3.1 Begriff

 

Rz. 130

Nach § 3 Abs. 1 UStG sind Lieferungen Leistungen, durch die ein Unternehmer den Abnehmer befähigt, im eigenen Namen über einen Gegenstand zu verfügen. Das Gesetz umschreibt diesen Vorgang in einem Klammerzusatz als "Verschaffung der Verfügungsmacht", ohne allerdings die hieran geknüpften Voraussetzungen näher zu erläutern. Auch dem bürgerlichen Recht ist der Begriff "Verschaffung der Verfügungsmacht" fremd. Es handelt sich hierbei also um einen dem Umsatzsteuerrecht eigentümlichen Begriff, der nach dem Sinn und Zweck des UStG auszulegen ist.

 

Rz. 131

Nach ständiger Rechtsprechung[1] setzt die "Verschaffung der Verfügungsmacht" voraus, dass dem Leistungsempfänger tatsächlich Substanz, Wert und Ertrag eines Gegenstands zugewendet werden – dies ist allerdings häufig mit dem bürgerlich-rechtlichen Eigentum verbunden. Diese Voraussetzungen sind nicht schon dann erfüllt, wenn lediglich das Recht (ohne die wirkliche Möglichkeit) übertragen wird, über einen Gegenstand zu verfügen.[2] Es kommt eher auf die Fähigkeit und nicht auf das Recht an, einen Gegenstand im eigenen Namen weiterveräußern zu können.[3]

Verfügungsmacht wird verschafft, wenn die wirtschaftliche Substanz des Gegenstands vom Leistenden auf den Leistungsempfänger übergeht und dies von den Beteiligten endgültig gewollt ist.[4] Die Verschaffung der Verfügungsmacht enthält nach Auffassung des BFH zwei Elemente: Zum einen muss (als objektives Element) die Substanz des Gegenstands wirtschaftlich vom Leistenden auf den Leistungsempfänger übergehen. Zum anderen muss (als subjektives Element) die Übertragung der wirtschaftlichen Substanz des Gegenstands nach dem Willen des Leistenden und des Leistungsempfängers endgültig erfolgen (das ist z. B. bei der Übergabe von Waren bei der Verkaufskommission nicht der Fall). Allerdings kann vereinbart werden, dass der Erwerber von seiner Verfügungsmacht nur dann Gebrauch macht, wenn ein bestimmtes Ereignis eintritt (z. B. Eintritt der Verwertungsreife bei der Einräumung von Sicherungsgut; Verfügungsmacht wird dann erst in dem Zeitpunkt verschafft, in dem der Sicherungsnehmer von seinem Verwertungsrecht Gebrauch macht[5]).

Rz. 132 einstweilen frei

3.1.1 Übertragung des Substanzwerts

 

Rz. 133

Dem Leistungsempfänger ist der Substanzwert eines Gegenstands übertragen, wenn er faktisch in die Lage versetzt wird, mit dem Gegenstand nach Belieben zu verfügen, insbesondere ihn wie ein Eigentümer zu nutzen und zu veräußern, und wenn er – dem wirtschaftlichen Eigentümer i. S. d. § 39 Abs. 2 Nr. 1 S. 1 AO vergleichbar – einen entsprechenden Herrschaftswillen ausübt.[1] Hierbei handelt es sich um einen tatsächlichen Vorgang, der in dem Augenblick eintritt, in dem der Leistungsempfänger über den gelieferten Gegenstand tatsächlich verfügen kann, gleichgültig, ob der Vorgang auf einer rechtlichen Grundlage beruht oder nicht; es kommt nicht darauf an, ob gleichzeitig auch das Eigentum übertragen wird oder nicht.[2]

Zwar wird die Verschaffung der Verfügungsmacht i. d. R. vom zivilrechtlichen Eigentumsübergang begleitet, sie ist hiermit jedoch nicht notwendigerweise verbunden.[3] Es reicht aus, dass dem Leistungsempfänger die faktische Verfügungsbefähigung über den Gegenstand eingeräumt wird; ein wie auch immer geartetes Recht dazu, also eine Verfügungsberechtigung (z. B. durch die Übertragung des Eigentums), ist nicht erforderlich.

Diese Auslegung entspricht dem Verständnis des EuGH[4] vom Lieferbegriff des Art. 14 Abs. 1 MwStSystRL. Danach bezieht sich der Begriff "Lieferung eines Gegenstands" nicht auf die Eigentumsübertragung in den durch das anwendbare nationale Recht vorgesehenen Formen, sondern er umfasst jede Übertragung eines Gegenstands, die den Abnehmer ermächtigt, über diesen Gegenstand faktisch so zu verfügen, als wäre er sein Eigentümer. Es ist nach Auffassung des EuGH Sache der nationalen Gerichte, in jedem Einzelfall anhand des gegebenen Sachverhalts festzustellen, ob ein bestimmter Umsatz mit einem Gegenstand die Übertragung der Befähigung nach sich zieht, wie ein Eigentümer über den Gegenstand zu verfügen.

 

Rz. 134

Da die Verschaffung der Verfügungsmacht als tatsächlicher Vorgang nicht an die Eigentumsübertragung gebunden ist, kommen auch geschäftsunfähige oder in ihrer Geschäftsfähigkeit beschränkte Personen als Lieferer und (insbesondere) als Abnehmer in Betracht.

 

Rz. 135

Die Verschaffung der Verfügungsmacht setzt auch nicht voraus, dass der Lieferer das Eigentum an dem Gegenstand hat. Verkauft z. B. der Dieb oder Hehler einen gestohlenen Gegenstand, befähigt er den Erwerber, über den Gegenstand im eigenen Namen ...

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