Entscheidungsstichwort (Thema)

Verzicht auf mündliche Verhandlung; Auslegung eines Vorläufigkeitsvermerks; Wiedereinsetzung

 

Leitsatz (NV)

1. Anders als im Zivilprozeß (§ 128 Abs. 2 ZPO) befähigen (wirksame) Verzichtserklärungen der Verfahrensbeteiligten im finanzgerichtlichen Verfahren das Gericht grundsätzlich, "ohne weiteres" im schriftlichen Verfahren zu entscheiden.

2. Die Reichweite eines Vorläufigkeitsvermerks bestimmt sich nach dem objektiven Erklärungswert des Steuerbescheids, der grundsätzlich aus dessen Gesamtinhalt zu ermitteln ist.

3. Zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Einspruchsfrist.

 

Normenkette

FGO § 90 Abs. 2, § 155; ZPO § 128 Abs. 2; AO 1977 §§ 110, 120, 165, 172, 355

 

Verfahrensgang

FG Münster

 

Tatbestand

Die Kläger und Revisionskläger (Kläger), Eheleute, die zusammen zur Einkommensteuer veranlagt werden, hatten für das Streitjahr 1990 trotz wiederholter Aufforderung keine Steuererklärung abgegeben. Daraufhin hatte sie der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) mit Bescheid vom 6. Mai 1992 im Wege der Schätzung zur Einkommensteuer herangezogen.

Dieser Bescheid trägt auf seiner Vorderseite eingangs den Vermerk "Der Bescheid ist nach § 165 Abs. 1 AO vorläufig" und enthält auf der Rückseite unter "Erläuterungen" u. a. folgende Hinweise:

--"Der Bescheid ist im Hinblick auf die Anhängigkeit von Verfassungsbeschwerden zum Grundfreibetrag hinsichtlich der Höhe des Grundfreibetrags ... vorläufig ... ,"

--Einspruch sei insoweit nicht erforderlich,

--im übrigen, hinsichtlich der Schätzung, sei eine "Änderung des Steuerbescheids zu Ihren Gunsten ... nur ... nach Einlegung eines Rechtsbehelfs möglich".

Der Bescheid, versehen mit der üblichen Rechtsbehelfsbelehrung, wurde den Klägern am 8. Mai 1992 mit Postzustellungsurkunde zugestellt.

Am 16. Juni 1992 erschien die Klägerin beim FA, um die ausstehende Einkommensteuererklärung abzugeben. Auf die Fristversäumnis hingewiesen, erklärte sie u. a., eine geringe Fristüberschreitung sei nicht schädlich, wegen eines Todesfalles sei sie sehr beansprucht gewesen, und innerhalb des hierfür eröffneten Ermessensrahmens solle die Erklärung noch berücksichtigt werden.

Ebenfalls am 16. Juni 1992 legte der Steuerberater der Kläger, ihr jetziger Prozeßbevollmächtigter, förmlich Einspruch gegen den Schätzungsbescheid ein, beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen starker Arbeitsbelastung sowie des Todesfalles im Dezember 1991 und berief sich im übrigen auf § 165 der Abgabenordnung (AO 1977): Der im angefochtenen Bescheid angebrachte Vorläufigkeitsvermerk erlaube, da auf der Vorderseite ohne Einschränkung ausgesprochen, jederzeitige Änderung. -- Zur Wiedereinsetzung wurde außerdem noch vorgetragen, der Kläger habe nach Erhalt des Bescheids die Klägerin beauftragt, für beide Einspruch einzulegen. Das sei ihm zugesichert worden. Hierauf habe er sich verlassen, da seine Ehefrau in solchen Dingen immer zuverlässig handele.

Der Einspruch wurde wegen Fristversäumnis und fehlender Wiedereinsetzungsgründe als unzulässig verworfen.

