Rz. 7a

Verstößt eine Steuerfestsetzung gegen europäisches Recht, insbesondere die Grundfreiheiten oder eine Verordnung oder Richtlinie der EU, besteht grundsätzlich keine eigenständige europäische Rechtsgrundlage zur Änderung dieser Steuerfestsetzung.[1] Es bleibt vielmehr den Staaten überlassen, solche Regelungen zu schaffen. Art. 4 Abs. 3 EUV verpflichtet die Staaten, alle geeigneten Maßnahmen zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen aus dem Vertrag zu treffen. Dazu gehört auch die Einhaltung von Verordnungen, die Umsetzung von Richtlinien und von EuGH-Entscheidungen. Allerdings schreibt dieser Grundsatz nicht die Art vor, in der die Staaten diese Verpflichtung erfüllen, überlässt dies also dem nationalen Recht. Insbesondere kann aus der Verpflichtung des Art. 4 Abs. 3 EUV nicht geschlossen werden, dass europarechtswidrige Einzelentscheidungen ohne Rücksicht auf Bestandskraft von Verwaltungsakten geändert werden müssten, um einen europarechtswidrigen Zustand zu beseitigen.[2] Die Folgen für einen Verwaltungsakt, der europarechtlichen Bestimmungen widerspricht, sind danach ebenso zu bestimmen wie die für einen Verwaltungsakt, der innerstaatliche Regelungen oder die Grundrechte verletzt. Ein solcher Verwaltungsakt ist rechtswidrig. Allerdings hat diese Rechtswidrigkeit wegen Verstoßes gegen Unionsrecht keine andere Qualität als die Rechtswidrigkeit bei Verstoß gegen innerstaatliches Recht. Insbesondere ist ein Verwaltungsakt bei Verstoß gegen Unionsrecht nicht schlechthin nichtig. Nichtigkeit eines Verwaltungsakts tritt nur bei einem besonders schweren Fehler ein, durch den die an eine ordnungsmäßige Verwaltung zu stellenden Anforderungen in einem so hohen und offenkundigen Maße verletzt, dass von niemandem erwartet werden kann, den Verwaltungsakt als verbindlich anzuerkennen.[3] Ein Verstoß gegen Unionsrecht stellt nicht per se einen solchen schweren und offenkundigen Fehler dar. Verstöße gegen Unionsrecht und gegen nationales Recht führen vielmehr zu verfahrensrechtlich gleichen Folgen.[4] Daher sind Verwaltungsakte nur zu ändern, wenn sie nicht bestandskräftig sind bzw. eine Möglichkeit zur Durchbrechung der Bestandskraft besteht.[5]

Ob der Stpfl. im Zeitpunkt des Ablaufs einer Rechtsbehelfs- oder Rechtsmittelfrist wissen konnte oder wissen musste, dass eine europarechtliche Norm zu seinen Gunsten anwendbar ist, spielt keine Rolle. Das gilt auch für den Fall einer späteren Rechtsprechungsänderung. Sieht der Stpfl. von der Einlegung von Rechtsmitteln ab, nimmt er den Eintritt der Bestandskraft auch für den Fall einer späteren Rechtsprechungsänderung bewusst in Kauf.[6] Im Ergebnis erfolgt bei Gerichtsentscheidungen, die die Europarechtswidrigkeit einer Vorschrift feststellen, keine erweiterte Durchbrechung der Rechtskraft. Vielmehr sind die auch für nationale Entscheidungen geltenden Regeln anzuwenden.[7]

 

Rz. 7b

Daher ist auch nach Gemeinschaftsrecht der Grundsatz der Rechtssicherheit zu beachten, wonach eine Verwaltungsentscheidung nach Ablauf angemessener Fristen oder durch Erschöpfung des Rechtswegs bestandskräftig wird.[8] Durch die Beachtung dieses Grundsatzes lasse sich verhindern, dass Handlungen der Verwaltung, die Rechtswirkungen entfalten, unbegrenzt infrage gestellt werden könnten.

 

Rz. 7c

Lediglich für Fälle einer unzulässigen Beihilfe hat der EuGH[9] entschieden, dass eine europarechtswidrige Beihilfeentscheidung unabhängig von den Möglichkeiten des nationalen Rechts aufzuheben sei. Dabei können auch steuerrechtliche Vorschriften eine unzulässige Beihilfe darstellen. Der Grund hierfür liegt darin, dass andernfalls die Wettbewerbsverzerrung, die das Europarecht verhindern wolle, tatsächlich eintreten würde. Eine unzulässige Beihilfe, z. B. eine Steuervergütung, ist daher grundsätzlich unabhängig von Bestandskraft, Festsetzungsfrist, Rückwirkungsverbot oder Vertrauensschutz von dem begünstigten Stpfl. zurückzufordern. Vertrauensschutz genießt der Stpfl. nur, wenn das Notifikationsverfahren ordnungsgemäß durchgeführt wurde. Darüber hinaus besteht Vertrauensschutz nur aufgrund außerordentlicher Umstände im Einzelfall. Das kann der Fall sein, wenn Organe der EU, also nicht nationale Organe, durch klare, auf den Einzelfall bezogene und nicht an Bedingungen geknüpfte Auskünfte begründete Erwartungen des Adressaten geweckt haben.[10]

 

Rz. 7d

Ob die, aus europäischer Sicht, unrichtige Steuerfestsetzung geändert werden kann, richtet sich daher im Übrigen nach nationalem Recht. Die nationalen Regelungen für die Änderung europarechtswidriger Entscheidungen dürfen jedoch nicht ungünstiger sein als diejenigen, die gleichartige Sachverhalte innerstaatlicher Art regeln (Äquivalenzprinzip), und sie dürfen die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz).[11]

 

Rz. 7e

Das Äquivalenzprinzip verbietet es, Regelungen zu schaffen, die die Erstattung oder Vergütung von Abgaben nur für europarechtliche Sachverhalte ausschlie...

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