Rz. 5

Zum Schutz der Unverletzlichkeit der Wohnung dürfen Wohnräume gegen den Willen des Inhabers nur zur Verhütung dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung betreten werden. Von § 99 Abs. 1 S. 3 AO werden nur Privaträume (Wohnungen i. e. S.) erfasst. Dazu gehört auch der Garten eines Einfamilienhauses[1]. Dagegen schützt Art. 13 Abs. 1 GG nach mittlerweile einhelliger Meinung sowohl Privat- als auch Geschäfts- und Arbeitsräume[2]. Geschäfts- und Arbeitsräume genießen letztlich aber einen geringeren verfassungsmäßigen Schutz[3].

 

Rz. 6

§ 99 Abs. 1 S. 3 AO entspricht für Privaträume der in Art. 13 Abs. 7 GG getroffenen Bestimmung. Eine dringende Gefahr i. S. d. Vorschriften ist immer dann gegeben, wenn eine Sachlage oder ein Verhalten bei ungehindertem Ablauf des zu erwartenden Geschehens mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein wichtiges Rechtsgut schädigen wird[4]. Die Gefahr kann konkret oder akut, aber auch abstrakt oder potenziell sein[5].

 

Rz. 7

Schutzgut der öffentlichen Ordnung ist auch die Steuerrechtsordnung[6]. Ihre Befolgung ist unerlässliche Voraussetzung für ein geordnetes, staatsbürgerliches Zusammenleben[7]. Die Sicherung des Steueraufkommens ist ein Rechtsgut von hohem Rang[8]. Daraus ergibt sich, dass eine dringende Gefahr für die öffentliche Ordnung bereits immer dann vorliegt, wenn eine wahrheitsgemäße Sachverhaltsaufklärung ohne das Betreten privater Wohnräume unmöglich ist. Der Finanzbehörde steht in solchen Fällen grundsätzlich auch gegen den Willen des Wohnungsinhabers ein Betretungsrecht zu.

 

Rz. 8

Allerdings ist stets zu berücksichtigen, dass das Betreten einer Wohnung i. e. S. einen besonders schwerwiegenden Eingriff in die Privatsphäre darstellt. Das Betreten von Privaträumen darf deshalb schon aus verfassungsrechtlichen Gründen[9] erst als letztes Aufklärungsmittel (ultima ratio) zum Zug kommen. Nach AEAO, zu § 99 dürfen Wohnräume gegen den Willen des Inhabers im Besteuerungsverfahren überhaupt nicht betreten werden, es sei denn, die besonderen Voraussetzungen des § 210 Abs. 2 AO (Steueraufsicht) oder des § 287 AO (Vollstreckung in Sachen) liegen vor.

 

Rz. 9

In der Besteuerungspraxis wird daher auch kaum einmal der Versuch unternommen, zur Sachverhaltsaufklärung die Privaträume eines Stpfl. zu betreten. Die Finanzbehörden meiden dieses problemträchtige Feld, indem sie den Konflikt zwischen Unverletzlichkeit der Wohnung und zutreffender Besteuerung im Rahmen der freien ­Beweiswürdigung lösen[10]. Verweigert der Stpfl. trotz rechtmäßiger Anordnung den Zutritt zu seinen Wohnräumen, so führt dies zu einer Beweismaßreduzierung zu seinen Lasten[11]. Außerdem steht der Finanzbehörde bei nicht aufklärbaren Besteuerungsgrundlagen eine Schätzungsbefugnis zu[12].

 

Rz. 10

Bei reinen Geschäfts- und Arbeitsräumen ist hingegen das Schutzbedürfnis des Inhabers, d. h. sein Recht, "in Ruhe gelassen zu werden", dadurch erheblich gemindert, dass er diese Räume nach außen hin zur Aufnahme sozialer Kontakte geöffnet hat[13]. Deshalb sind behördliche Betretungsrechte nicht als Eingriffe und Beschränkungen i. S. d. Art. 13 Abs. 7 GG zu qualifizieren. Sie unterfallen vielmehr nur Art. 2 Abs. 1 GG und sind nach BFH v. 22.12.2006, VII B 121/06, BStBl II 2009, 839 zulässig, wenn

  • eine besondere gesetzliche Ermächtigung zum Betreten vorliegt,
  • das Betreten einem erlaubten Zweck dient und zu dessen Erfüllung erforderlich ist,
  • das Gesetz Zweck, Gegenstand sowie Umfang der Besichtigung und Prüfung deutlich erkennen lässt und
  • das Betreten der Räume nur in Zeiten stattfindet, zu denen die Räume normalerweise für die jeweilige geschäftliche oder betriebliche Nutzung zur Verfügung stehen.
[1] Helsper, in Koch/Scholtz, AO, 5. Aufl. 1996, § 99 AO Rz. 7.
[2] BVerfG v. 13.10.1971, 1 BvR 280/66, BVerfGE 32, 54; BVerfG v. 16.6.1987, 1 BvR 1202/84, BVerfGE 76, 83; Roser, in Beermann/Gosch, AO, § 99 AO Rz. 22; Wünsch, in Pahlke/Koenig, AO, 2. Aufl. 2009, § 99 AO Rz. 13; Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 99 AO Rz. 4; Schuster, in HHSp, AO/FGO, § 99 AO Rz. 16 m. w. N.
[4] BVerfG v. 25.2.1964, 2 BvR 411/61, BVerfGE 17, 232; Schuster, in HHSp, AO/FGO, § 99 AO Rz. 24.
[5] Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 99 AO Rz. 4.
[6] Rätke, in Klein, AO, 11. Aufl. 2012, § 99 AO Rz. 7; Wünsch, in Pahlke/Koenig, AO, 2. Aufl. 2009, § 99 AO Rz. 13; ­Helsper, in Koch/Scholtz, AO, 5. Aufl. 1996, § 99 AO Rz. 7.
[7] Schuster, in HHSp, AO/FGO, § 99 AO Rz. 24; Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 99 AO Rz. 4; einschränkend Roser, in Beermann/Gosch, AO/FGO, § 99 AO Rz. 27.
[10] BFH v. 9.6.2005, IX R 75/03, BFH/NV 2005, 1765 zur Gewährung von EigZul.
[11] Rätke, in Klein, AO, 11. Aufl. 2012, § 99 AO Rz. 9; Roser, in Beermann/Gosch, AO/FGO, § 99 AO Rz. 26.

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