Die Klage hatte keinen Erfolg. Sie wurde vom Finanzgericht (FG) -- nach entsprechenden beiderseitigen Verzichtserklärungen ohne mündliche Verhandlung -- als unbegründet abgewiesen: Wegen der Fristversäumnis sei Wiedereinsetzung zu Recht nicht gewährt worden; im übrigen gehe aus dem Gesamtinhalt des Bescheids mit hinreichender Deutlichkeit seine eingeschränkte Vorläufigkeit hervor, so daß die begehrte Änderung nicht gerechtfertigt sei.

Mit der Revision rügen die Kläger Verletzung formellen und materiellen Rechts.

In formeller Hinsicht wenden sie sich dagegen, daß das FG seine Entscheidung getroffen habe, ohne ihnen die Verzichtserklärung des FA mitzuteilen, ohne (in entsprechender Anwendung des § 128 Abs. 2 der Zivilprozeßordnung -- ZPO --) eine letzte Schriftsatzfrist zu bestimmen und ohne den Entscheidungstermin zuvor anzukündigen.

In materiell-rechtlicher Hinsicht machen die Kläger geltend, der Vorläufigkeitsvermerk erfasse den gesamten Bescheid. Entscheidend komme es dabei -- wie auch der Bundesfinanzhof (BFH) in den Urteilen vom 9. Oktober 1985 II R 74/83 (BFHE 145, 11, BStBl II 1986, 38) und vom 13. November 1985 II R 208/82 (BFHE 145, 487, BStBl II 1986, 241) entschieden habe -- auf den "Kopf" des Verwaltungsakts an. Jedenfalls hatten die Kläger als Laien dies so verstehen dürfen. Sie seien entschuldbar von uneingeschränkter Änderbarkeit ausgegangen. Daher sei Wiedereinsetzung geboten. Zu Unrecht schließlich habe das FG auch den auf § 165 Abs. 2 AO 1977 gestützten Hilfsantrag abgewiesen.

Die Kläger beantragen sinngemäß,

das angefochtene Urteil sowie die Einspruchsentscheidung des FA aufzuheben und den Einkommensteuerbescheid für 1990 entsprechend der hierzu eingereichten Steuererklärung abzuändern.

Das FA beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet. Das angefochtene Urteil verstößt weder gegen formelles noch gegen materielles Recht.

1. Verfahrensrecht ist nicht verletzt. Das FG war -- auch unter dem Gesichtspunkt der Gewährung rechtlichen Gehörs -- weder gehalten, den Klägern die Verzichtserklärung des FA zur Kenntnis zu bringen noch eine Schriftsatzfrist zu setzen oder seine Entscheidung anzukündigen. Ohne derartige Einschränkungen ist das weitere Verfahren nach wirksamen Verzichtserklärungen der Beteiligten in § 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) -- anders als in § 128 Abs. 2 ZPO -- in das pflichtgemäße Ermessen des Gerichts gestellt. Demgemäß müssen die Beteiligten des finanzgerichtlichen Verfahrens von der eigenen (wirksamen) Verzichtserklärung an grundsätzlich, unabhängig von irgendwelchen Mitteilungen seitens des Gerichts und ohne Gelegenheit zu einer weiteren Äußerung, mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren rechnen. Wegen der Unterschiedlichkeit beider Regelungen ist § 128 Abs. 2 Satz 2 ZPO im Rahmen des § 90 Abs. 2 FGO nicht anwendbar (ebenso für § 128 Abs. 2 Satz 3 ZPO Gräber, Kommentar zur Finanzgerichts ordnung, 3. Aufl., 1993, § 90 Rz. 21 und -- für den gleichlautenden § 101 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) --: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Kommentar zur Verwaltungsgerichtsordnung, 1996, § 101 Tz. 12, jeweils m. w. N.; vgl. auch Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts -- BVerwG -- vom 25. September 1990 9 B 115.90, Buchholz 310, § 108 VwGO, Nr. 233).

