Rz. 61

Art. 103 Abs. 2 GG verbietet die Rückwirkung von Gesetzen für den Bereich der Strafbarkeit. Strafrechtliche Unrechtsfolgen dürfen dementsprechend nicht auf ein Gesetz gestützt werden, das im Zeitpunkt der Tatbegehung noch nicht galt. Durch diese Regelung ist der Bürger dagegen geschützt, dass zu seinen Lasten rückwirkend gesetzliche Regelungen erlassen werden, die in irgendeiner Weise die materielle Strafbarkeit eines Verhaltens betreffen, sei es auf der Tatbestands-, Rechtswidrigkeits- oder Schuldebene, im Hinblick auf persönliche Strafausschließungs- oder Strafaufhebungsgründe oder auf der Rechtsfolgenseite bei Strafzumessung und Strafen.

Da sich Art. 103 Abs. 2 GG auf gesetzliche Bestimmungen bezieht, schließt er hingegen nicht aus, dass die Rechtsprechung ihre Beurteilung bestimmter Sachverhalte ändert und dadurch den Täter rückwirkend belastet.[1] Der Bürger hat folglich keinen Anspruch darauf, dass die Rechtsprechung eine zur Tatzeit für ihn günstige Gesetzesinterpretation bis zu seiner Aburteilung unverändert beibehält. Dies gilt selbst dann, wenn die Rechtsprechung – wie man dies z. B. bei der Promillegrenze annehmen könnte – gesetzesergänzenden Charakter hat. Das Vertrauen auf eine bestimmte Rechtsprechung kann allerdings im Hinblick auf das Vorliegen eines Verbotsirrtums Bedeutung erlangen (vgl. Rz. 111ff.).

 

Rz. 62

Bei § 2 StGB handelt es sich um eine Konkretisierung des in Art. 103 Abs. 2 GG sowie in § 1 StGB enthaltenen Rückwirkungsverbots. Nach § 2 Abs. 1 StGB bestimmen sich die Strafe (s. 139) und ihre Nebenfolgen (s. Rz. 140) nach dem Gesetz, das zzt. der Tat gilt. Das Gesetz i. S. d. § 2 StGB ist das einzelne Strafgesetz, nicht die Rechtsordnung in ihrer Gänze. Es ist somit auf die im jeweiligen Fall anwendbare einzelne Vorschrift abzustellen. § 2 StGB gilt hingegen nicht für Verfahrensrecht[2] oder eine Änderung einer (bislang) feststehenden Rechtsprechung.[3]

Nach § 8 StGB ist der Zeitpunkt der Tat derjenige, zu dem der Tatbeteiligte (s. Rz. 74ff.) gehandelt hat oder im Fall des Unterlassens hätte handeln müssen (s. Rz. 56ff.). Wann der Taterfolg (s. Rz. 18) eintritt, ist hiernach für die Strafbarkeit unerheblich. Allerdings ist bei Erfolgsdelikten (s. Rz. 52) der Taterfolg nach § 78a StGB Anknüpfungspunkt für die Strafverfolgungsverjährung (s. Rz. 167ff.).

[1] Zur Verschärfung der sog. Promillegrenze durch die Rechtsprechung BVerfG v. 23.6.1990, 2 BvR 752/90, NJW 1990, 3140.
[2] BVerfG v. 5.7.2019, 2 BvR 167/18, NJW 2019, 2837; BVerfG v. 26.2.1969, 2 BvL 15/68, BVerfGE 25, 269.
[3] BVerfG v. 23.6.1990, 2 BvR 752/90, NJW 1990, 3140; vgl. Rz. 61.

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