in Fällen dieser Art - trotz Verwirklichung eines steuerschuldbegründenden Tatbestandes (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 GrEStG) - den Wertungen des Gesetzgebers zuwiderlaufen würde, und deshalb unbillig wäre, die Grunderwerbsteuer einzuziehen (vgl. die an das Urteil des BFH vom 25. März 1969 II R 123/68, BFHE 96, 283, BStBl II 1969, 602, anknüpfende ständige Rechtsprechung des BFH, zuletzt BFH-Urteil vom 15. Februar 1973 V R 152/69, BFHE 108, 571, BStBl II 1973, 466). Das Land Hessen hat den Grundstückserwerb durch Vertriebene und ähnliche Personengruppen nicht durch Gesetz grunderwerbsteuerrechtlich begünstigt, im Gegensatz etwa zu den Ländern Baden-Württemberg (§ 20 des Baden-Württembergischen Grunderwerbsteuergesetzes i. d. F. vom 25. Mai 1970, Gesetzblatt für Baden-Württemberg S. 295), Berlin (§§ 11, 12 des Berliner Grunderwerbsteuergesetzes vom 18. Juli 1969, Gesetz- und Verordnungsblatt für Berlin S. 1034), Nordrhein-Westfalen (Gesetz über Grunderwerbsteuerbefreiung für Vertriebene, Sowjetzonenflüchtlinge, Verfolgte und politische Häftlinge vom 21. Mai 1970, Gesetzund Verordnungsblatt für das Land Nordrhein-Westfalen S. 399) und Schleswig-Holstein (§ 31 Abs. 2 des Schleswig-Holsteinischen Landesgesetzes zur Ergänzung bundesrechtlicher Bestimmungen über die Angelegenheiten der Vertriebenen, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigten vom 28. April 1954, Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Schleswig-Holstein S. 77). Die Vorschrift des § 131 AO gab dem HMdF nicht die Befugnis, anstelle einer vom Gesetzgeber unterlassenen sozial- oder wirtschaftspolitischen Maßnahme die gesetzlich geschuldete Grunderwerbsteuer ganz oder teilweise nicht zu erheben (vgl. BFH-Urteile vom 2. September 1964 I 255/62 U, BFHE 80, 321, BStBl III 1964, 589, und vom 9. Juli 1970 IV R 34/69, BFHE 99, 448, [461], BStBl II 1970, 696, mit Anmerkung von Starck, Steuerrechtsprechung in Karteiform, Reichsabgabenordnung, § 131 n. F., Rechtsspruch 190).
Der Senat entscheidet in der Sache selbst (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 FGO). Die Klage führt zur Aufhebung der Beschwerdeentscheidung der OFD und der Ablehnungsverfügung des FA, weil diese Verwaltungsakte aus den dargelegten Gründen rechtswidrig sind und der Kläger durch sie in seinem Recht auf fehlerfreie Ermessensausübung verletzt ist. Da die Verwaltungsrichtlinie dem Kläger gegenüber nicht verbindlich ist, ist sein Erlaßantrag unmittelbar auf Grund und nach Maßgabe des § 131 Abs. 1 Satz 1 AO unter Würdigung aller dafür maßgebenden Umstände zu prüfen. Der Beklagte war zu verpflichten, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden (§ 101 Satz 2 FGO).
Einheitsbewertung
11.10.1974 III R 103/73
Bei fehlender Vergleichsmiete kann die Kostenmiete als übliche Miete angesetzt werden
BewG 1965 § 79 Abs. 2
Einkommensteuer
28.8.1974 I R 66/72
Aufwendungen für Nichtübernahme eines Warenlagers als sofort abziehbare Betriebsausgaben
EStG 1962 ff. § 4 Abs. 4, § 5, § 6 Abs. 1 Nr. 1
17.10.1974 IV R 223/72
Tausch einer wesentlichen Beteiligung im Sinne des § 17 EStG gegen Anteile an anderen Kapitalgesellschaften
EStG § 17
Einkommensteuer / Doppelbesteuerung
31.7.1974 I R 27/73
Einkünfte aus den USA sind auch dann nach § 3 Nr. 41 EStG steuerfrei, wenn sie in den USA nicht besteuert wurden
EStG § 3 Nr. 41, § 49; EStDV § 68b; DBA-USA i. d. F. des Protokolls vom 17. September 1965 Art. II, X, XV, XVI
Einkommensteuer / Lohnsteuer
21.8.1974 VI R 243/71
Übergangsgeld i. S. d. §§ 62 bis 64 BAT als steuerbegünstigter Versorgungsbezug
EStG 1967 § 19 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2; LStDV § 6b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2
21.8.1974 VI R 201/72
Aufwendungen für Besuchs- bzw. Besichtigungsfahrten der Ehefrau zum Arbeitsort des Ehemannes als Kosten der doppelten Haushaltsführung bzw. als Umzugskosten
EStG 1965 § 9 Abs. 1 Satz 1; LStDV 1965 § 20 Abs. 2 Satz 1; Bundesumzugskostengesetz vom 8. April 1964 § 5 Abs. 1
26.9.1974 VI R 73/72
Keine doppelte Haushaltsführung bei einem geschiedenen Arbeitnehmer, der in der Wohnung der früheren Ehefrau ein möbliertes Zimmer besitzt
EStG 1967 § 9 Abs. 1 Nr. 5; LStDV 1968 § 20 Abs. 2 Nr. 3
Grunderwerbsteuer
14.8.1974 II R 12/68
"Fertigstellung" bedeutet, daß der Bebauungszustand die bestimmungsgemäße Nutzung zu Wohnzwecken zuläßt
II. GrEStWG vom 20. Juli 1962 Baden-Württemberg § 1 Abs. 1 Nrn. 1, 2, 3, 10, 11
Investitionszulage
29.10.1974 VIII R 159/70
Schallschlucktür in Anwaltspraxis ist Betriebsvorrichtung
BHG § 19 Abs. 1 und 2; BewG 1965 § 68 Abs. 2 Nr. 2; BGB §§ 93 ff.
Fundstellen
Haufe-Index 71153 |
BStBl II 1975, 51 |
BFHE 1975, 265 |