2. Auch in der Sache ist das erstinstanzliche Urteil nicht zu beanstanden.

a) Zu Recht hat das FG die Verwerfung des Einspruchs bestätigt. Wegen der unstreitigen Versäumung der Einspruchsfrist wäre Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 110 AO 1977 nur in Betracht gekommen, wenn die Kläger ohne ihr Verschulden (wozu nach § 110 Abs. 1 Satz 2 AO 1977 auch Vertreterverschulden zu rechnen ist) verhindert gewesen wären, die Frist des § 355 AO 1977 einzuhalten. Ein solcher Entschuldigungsgrund ist hier nicht ersichtlich, vor allem auch nicht glaubhaft gemacht worden (§ 110 Abs. 2 Satz 2 AO 1977). Das gilt auch hinsichtlich der Tragweite des Vorläufigkeitsvermerks: Die Vorstellungen der Kläger hiervon haben tatsächlich keinen für die Wiedereinsetzung beachtlichen Rechtsirrtum hervorgerufen; dies ergibt sich schon aus ihrem eigenen Vorbringen, wonach der Kläger die Klägerin gleich nach Erhalt des Bescheids beauftragt hatte, Einspruch einzulegen. Daß es dazu rechtzeitig nicht gekommen ist, haben FA und FG zu Recht den Klägern angelastet.

Selbst wenn die Kläger den Umfang des Vorläufigkeitsvermerks mißverstanden haben sollten, wäre dieser Irrtum unbeachtlich, weil nicht entschuldbar. Die Notwendigkeit rechtzeitiger Einspruchseinlegung ergab sich -- unabhängig von den Aussagen zum Vorläufigkeitsvermerk -- auch für Laien unmißverständlich aus der Rechtsbehelfsbelehrung.

b) Zutreffenderweise hat das FG auch das auf Abänderung zielende Verpflichtungsbegehren als unbegründet angesehen. Die Voraussetzungen des § 165 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 sind nicht gegeben.

Die mangels Bestandskraft (s. § 172 Abs. 1 Satz 1 AO 1977) an keine besondere Voraussetzung geknüpfte Änderung oder Aufhebung eines Steuerbescheids nach § 165 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 ist nur gerechtfertigt, soweit eine Steuer wegen einer Ungewißheit i. S. des § 165 Abs. 1 AO 1977 vorläufig festgesetzt wurde. Die Reichweite einer solchen Nebenbestimmung zum Verwaltungsakt (§ 120 AO 1977) richtet sich nach seinem objektiven, aus Empfängersicht durch Auslegung zu bestimmenden Erklärungswert (s. BFH-Urteil vom 6. März 1992 III R 47/91, BFHE 167, 290, BStBl II 1992, 588), der sich erschließt aus dem Gesamtinhalt der in Frage stehenden Einzelfallregelung, einschließlich der hierzu gegebenen Begründung und der beigefügten Erläuterungen (BFH-Urteile vom 23. September 1992 X R 10/92, BFHE 169, 331, BStBl II 1993, 338, und vom 30. Juni 1994 V R 106/91, BFH/NV 1995, 466; Gräber, a. a. O., Rz. 45 vor § 40, jeweils m. w. N.).

Der Gesamttext des angefochtenen Bescheids läßt aber -- auch für einen Laien -- keinen Zweifel daran, daß sich der Vorläufigkeitsvermerk nur auf die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Grundfreibetrages bezog. Die übrigen Aussagen dieses Steuerverwaltungsakts hätten daher rechtzeitig angefochten werden müssen, wenn insoweit der Eintritt der Bestandskraft hätte verhindert werden sollen. Genauso ist der Bescheid vom 6. Mai 1992 ja offensichtlich von den Klägern zunächst auch tatsächlich verstanden worden.

Dieses Ergebnis steht nicht im Widerspruch zu den BFH-Urteilen, auf die sich die Kläger berufen (BFHE 145, 11, BStBl II 1986, 38 und BFHE 145, 487, BStBl II 1986, 241): Zwar wurde dort dem jeweiligen "Kopf" der zu beurteilenden Verwaltungsakte eine maßgebliche Bedeutung bei gemessen; doch es blieb bei der dadurch begründeten Wirkung der Uneingeschränktheit des Vorläufigkeitsvermerks nur, weil sich jeweils dort aus dem übrigen Inhalt des Bescheids nichts anderes ergab.

 

Fundstellen

BFH/NV 1997, 547

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